Rudolf Steiner und sein größter Fan
Esoterischer Spinner oder Visionär? An Rudolf Steiner scheiden sich bis heute die Geister. Zu seinen leidenschaftlichsten Anhängern gehört ein ehemaliger katholischer Priester.
"Anthroposophie heißt Weisheit – sophie – vom Menschen durch den Menschen errungen – anthropos - Das heißt: Weisheit aus dem Menschendenken heraus. Theosophie war – Theos ist Gott – Göttlich geoffenbarte Weisheit. Schluss damit. Jetzt ist die Wende dazu geschehen, dass der Mensch aus dem Menschengedenken heraus den Wahrheitsgehalt der Welt sich selbst erringt: Anthropos-Sophia."
Pietro Archiatis eindringlicher Blick bohrt sich in den Augen seines Gegenübers fest. Die Wollteppiche im Wohn- und Arbeitszimmer seines Hauses in Unterlegenhardt dämpfen jedes Nebengeräusch, die vielen Lexika und Philosophen-Ausgaben in den gewachsten Holzregalen zeigen: Hier wird konzentriert gedacht und gearbeitet. Der temperamentvolle Italiener will den Menschen die Weltanschauung Rudolf Steiners vermitteln, "die Wahrheit", wie er sagt.
"Zum Anthroposophischen gehört der liebevolle Umgang mit der Erde, aber auf der Grundlage eines Bewusstseins all dessen, was in der Erde wirkt. Also in der Geisteswissenschaft gibt es vier Ebenen des Daseins, das Physische, das kennt die Naturwissenschaft, dann gibt es das Lebendige – sie werden Ätherkräfte genannt, dann das Astralische, das wär das Seelische und dann gibt es den Geist."
Als Pietro Archiati die Schriften Steiners 1977 entdeckt, liegt ein langer Weg der Suche hinter ihm: Aufgewachsen als viertes von zehn Kindern in einer armen, tief gläubigen katholischen Bauernfamilie in der italienischen Po-Ebene entscheidet er sich als Neunjähriger für die Missionarsausbildung beim Orden der "Unbefleckten Oblaten der Heiligen Jungfrau Maria". Während seines strengen Studiums der Theologie und Philosophie erwachen Zweifel an der Katholischen Kirche.
Archiati unterbricht das Studium, reist für drei Jahre nach Laos. Unter Lebensgefahr unterrichtet er Kinder mitten im Vietnamkrieg und setzt sich mit dem Buddhismus auseinander. 1971 kommt er zurück, beendet sein Studium, empfängt die Priesterweihe und wird nach New York entsandt – zu einer italienischen Immigranten-Gemeinde. Aber die Glaubenskrise verschlimmert sich, schlägt ihm auf die Gesundheit. Als ihm ein Schilddrüsenkropf die Stimme nimmt, kehrt er nach Italien zurück und lebt als Einsiedler am Comer See.
"Kaum war ich ein paar Monate dort, habe ich Steiner entdeckt. Und innerhalb von ein paar Tagen war es wie ein Orkan: Das ist es, was du dein ganzes Leben gesucht hast."
Alle 350 Bände der Gesamtausgabe habe er mehrfach durchgearbeitet, erzählt Archiati, erfasst von einem glücklichen Rauschzustand, weil ihm Steiner die Mysterien des Christentums erklärte.
"In der Geisteswissenschaft ist der Geist der Sonne der Chef, der Obergeist des ganzen Sonnensystems. Die Erde hat sich von der Sonne getrennt, um die Menschheitsentwicklung möglich zu machen. Und dieser umfassende, zentrale Geist hat vor 2000 Jahren den Entschluss gefasst, seine Sonnenheimat zu verlassen und zum Geist der Erde zu werden. Und seit der Zeit sind ganz andere Kräfte in der Erde am Werk. In den Menschen, in den Pflanzen, in den Tieren und so weiter.
Die ganze kosmische Dimension des Christus ist in der Katholischen Kirche weg. Sie kennen nur den Jesus eigentlich, weil das materiell ist. Vom Christus haben sie keine Ahnung."
