"Die Situation der Flüchtlinge in der Türkei ist problematisch"
Seit 13 Jahren ist Rudolf Seiters Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, der größten Hilfsorganisation in Deutschland. Seiters gibt die strategische Ausrichtung für drei Millionen Mitglieder, 410.000 Ehrenamtliche und 158.000 Hauptamtliche vor. Die jüngsten Asylrechtsänderungen hält er für gerechtfertigt. Skeptisch bewertet Seiters dagegen die Lage der Flüchtlinge in der Türkei.
Deutschlandradio Kultur: Bei uns zu Gast im Studio ist Rudolf Seiters, Präsident des Deutschen Roten Kreuzes. Einen schönen guten Tag, Herr Seiters.
Rudolf Seiters: Schönen guten Tag.
Deutschlandradio Kultur: Herr Seiters, Sie sind seit 13 Jahren Präsident des Deutschen Roten Kreuzes. Davor waren Sie unter Altkanzler Helmut Kohl Chef des Bundeskanzleramtes und Bundesminister für besondere Aufgaben. 1991 bis ‘93 waren Sie Bundesinnenminister, später Vizepräsident des Deutschen Bundestages.
Inwieweit ist Ihre Arbeit beim Deutschen Roten Kreuz auch als eine politische Aufgabe zu verstehen?
Rudolf Seiters: Das Deutsche Rote Kreuz ist die größte humanitäre Organisation in Deutschland mit drei Millionen Mitgliedern, 400.000 aktiven ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern in 19 Landesverbänden. Es gibt ein eigenes DRK-Gesetz, das die Aufgaben des DRK, auch was die Hilfestellung für Ämter und Behörden in Deutschland betrifft, regelt. Das heißt also, es gibt eine unglaubliche Vernetzung, was die Aufgaben anbetrifft.
Denken wir an die gesamte Auslandsarbeit. Da arbeiten wir mit dem Auswärtigen Amt und dem Entwicklungshilfeministerium eng zusammen, auch mit den europäischen Institutionen. Der Blutspendedienst ist sehr wichtig für unser Land, weil wir mit drei Millionen Blutspenden pro Jahr zu siebzig Prozent die Blutversorgung in Deutschland sichern. Denken sie an den Rettungsdienst. Hier gibt es eigene Gesetze in Deutschland und in Europa, die ganze soziale Arbeit, die Jugendarbeit, Bergwacht, Wasserwacht und der Verband der Schwesternschaften. Also, es gibt eine Fülle von Dingen, Bevölkerungsschutz.
Wir haben regelmäßig Kontakt zum Kanzleramt, zum Auswärtigen Amt, Innenministerium, Gesundheitsministerium und vielen anderen, Verteidigungsministerium. Also, von daher ist das für mich damals eine sehr interessante Aufgabe gewesen, die ich übernommen habe, weil natürlich ich auch bekannt bin in allen Fraktionen.
Wir haben in der nächsten Woche auch ein Abgeordnetenfrühstück im Reichstag. Wir haben Blutspendeaktionen vor dem Reichstag. Also, das ist schon sehr schön. Es passt eigentlich zu meinem Lebenslauf.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben die Größe des DRK angesprochen. Ist diese Größe vielleicht auch manchmal ein Nachteil oder eher ein Vorteil?
Rudolf Seiters: Wenn man einen guten Mitarbeiterstab hat auch auf der hauptamtlichen Seite, dann ist die Aufgabenstellung auch in einem großen Verband durchaus zu bewältigen. Wir haben tüchtige Mitarbeiter, die jederzeit ansprechbar sind, und vor allen Dingen, die jederzeit auch in der Lage sind, Probleme zu erkennen und Ratschläge für die Lösung dieser Probleme zu geben.
Ein großer Verband hat den Vorteil, dass er oder seine Stimme in der Politik und im gesellschaftlichen Leben beachtet wird. Es sind ja auch alles Wähler, die bei uns auch tätig sind. Auf der anderen Seite: Bei 19 Landesverbänden und 500 Kreisverbänden, 5.000 Ortsgruppen, kann es immer mal vorkommen, dass Unregelmäßigkeiten passieren. Das sollte nicht passieren, aber es gibt es natürlich hin und wieder, man kann nicht für jeden Mitarbeiter garantieren. Und da muss man sehr aufpassen, dass Presseberichterstattung vor Ort nicht überschwappt auf den ganzen Verband und deswegen ist für uns auch ganz wichtig, die Transparenz herzustellen und im Falle von Unregelmäßigkeiten auch mit den staatlichen Behörden uneingeschränkt zusammenzuarbeiten.