Archiati ahnt bald, dass ihn sein Christus-Verständnis mit der Kirche in Konflikt bringen wird. Steiners von indischen Religionen beeinflusste Lehre von Reinkarnation und Karma gilt den großen christlichen Kirchen als unvereinbar mit ihrer Lehre. Die 1922 von Steiner gegründete "Christengemeinschaft" sehen sie als Sekte. Zum Eklat kommt es, als Archiati Ende der 80er-Jahre in Südafrika – es sind die letzten Jahre der Apartheid – mit der Ausbildung von jungen Priestern betraut ist. Ein Glaubensbruder entwendet ihm Steiners Interpretation der Evangelien und denunziert Archiati beim Bischof. Matthäus und Lukas-Evangelium, so Steiners Auffassung, handeln von zwei Jesus-Knaben mit unterschiedlichen Eigenschaften. Der Steiner-Biograf Heiner Ullrich gibt diese Lehre so wieder:
Beim Besuch des Tempels verließ das Zarathustra-Ich den Leib des zwölfjährigen salomonischen Jesusknaben und ging in denjenigen des nathanischen Jesus über. Während das salomonische Jesuskind starb, wurde der nathanische Jesus durch die lebendige Verbindung der geistigen Impulse Buddhas und Zarathustras in seiner Person zum höchsten religiösen Führer der Menschheit.
"Dann, als ich zurückkam, hieß es im Kollegium: Wie kann in einem katholischen Priesterseminar ein Mensch tragbar sein, der diese Überzeugungen hat? Da wusste ich: Das Vertrauen ist weg."
Zum Promovieren wird Archiati nach München abbeordert, aber die Glaubensdifferenzen sind unüberwindbar. Der Priester tritt aus der Kirche aus. Alle Kirchen, Dogmen, Lehren empfindet er als einengend, weshalb er der Christengemeinschaft ebenso wenig angehört wie der Anthroposophischen Gesellschaft. Archiatis neue Mission heißt "Geisteswissenschaft" - eine große Aufgabe, denn Steiners Sinnfindungsprogramm ist, wie das Jesus-Beispiel zeigt, für Außenstehende oft schwer zugänglich. Selbst interessierte Menschen haben oft Berührungsängste, weil Steiners Theorien und Begriffe versponnen wirken oder weil sie Anthroposophen als elitär erleben.
"Ich kann nur sagen: Ich bin jetzt 33 Jahre total, Tag und Nacht beschäftigt mit Steiner, weil ich nirgends, aber nicht annähernd eine umfangreichere und überzeugendere Erklärung finde der ganzen sinnlichen Welt."
Arbeiten zeitgenössischer Biografen wie Miriam Gebhardt, Heiner Ullrich oder Helmut Zander, die Steiners Gedankengut kritisch in einen zeitgeschichtlichen Kontext bringen, interessieren Archiati wenig. Er will Steiners Werk, das im Wesentlichen aus Mitschriften seiner Vorträge besteht, möglichst wortgetreu verbreiten. Bei dieser Aufgabe hilft ihm Monika Grimm. Die studierte Informatikerin hat mit Archiati Anfang 2003 einen Verlag gegründet.
"Ich habe gedacht: Es ist doch eigentlich schade, dass dieses für mich so wertvoll gewordene Geistesgut, das kennt doch kein Mensch - das könnte doch was sein, was viele Menschen interessiert und da kann man doch auch Werbung für machen."
Seit sieben Jahren bemühen sich Grimm und Archiati nun, Steiner aus unterschiedlichen Vortrags-Mitschriften im Wortlaut zu rekonstruieren. Damit wollen sie eine Alternative zu der im schweizerischen Dornach erscheinenden Gesamtausgabe seiner Werke anbieten, was man dort nicht gerne sieht. Aber zum einen sind die Rechte der Dornacher Erben am Werk seit 1995 erloschen – zum anderen hat Steiner selbst zur Weiterverwertung seines Werks ermutigt:
Jeder kann 30 Jahre nach meinem Tod drucken, was ich hervorgebracht habe. Man kann es in beliebiger Weise verwenden, und das ist recht.
Der Verlag, sagt Monika Grimm, trage sich inzwischen selbst. Zur redaktionellen Bearbeitung im Archiati-Verlag gehört die, allerdings kenntlich gemachte, Ersetzung veralteter Begriffe: "Sieg" statt "Triumph", "Frau" statt "Weib" – aber auch "Sonnengeist" statt "Christus" oder "Körperart" statt "Rasse". Das, sagen Archiati und Grimm, verbessere das Verständnis – aber es nimmt Steiner, der für seinen "Rassebegriff" oft scharf kritisiert wurde, auch eine Angriffsfläche. Kein Zweifel, Archiati will Steiner zukunftsfähig machen, denn das Zeitalter der Anthroposophie, da ist er sich sicher, steht noch bevor.
"Steiner wird, es liegt in der Natur der Sache, in 500 Jahren viel aktueller sein als heute."