Deutschlandradio Kultur: Herr Seiters, das DRK finanziert sich durch Spenden, durch Zuschüsse von Bund, Länder, EU, UN, Mitgliedsbeiträge und Lotteriemittel. Dem DRK standen im vergangenen Jahr knapp 173 Millionen Euro zur Verfügung. Darunter haben Sie zwölf Millionen Euro durch Spenden eingenommen. Damit lässt sich einiges machen. – Sind Sie zufrieden damit, mit der Summe?
Rudolf Seiters: Wir haben natürlich das Problem, dass sehr viele Spenden eingehen, wenn Katastrophen in der Welt passieren. Beim Tsunami damals oder auch bei dem schweren Erdbeben in Haiti oder bei den Verwüstungen auf den Philippinen. Das ist ja eigentlich ein sehr trauriger Vorgang, wenn es eine solche Katastrophe gibt. Das Erfreuliche dann letzten Endes ist daran, dass man uns auch sehr hilft mit Spenden.
Wenn ein Jahr ohne größere Katastrophen da ist, dann sind wir besonders dankbar für die Unterstützung, die wir von staatlicher Seite bekommen.
Deutschlandradio Kultur: Eine Katastrophe vielleicht hier in Deutschland gab es vor ein paar Wochen im Süden von Deutschland. Da gab es ja schwere Unwetter, Überschwemmungen, wo es dann auch Tote gab. Und Sie haben auch zu Spenden aufgerufen. - Wie war die Resonanz da?
Rudolf Seiters: Ich habe jetzt nicht die genaue Zahl bei der Hand, aber es ist so, dass natürlich die deutsche Bevölkerung hilfsbereit in besonderer Weise auch ist, wenn in Deutschland selber etwas passiert. Bei der Elbeflut war das ja 2013 auch der Fall und jetzt auch in Deutschland.
Auf der anderen Seite weiß man in unserer Bevölkerung auch, dass wir in der Lage sind, spontan auf solche Krisen und solche Vorgänge zu reagieren. Dafür sind unsere Helferinnen und Helfer zu sehr geschult oder sehr geschult und auch sofort einsatzbereit.
"Wir haben im Augenblick eine gewisse Pause zum Durchatmen"
Deutschlandradio Kultur: Sie sagten im Januar, das Jahr 2015 sei das der Flüchtlinge, der ehrenamtlichen Helfer. Und es sei auch das Jahr einer ganz großen Hilfsbereitschaft in der deutschen Bevölkerung. – Was ist 2016 für Sie bis jetzt?
Rudolf Seiters: Wir wissen ja nicht, wie sich die Lage jetzt im Sommer entwickelt, insbesondere was die eine Fluchtroute von Libyen nach Italien anbetrifft. Im Grunde haben wir im Augenblick eine gewisse Pause zum Durchatmen. Aber das kann sich natürlich wieder steigern. Unabhängig davon, wie viele Menschen jetzt zusätzlich zu uns kommen, wird das Jahr 2016 sicherlich in besonderer Weise das Jahr der Integration sein. Das heißt also, die Asylverfahren müssen beschleunigt werden, damit die Asylbewerber möglichst schnell Klarheit haben, ob sie eine Bleibeberechtigung bei uns haben oder nicht, und, wenn sie das haben, wie sie dann schnell im Arbeitsmarkt integriert werden können.
Das heißt also: Vorrangig für uns neben der Unterbringung von Flüchtlingen und vorrangig für den Staat ist ganz sicher, möglichst schnell sicherzustellen, dass die Menschen, die hier eine Bleibeberechtigung haben, die deutsche Sprache erlernen, denn das ist der Zugang zum Arbeitsmarkt.
Deutschlandradio Kultur: Bevor wir nochmal auf 2016 blicken, würde ich nochmal kurz den Schritt nach hinten wagen, nämlich auch über 2015 zu sprechen. Da haben Sie auch gesagt beziehungsweise geschrieben: "Der Staat allein wäre mit dieser Aufgabe hoffnungslos überfordert" – bezogen auf die Flüchtlingshilfe.
"Wir waren nicht vorbereitet auf den Flüchtlingsstrom"
War die Bundesrepublik wirklich überfordert im letzten Jahr, was die Flüchtlinge angeht?
Rudolf Seiters: Sie war in diesem Umfang nicht vorbereitet auf den Flüchtlingsstrom. Und wenn ich vom Flüchtlingsstrom rede, dann meine ich nicht nur die große Zahl von einer Million Flüchtlingen, sondern dann meine ich auch die Geschwindigkeit, die Schnelligkeit, mit der viele, viele tausend und mehr Flüchtlinge in unser Land gekommen sind. Man war weder personell vorbereitet in ausreichendem Maße, noch von den Unterkünften, die man gebraucht hat.
Als ich Innenminister war von 1991 bis ‘93 hatten wir eine Situation, wo wir auch mit vielen Flüchtlingen zu tun hatten. Es kamen 50.000 ‘89, 100.000 ‘90, 200.000 ‘91 und 440.000 [gemeint ist hier das Jahr 1992, die Red.] Flüchtlinge zusätzlich in unser Land und zusätzlich zu den vielen tausend Russlanddeutschen.
Deutschlandradio Kultur: Aber in Deutschland leben 82 Millionen Menschen. Eigentlich müsste man doch so eine Zahl bewältigt bekommen.
Rudolf Seiters: Ja. Ich sage ja, die Zahl ist eigentlich nicht das Problem gewesen, sondern die Geschwindigkeit. Es kamen an einem Tage tausende Menschen und wir hatten nicht genügend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die die Registrierung vornehmen konnten.
Hinzu kam, dass wir ‘93 an unseren eigenen Grenzen nationalstaatliche Regelungen treffen konnten. Es waren unsere Grenzen und wir hatten die zu kontrollieren. Heute haben wir Schengen und Dublin. Das heißt also, wir können hier nicht alleine handeln, sondern wir müssen hoffen, dass der jeweilige Erstaufnahmestaat dann auch in der Lage ist, die Prüfungen und die Aufnahmeverfahren durchzuführen. Und das war in der Summe eben problematisch.
Deutschlandradio Kultur: 2016 wird ein Jahr der Integration, haben Sie gesagt. Kann man dann daraus schließen, dass der Staat jetzt wieder alles unter Kontrolle hat im Vergleich zu 2015?
Rudolf Seiters: Also, ich denke, dass wir jetzt in einer Phase sind, wo die Anerkennungsverfahren schneller laufen, wo die Verteilung der Flüchtlinge in Deutschland funktioniert, wo wir auch genügend Unterbringungsmöglichkeiten haben. Wir hatten ja vom Deutschen Roten Kreuz im Frühjahr 490 Notunterkünfte mit rund 140.000 Flüchtlingen zu betreuen. Da jetzt weniger Flüchtlinge kommen, ist die Zahl der Notunterkünfte in den vergangenen Wochen auch wieder gesunken.
Also, ich glaube, man kann sagen, derzeit betreuen wir 300 Flüchtlingsunterkünfte. Und so wird das bei den anderen Organisationen auch der Fall sein.
"Schicksal der Flüchtlinge ist von anderen Ereignissen überlagert"
Deutschlandradio Kultur: Vielleicht könnte man auch sagen, dass die Hilfsbereitschaft gesunken ist. Man hat so ein wenig das Gefühl, die Anteilnahme an dem Schicksal der Schutzsuchenden hat dieses Jahr im Vergleich zum Vorjahr abgenommen. Meldungen von ertrinkenden Flüchtlingen im Mittelmeer scheinen viele nicht oder nicht mehr zu interessieren.
Ist die EM vielleicht, die Europafußballmeisterschaft interessanter momentan als das Leid von diesen Menschen?
Rudolf Seiters: Wir machen natürlich immer die Erfahrung, dass – wenn eine Katastrophe in einem Land, im Ausland erfolgt – dass dann die Hilfsbereitschaft sehr groß ist, die Spendenbereitschaft sehr groß ist. Dann gibt es andere Ereignisse und dann sprechen wir von den sogenannten vergessenen Regionen. Und hier ist natürlich die Ablenkung von den Schicksalen der Flüchtlinge auch sicher ein Stück weit überlagert von anderen Ereignissen.
Wenn ich aber daran denke, dass wir regelmäßig Umfragen machen bei unseren ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern, wir haben ja in den letzten Monaten 25.000 Helfer rund um die Uhr im Einsatz gehabt in den vielen Notunterkünften, dann fragen wir immer: Wie ist das mit eurer Motivation? Und was spürt ihr aus der Bevölkerung? Ist die Hilfsbereitschaft noch da oder werdet ihr angefeindet?
Und wir haben durch die Bank die Erfahrung gemacht, unsere Leute sind motiviert auch nach wie vor. Sie kümmern sich in vielerlei Hinsicht um die Flüchtlinge. Und sie erfahren ja auch durch das Abliefern von Sachspenden oder durch die Tatsache, dass viele sogenannte freie und ungebundene Helfer auch zu uns kommen in den Notunterkünften, dass die Hilfsbereitschaft in Deutschland nach wie vor groß ist, auch wenn sie vielleicht im Augenblick ein Stück weit in der Öffentlichkeit nicht so sichtbar wird.