Bücher zum Thema:
Miriam Gebhardt: "Rudolf Steiner. Ein moderner Prophet", Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011
Heiner Ullrich: "Rudolf Steiner. Leben und Lehre", Verlag C.H. Beck, München 2011
Helmut Zander: "Rudolf Steiner. Die Biographie", Piper-Verlag, München/Zürich 2011
Pietro Archiatis eindringlicher Blick bohrt sich in den Augen seines Gegenübers fest. Die Wollteppiche im Wohn- und Arbeitszimmer seines Hauses in Unterlegenhardt dämpfen jedes Nebengeräusch, die vielen Lexika und Philosophen-Ausgaben in den gewachsten Holzregalen zeigen: Hier wird konzentriert gedacht und gearbeitet. Der temperamentvolle Italiener will den Menschen die Weltanschauung Rudolf Steiners vermitteln, "die Wahrheit", wie er sagt.
"Zum Anthroposophischen gehört der liebevolle Umgang mit der Erde, aber auf der Grundlage eines Bewusstseins all dessen, was in der Erde wirkt. Also in der Geisteswissenschaft gibt es vier Ebenen des Daseins, das Physische, das kennt die Naturwissenschaft, dann gibt es das Lebendige – sie werden Ätherkräfte genannt, dann das Astralische, das wär das Seelische und dann gibt es den Geist."
Als Pietro Archiati die Schriften Steiners 1977 entdeckt, liegt ein langer Weg der Suche hinter ihm: Aufgewachsen als viertes von zehn Kindern in einer armen, tief gläubigen katholischen Bauernfamilie in der italienischen Po-Ebene entscheidet er sich als Neunjähriger für die Missionarsausbildung beim Orden der "Unbefleckten Oblaten der Heiligen Jungfrau Maria". Während seines strengen Studiums der Theologie und Philosophie erwachen Zweifel an der Katholischen Kirche.
Archiati unterbricht das Studium, reist für drei Jahre nach Laos. Unter Lebensgefahr unterrichtet er Kinder mitten im Vietnamkrieg und setzt sich mit dem Buddhismus auseinander. 1971 kommt er zurück, beendet sein Studium, empfängt die Priesterweihe und wird nach New York entsandt – zu einer italienischen Immigranten-Gemeinde. Aber die Glaubenskrise verschlimmert sich, schlägt ihm auf die Gesundheit. Als ihm ein Schilddrüsenkropf die Stimme nimmt, kehrt er nach Italien zurück und lebt als Einsiedler am Comer See.
"Kaum war ich ein paar Monate dort, habe ich Steiner entdeckt. Und innerhalb von ein paar Tagen war es wie ein Orkan: Das ist es, was du dein ganzes Leben gesucht hast."
Alle 350 Bände der Gesamtausgabe habe er mehrfach durchgearbeitet, erzählt Archiati, erfasst von einem glücklichen Rauschzustand, weil ihm Steiner die Mysterien des Christentums erklärte.
"In der Geisteswissenschaft ist der Geist der Sonne der Chef, der Obergeist des ganzen Sonnensystems. Die Erde hat sich von der Sonne getrennt, um die Menschheitsentwicklung möglich zu machen. Und dieser umfassende, zentrale Geist hat vor 2000 Jahren den Entschluss gefasst, seine Sonnenheimat zu verlassen und zum Geist der Erde zu werden. Und seit der Zeit sind ganz andere Kräfte in der Erde am Werk. In den Menschen, in den Pflanzen, in den Tieren und so weiter.
Die ganze kosmische Dimension des Christus ist in der Katholischen Kirche weg. Sie kennen nur den Jesus eigentlich, weil das materiell ist. Vom Christus haben sie keine Ahnung."
Archiati ahnt bald, dass ihn sein Christus-Verständnis mit der Kirche in Konflikt bringen wird. Steiners von indischen Religionen beeinflusste Lehre von Reinkarnation und Karma gilt den großen christlichen Kirchen als unvereinbar mit ihrer Lehre. Die 1922 von Steiner gegründete "Christengemeinschaft" sehen sie als Sekte. Zum Eklat kommt es, als Archiati Ende der 80er-Jahre in Südafrika – es sind die letzten Jahre der Apartheid – mit der Ausbildung von jungen Priestern betraut ist. Ein Glaubensbruder entwendet ihm Steiners Interpretation der Evangelien und denunziert Archiati beim Bischof. Matthäus und Lukas-Evangelium, so Steiners Auffassung, handeln von zwei Jesus-Knaben mit unterschiedlichen Eigenschaften. Der Steiner-Biograf Heiner Ullrich gibt diese Lehre so wieder:
Beim Besuch des Tempels verließ das Zarathustra-Ich den Leib des zwölfjährigen salomonischen Jesusknaben und ging in denjenigen des nathanischen Jesus über. Während das salomonische Jesuskind starb, wurde der nathanische Jesus durch die lebendige Verbindung der geistigen Impulse Buddhas und Zarathustras in seiner Person zum höchsten religiösen Führer der Menschheit.