Deutschlandradio Kultur: Ich habe gelesen, dass Sie erst kürzlich einen besseren Schutz vor Gewalt in Flüchtlingsunterkünften fordern und an die Bundesregierung appellieren, bundeseinheitliche Regelungen zum besseren Schutz vor Gewalt und sexuellen Übergriffen einzuführen. – Welche Gewalt meinen Sie, die rassistisch motivierte gegen Geflüchtete?
Rudolf Seiters: Wir haben einzelne Vorgänge, wo auch sexuelle Übergriffe erfolgt sind. Es gibt auch mal Schlägereien zwischen den verschiedenen Gruppierungen. Da spielt die Untätigkeit eine Rolle. Das Schlimmste für Menschen, die arbeiten möchten, ist natürlich, wenn sie dann zur Untätigkeit verdammt sind nach einer langen Flucht.
Das ist eine grundsätzliche Forderung, die wir natürlich an die Politik stellen. Es ist die Aufgabe des Staates dafür zu sorgen, dass die Einsatzkräfte vor Ort, die staatlichen Einsatzkräfte vor Ort ausgebildet sind und dass sie wissen, wie sie mit Flüchtlingen umzugehen haben. Wir selber haben Richtlinien für alle unsere Kreisverbände und Ortsvereine und weisen immer wieder darauf hin, was wir von unseren ehrenamtlichen und hauptamtlichen Helferinnen und Helfern erwarten, nämlich respektvollen Umgang mit Flüchtlingen und Hilfe dort, wo es notwendig ist.
Deutschlandradio Kultur: Sie fordern Gewaltschutzkonzepte in Flüchtlingsunterkünften, um schutzbedürftige Personen wie Frauen und Kinder besonders zu schützen. – Zeigt sich denn die Bundesregierung offen für Ihren Vorschlag?
Rudolf Seiters: Wir haben ja jetzt die Einsicht in das geplante Integrationsgesetz. Da wird schon auf diese Probleme hingewiesen und darauf, dass man sicherstellen soll, dass den Menschen geholfen wird zur Integration und auch dass Übergriffe vermieden werden. Wir sagen, dieses Gesetz ist ein wichtiger Schritt zur Integration. Es sollen hunderttausend neue Arbeitsgelegenheiten, wie es heißt, geschaffen werden mit Mitteln vom Bund, Heranführung an den Arbeitsmarkt, sinnvolle Betätigung während des Asylverfahrens.
Die Vorrangprüfung für Arbeitsverträge soll entfallen. Das wird die Integration ebenfalls erleichtern. Bisher war es ja so, dass erst geprüft werden soll bei einem bestimmten Arbeitsplatz, ob für diesen Arbeitsplatz nicht ein deutscher oder ein europäischer Bewerber infrage kommt. Also, dass das entfällt ist wichtig. Und dass Integrationskurse und Deutschkurse verpflichtend sein sollen.
Ich möchte das nachdrücklich unterstreichen, dass sie auch die Dinge so sehen. Denn Fördern und Fordern gehört zusammen. Und wenn wir als Staat, als Gesellschaft bereit sind, den Flüchtlingen bei der Integration zu helfen, dann müssen wir aber auch erwarten, dass die Flüchtlinge sich auch selber helfen lassen und sich an die Regeln in unserem Lande halten.
Deutschlandradio Kultur: Gab es denn jemals Zweifel daran oder woher kommen diese Zweifel, dass die Menschen, die nach Deutschland kommen, das nicht wollen?
Rudolf Seiters: Ja, weil wir ja auch wissen, dass eine Reihe von Flüchtlingen untergetaucht sind. Das sind auch die Erfahrungsschätze aus den vergangenen Jahren, dass einige eben meinen, sie könnten in den großen Städten in ihrem Umfeld leben, ohne dass sie die deutsche Sprache brauchen. Und das geht natürlich nicht. Wenn sie Ansprüche machen auf Hilfe und Unterstützung, auch finanzielle Unterstützung, dann müssen sie diesen an diesen Integrationskursen und Deutschkursen teilnehmen. Das hat zur Folge, wenn sie das nicht tun, dass dann Sanktionen ergriffen werden.
Deutschlandradio Kultur: Herr Seiters, ich würde nochmal ganz kurz ergänzen: Das Integrationsgesetz sieht auch vor sogenannte 80-Cent-Jobs für Flüchtlinge, die künftig dann eben auch zu Integrationsmaßnahmen verpflichtet werden sollen. Eine Wohnortzuweisung soll es auch geben.
Die Bundestagsabgeordnete Sevim Dağdelen von der Partei Die Linke bezeichnete die geplante Gesetzesänderung als "größten Angriff auf das Asylrecht seit 1993". Damals waren Sie bei der Asylrechtsverschärfung, beim umstrittenen sogenannten Asylkompromiss Bundesinnenminister.
Wären Sie heute Bundesinnenminister, würden Sie genauso wie Thomas de Maizière handeln?
"Das Asylrecht wird ja nicht infrage gestellt"
Rudolf Seiters: Also, zunächst einmal muss ich sagen, 1993 haben wir keinen Angriff gestartet auf das Asylrecht. Wir haben im Gegenteil den individuellen Anspruch, Grundrechtsanspruch auf das Asyl uneingeschränkt beibehalten. Wir haben aber gleichzeitig auch den Zuzug von Nicht-Asylberechtigten, den haben wir, begrenzt. Und wir haben drittens durch diese Maßnahme erreicht, dass wir bei der Integration der Bleibeberechtigten nachhaltig und effektiv handeln konnten und helfen konnten.
Und genau das ist jetzt ja auch beabsichtigt. Das Asylrecht wird ja nicht infrage gestellt, nur die Differenzierung.
Deutschlandradio Kultur: Es wird eingeschränkt.
Rudolf Seiters: Bitte?
Deutschlandradio Kultur: Es wird nochmal eingeschränkt.
Rudolf Seiters: Das ist jetzt die Frage. Wo wird das Asylrecht eingeschränkt? Ich lege nochmal Wert darauf: Wir müssen die Differenzierung wie 1993 vornehmen zwischen Menschen, die einen Anspruch auf Asyl haben, weil sie politisch verfolgt werden oder weil sie durch Krieg und Bürgerkrieg bedroht sind. Das ist die eine Seite der Medaille. Und wir müssen das trennen, sonst werden wir mit der Integration dieser Menschen nicht fertig, wir müssen sie trennen von denen, die aus durchaus verständlichen, aber eben aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen zu uns kommen.
Deutschlandradio Kultur: Sie hören die Sendung Tacheles im Deutschlandradio Kultur. Heute zu Gast Rudolf Seiters, Präsident des Deutschen Roten Kreuzes seit 2003.
Herr Seiters, lassen Sie uns auch ins Ausland schauen. Viele der Schutzsuchenden kommen aus Syrien. Dieses Jahr wurden mehrmals Krankenhäuser zur Zielscheibe von Angriffen. Ende April kamen bei einem wohl gezielten Luftangriff auf ein Krankenhaus in Aleppo mehr als fünfzig Menschen ums Leben. Organisationen berichten auch zuletzt von weiteren Angriffen. Auch das DRK unterstützt Kliniken in Syrien, die eigentlich Orte des Schutzes sein sollten.
Herr Seiters, nicht einmal die medizinische Versorgung scheint zu funktionieren. Wenn Sie nicht mehr helfen können, wer soll es dann tun?
Rudolf Seiters: Also, sicherlich ist die Situation in Syrien die größte humanitäre Katastrophe seit vielen Jahren. 4,5 Mio. Syrer sind in die Nachbarländer geflohen. Drei Millionen sind intern vertrieben. Die Versorgungslage ist katastrophal. Babys und Kleinkinder hungern und sind von Unterernährung betroffen. 53 ehrenamtliche Helferinnen und Helfer des Syrisch-Arabischen Roten Halbmondes sind beim ehrenamtlichen Einsatz schon ums Leben bekommen.
Deutschlandradio Kultur: Mit dem Sie zusammenarbeiten, muss man da noch ergänzen.
Rudolf Seiters: Wir arbeiten sehr eng seit Jahren, fünf, sechs Jahre mit den Syrern zusammen. Wir haben in den letzten Jahren auch mit Hilfe des Auswärtigen Amtes Hilfsgüter in einer Größenordnung von 60 Millionen Euro nach Syrien gebracht. Ich war selber in Damaskus und auch in einem großen Flüchtlingslager im Libanon. Die Zusammenarbeit funktioniert sehr, sehr gut. Ich habe größten Respekt vor den Helfern, die im Lande unterwegs sind. Wir sind in Damaskus und kontrollieren die Verteilung die Hilfsgüter. Aber im Lande selber macht das der Rote Halbmond.
Und er hat auch einen Anspruch darauf, überall tätig zu sein, sowohl in den Gebieten, die von Assad kontrolliert werden, als auch in den Gebieten, die von den Oppositionellen kontrolliert werden. Was aber nicht heißt, dass ihnen der Zugang überall und immer möglich ist.