"Dann, als ich zurückkam, hieß es im Kollegium: Wie kann in einem katholischen Priesterseminar ein Mensch tragbar sein, der diese Überzeugungen hat? Da wusste ich: Das Vertrauen ist weg."
Zum Promovieren wird Archiati nach München abbeordert, aber die Glaubensdifferenzen sind unüberwindbar. Der Priester tritt aus der Kirche aus. Alle Kirchen, Dogmen, Lehren empfindet er als einengend, weshalb er der Christengemeinschaft ebenso wenig angehört wie der Anthroposophischen Gesellschaft. Archiatis neue Mission heißt "Geisteswissenschaft" - eine große Aufgabe, denn Steiners Sinnfindungsprogramm ist, wie das Jesus-Beispiel zeigt, für Außenstehende oft schwer zugänglich. Selbst interessierte Menschen haben oft Berührungsängste, weil Steiners Theorien und Begriffe versponnen wirken oder weil sie Anthroposophen als elitär erleben.
"Ich kann nur sagen: Ich bin jetzt 33 Jahre total, Tag und Nacht beschäftigt mit Steiner, weil ich nirgends, aber nicht annähernd eine umfangreichere und überzeugendere Erklärung finde der ganzen sinnlichen Welt."
Arbeiten zeitgenössischer Biografen wie Miriam Gebhardt, Heiner Ullrich oder Helmut Zander, die Steiners Gedankengut kritisch in einen zeitgeschichtlichen Kontext bringen, interessieren Archiati wenig. Er will Steiners Werk, das im Wesentlichen aus Mitschriften seiner Vorträge besteht, möglichst wortgetreu verbreiten. Bei dieser Aufgabe hilft ihm Monika Grimm. Die studierte Informatikerin hat mit Archiati Anfang 2003 einen Verlag gegründet.
"Ich habe gedacht: Es ist doch eigentlich schade, dass dieses für mich so wertvoll gewordene Geistesgut, das kennt doch kein Mensch - das könnte doch was sein, was viele Menschen interessiert und da kann man doch auch Werbung für machen."
Seit sieben Jahren bemühen sich Grimm und Archiati nun, Steiner aus unterschiedlichen Vortrags-Mitschriften im Wortlaut zu rekonstruieren. Damit wollen sie eine Alternative zu der im schweizerischen Dornach erscheinenden Gesamtausgabe seiner Werke anbieten, was man dort nicht gerne sieht. Aber zum einen sind die Rechte der Dornacher Erben am Werk seit 1995 erloschen – zum anderen hat Steiner selbst zur Weiterverwertung seines Werks ermutigt:
Jeder kann 30 Jahre nach meinem Tod drucken, was ich hervorgebracht habe. Man kann es in beliebiger Weise verwenden, und das ist recht.
Der Verlag, sagt Monika Grimm, trage sich inzwischen selbst. Zur redaktionellen Bearbeitung im Archiati-Verlag gehört die, allerdings kenntlich gemachte, Ersetzung veralteter Begriffe: "Sieg" statt "Triumph", "Frau" statt "Weib" – aber auch "Sonnengeist" statt "Christus" oder "Körperart" statt "Rasse". Das, sagen Archiati und Grimm, verbessere das Verständnis – aber es nimmt Steiner, der für seinen "Rassebegriff" oft scharf kritisiert wurde, auch eine Angriffsfläche. Kein Zweifel, Archiati will Steiner zukunftsfähig machen, denn das Zeitalter der Anthroposophie, da ist er sich sicher, steht noch bevor.
"Steiner wird, es liegt in der Natur der Sache, in 500 Jahren viel aktueller sein als heute."
Bücher zum Thema:
Miriam Gebhardt: "Rudolf Steiner. Ein moderner Prophet", Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011
Heiner Ullrich: "Rudolf Steiner. Leben und Lehre", Verlag C.H. Beck, München 2011
Helmut Zander: "Rudolf Steiner. Die Biographie", Piper-Verlag, München/Zürich 2011