Deswegen ist eine der wesentlichen Forderungen auch des Internationalen Roten Kreuzes, dass sichergestellt werden muss, wozu sich über 190 Staaten verpflichtet haben – auch Syrien, den ungehinderten Zugang zu ermöglichen auch in Fällen des Krieges oder des Bürgerkrieges.
Deutschlandradio Kultur: Das DRK ist auch in der Türkei aktiv. In Zusammenarbeit mit dem Türkischen Roten Halbmond organisieren Sie auch dann die Verteilung von Hilfsgütern in Flüchtlingslagern. – Wie würden Sie die Situation dort beschreiben?
Rudolf Seiters: Die Situation in der Türkei lässt sich zunächst einmal damit umschreiben, dass man darauf hinweist, dass die Türkei über 2,5 Millionen registrierte Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen hat. Die tatsächliche Zahl liegt vermutlich höher. Also, das ist schon eine große Leistung, die man auch in Deutschland trotz des angespannten Verhältnisses gegenwärtig zwischen der Türkei und der Europäischen Union schon einmal anerkennen muss.
Das Problem in der Türkei ist, dass nur 16 Prozent der Syrienflüchtlinge, also etwa 400.000, in relativ gut versorgten Flüchtlingslagern leben, die große Mehrheit dagegen in meist schwierigen Verhältnissen in den Städten und Gemeinden. Das ist schon natürlich problematisch.
Wir hoffen, dass das EU-Türkei-Abkommen die Erwartungen erfüllt. Es ist noch zu früh, das abschließend zu beurteilen.
Deutschlandradio Kultur: Blicken wir auf den EU-Türkei-Deal. Nochmal kurz zusammengefasst: "Alle", so heißt es, "irregulär eingereisten Migranten", die ab dem 20. März von der Türkei auf die griechischen Inseln kommen, dürfen nicht weiter reisen. Und es werde geprüft, ob die Türkei ein sicherer Drittstaat für sie ist. Für jeden aus Griechenland in die Türkei abgeschobenen Syrer nehmen EU-Länder einen Syrer aus der Türkei auf, insgesamt bis zu 72.000. Im Gegenzug soll die Türkei mehrere Milliarden Euro von der EU bekommen, Visaerleichterungen, wenn die Türkei ihre Antiterrorgesetze lockert, was sie momentan nicht will.
So ließe sich der sogenannte EU-Türkei-Deal zusammenfassen. Herr Seiters, ein guter Deal aus Sicht des DRK?
Rudolf Seiters: Zumindest eröffnet dieses EU-Abkommen, so wie es formuliert ist, die Chance, dass wir in Europa zu geordneten Asylverfahren zurückkehren, dass die dringend finanziellen, organisatorischen und personellen Hilfen für die Erstaufnahmestaaten Griechenland und Italien erhöht werden, dass illegale Zuwanderung erschwert wird und legale Zuwanderungswege eröffnet werden.
So. Das hört sich gut an. Und jetzt muss man prüfen: Sind die Erwartungen bisher erfüllt worden? – Sie sind noch nicht erfüllt worden. Deshalb muss da noch einiges geschehen. Wir müssen auch darauf achten, dass die schriftlichen Zusagen eingehalten werden, das ist ja alles nachzulesen, "jegliche Art von Kollektivausweisungen auszuschließen und das EU-Recht und das Völkerrecht in der Türkei uneingeschränkt zu wahren". So steht es in dem Vertrag drin.
Aber Sie weisen ja selber darauf hin, dass bisher auch nur einige hundert Flüchtlinge von der Umsiedlung in die EU Gebrauch machen konnten.
Wir als Deutsches Rotes Kreuz versuchen zu helfen wie es möglich ist in der Türkei. Wir unterstützen ein Gemeindezentrum in Istanbul, das als Anlaufstelle für Flüchtlinge dient. Und wir liefern auch lebensnotwendige Hilfsgüter. Wir sind in Italien, wir sind in Griechenland tätig und in vielen anderen Ländern auch.
"Für eine endgültige Bewertung des EU-Türkei-Deals ist es noch zu früh"
Deutschlandradio Kultur: Man könnte jetzt aber auch zynisch fragen oder sagen: Na ja, endlich kommen weniger durch den EU-Türkei-Deal.
Rudolf Seiters: Ich sagte ja schon, ich wiederhole nochmal, es ist für eine endgültige Bewertung dieses Abkommens noch zu früh. Die Erwartungen sind auch noch nicht erfüllt worden. Es ist gar keine Frage, dass die Situation so beurteilt werden muss.
Trotzdem würde ich mit einer abschließenden Bewertung noch warten. Wenn es richtig ist, dass nach wie vor große Anstrengungen unternommen werden, um dieses Abkommen mit Leben zu erfüllen, dann sollte man nicht von vornherein sagen, ach das bringt nichts, sondern ich bin eher der Meinung: Vorschlägen, die auf dem Papier in die richtige Richtung zeigen, denen möchte ich die Chance geben, dass sie nicht nur auf dem Papier erscheinen, sondern dass sie auch mit Leben erfüllt werden.
Deutschlandradio Kultur: Aber ist die Türkei denn ein sicherer Drittstaat? Wenn man sich anschaut, wie im Südosten die türkische Regierung gegen Kurden vorgeht? Amnesty International hatte berichtet, die Türkei schicke beinahe täglich Syrer zurück in das Bürgerkriegsland. Die türkische Regierung dementiert das. Es gab auch Berichte, türkische Grenzpolizisten hätten auf syrische Flüchtlinge geschossen, eingeschränkte Meinungs- und Pressefreiheit.
Rudolf Seiters: Sicherer Drittstaat bedeutet ja nicht, dass wir sagen, dieses Land ist frei von Menschenrechtsverletzungen. Sondern sicherer Drittstaat, diese Definition, oder verfolgungsfreies Herkunftsland soll ja bedeuten, dass das Asylrecht als solches in diesen Ländern grundsätzlich nicht tangiert wird, das Asylrecht für politisch Verfolgte und vom Kriege Bedrohte.
Aber das bedeutet ja nicht, dass einer, der aus einem solchen sogenannten sicheren Drittstaat kommt, dass der keinen Anspruch auf ein Asylverfahren hat. Er hat ja einen Anspruch auf ein Asylverfahren, nur mit Blick auf die Anerkennungsquote nach den Erfahrungen der letzten Jahre, wo teilweise ja auch aus den Ostblockstaaten, aus den Balkanstaaten praktisch eine hundertprozentige Ablehnung erfolgt, da brauchen wir ein beschleunigtes Verfahren und müssen uns im Übrigen konzentrieren auf diejenigen, von denen wir annehmen, dass sie eine Bleibeberechtigung bei uns bekommen.
Deutschlandradio Kultur: Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR kritisiert die EU-Flüchtlingspolitik. "Hass und Mauern sind Killer. Flüchtlinge würden in Europa unwürdig behandelt", hat der UN-Menschenrechtskommissar Said Raad al-Hussein diese Woche gesagt. Die Organisation "Ärzte ohne Grenzen" sagt, dass die EU die moralische Verantwortung verneine. Die Organisation hat sich als Konsequenz aus den Flüchtlingslagern offiziell raus gezogen.
Müsste das DRK sich nicht auch dieser Kritik anschließen?
Rudolf Seiters: Wir haben in der Vergangenheit ein Stück weit anders formuliert, aber durchaus heftige Kritik geäußert an der mangelnden Solidarität in Europa. Wenn Sie sich anschauen, dass im Osten Europas Zäune gebaut werden, dass jeder Staat seine eigene Abschottungspolitik verfolgt, dass in der Europäischen Union keine Einigung erfolgt ist, obwohl man grundsätzlich die Beschlüsse bereits gefasst hat, die aber nicht umgesetzt werden hinsichtlich der Verteilung von Flüchtlingen, dann ist schon Kritik angebracht an der Politik, die bisher in Europa betrieben worden ist.
"Die Europäische Union hat keine europäische Konzeption"
Ich habe selber gesagt, wir erleben eine Europäische Union, die keine europäische Konzeption hat beziehungsweise keine Konzeption umsetzt. Wir erleben europäische Staaten, die nationalen Egoismus zeigen und nicht bereit sind zu einer gemeinsamen Solidarität im Sinne einer Wertegemeinschaft, als die wir ja die Europäische Union verstehen.
Aber ich habe ja selber auch meine Erfahrungen damals gemacht ‘91/ ‘93. Da bin ich in Genf gewesen. Da bestand die Europäische Gemeinschaft aus zwölf Staaten. Zu uns kamen 440.000 1992. Nur ein paar Tausend kamen nach Großbritannien. Und ich habe dort geworben für eine faire Verteilungsgeschichte. Dann haben wir eine Abstimmung gemacht. Die lautete 1:11. Das heißt also, auch damals war die Solidarität nicht besonders ausgeprägt. Und es ist eine große Aufgabe der Politik, dass wir hier zu neuen Entscheidungen kommen.
Deutschlandradio Kultur: Herr Seiters, ich will nochmal ganz kurz auf den EU-Türkei-Deal gucken. Der Deal betrifft nämlich vor allem Griechenland, in dem sich zurzeit rund 57.000 Flüchtlinge aufhalten und eigentlich nicht weiter kommen wegen der geschlossenen Grenzen auf dem Balkan. Und das DRK ist auch in Griechenland aktiv. Es gibt eine Gesundheitsstation in einem offiziellen Lager in der Nähe des mittlerweile geräumten Flüchtlings-Camps in Idomeni nahe der Grenze zu Mazedonien. Ich war dort und habe Kinder gesehen, die im dreckigen Wasser gespielt haben, das von den Dixi-Toiletten auslief. Die hygienischen Bedingungen sind schlecht. Das haben Sie auch selbst geschrieben. Das DRK müsste in diesem Rahmen doch eigentlich für mehr Unterstützung in Griechenland sein, oder?
Rudolf Seiters: Also wir haben, wie gesagt, den Einsatz auf der Insel Lesbos mit der Verteilung von Hilfspaketen abgeschlossen. Die Gesundheitsstation, die wir gemeinsam betreiben mit dem finnischen Roten Kreuz in zwei nebeneinander liegenden Standorten in Nea Kavala und Cherso, wird betreut von einem rund 30-köpfigen Team mit vier Ärzten, einer Hebamme, Pflegepersonal, Techniker, Übersetzer. Rund 140 Patienten werden dort täglich versorgt, davon etwa vierzig Prozent Kinder.
Wir wissen aber, dass häufige Beschwerden eben Atemwegserkrankungen sind, Husten, Durchfall und Fieber, aber auch unversorgte Wunden. Das heißt, natürlich kämpfen wir jeden Tag darum, die Dinge zu verbessern auch in unserem Sinne, aber ich möchte doch sagen, dass die Arbeit, die unsere Leute vom Deutschen Roten Kreuz mit dem Finnischen Roten Kreuz dort leisten, dass die aus unserer Sicht, wir hören ja auch die jeweiligen Berichte, dass es dort nicht ideal ist, aber dass unsere Leute dort eine wirklich gute Arbeit leisten.
Deutschlandradio Kultur: Herr Seiters, Sie werden dieses Jahr noch 79 Jahre alt. Gestatten Sie mir zum Schluss noch eine persönliche Frage: Wie sieht die Zukunft für Sie und das Rote Kreuz aus?
"Ohne humanitäre Organisationen wäre der Staat überfordert"
Rudolf Seiters: Ich glaube, wenn ich mal nicht mehr Präsident des Deutschen Roten Kreuzes bin, dass ich dann sagen kann, das DRK ist in einer schwierigen Zeit gut aufgestellt. Wir haben auch in unserem Verhältnis zwischen dem Bund, den Ländern und unseren Kreisverbänden neue Strukturen entwickelt in diesen Jahren, die uns gefestigt haben mit Blick auf neue Herausforderungen. Wir haben vor uns sicherlich das große Problem, das Ehrenamtliche, die ehrenamtliche Arbeit auch in der Zukunft zu stärken, auch bei einer Entwicklung, wo die Bevölkerungszahlen zurückgehen, demographische Entwicklung.
Wir haben die große Herausforderung dafür zu sorgen, dass die neuen Mitbürger, die neuen Bürger in Deutschland, also die Migranten, dass die einbezogen werden in unsere Arbeit. Alle unsere Kreisverbände haben den Auftrag, auf diese Menschen zuzugehen und sie für das ehrenamtliche Engagement zu gewinnen.
Viele Aufgaben stehen uns bevor, aber ich glaube, wir können in Deutschland guten Gewissens und mit Überzeugung in die Zukunft blicken. Ohne uns, ohne die humanitären Organisationen, ich wiederhole das, was Sie vorhin zitiert haben, wäre unser Staat überfordert. Ich denke auch, dass alle Fraktionen des Deutschen Bundestages und alle Parteien in Deutschland das auch so sehen wie wir.
Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank für das Gespräch und für Ihren Besuch bei uns.
Rudolf Seiters, geboren 1937 in Osnabrück, ist seit 2003 Präsident des Deutschen Roten Kreuzes. Davor war er unter Altkanzler Helmut Kohl Chef des Bundeskanzleramtes und Bundesminister für besondere Aufgaben. Von 1991 bis 1993 war Rudolf Seiters Bundesinnenminister und war unter anderem für den sogenannten "Asylkompromiss" verantwortlich, der als Einschränkung des Asylrechts gilt. Vor seiner Tätigkeit beim DRK war Rudolf Seiters Vizepräsident des Deutschen Bundestages.