Neue Langsamkeit und Moralfragen
Hip Hop nippt am Kodein und schaltet ein, zwei Gänge runter. Morrissey spaltet mit kontroversen Interviews die Kritik. Und die BDS-Kampagne, die zum Boykott gegen Israel aufruft, hat die hiesigen Debatten erreicht – Rückblick auf ein turbulentes Popjahr 2017.
"Despacito" von Luis Fonsi und Daddy Yankee. DerHit des Jahres. Was man auch immer von dem Song halten mag, er steht für einen der größten Musiktrends 2017: die Verlangsamung des Pop.
Mach mal langsam!
Auch Ed Sheeran, der erfolgreichste Musiker der vergangenen zwölf Monate, setzt auf Entschleunigung. Sein Welthit "Shape Of You" kommt mit 90 bpm aus. Noch vor fünf Jahren soll der durchschnittliche Mainstream-Hit 113 Schläge pro Minute gezählt haben. Eine Verlangsamung um 20 Prozent.
Der Einfluss von Hustensaft
Das Phänomen zeigt: Der tendenziell langsame Hip-Hop dominiert die Popwelt – und färbt längst auf andere Genres ab. Die Rapper der Stunde greifen nicht mehr zu aufputschenden Drogen wie MDMA, auch als Ecstasy bekannt. Stattdessen konsumieren sie besonders gern kodeinhaltigen Hustensaft und andere verschreibungspflichte Medikamente, die zu einer verlangsamten Wahrnehmung der Umwelt führen. Nicht selten enden diese Trips tödlich. Im November starb einer der bekanntesten Vertreter der Szene, Lil Peep, an einer Überdosis. Mit 21.
Es gibt aber auch andere Deutungen für die neue Langsamkeit. Das angespannte soziopolitische Klima stimme nachdenklich, die Krisen der Welt ließen sich nicht einfach wegtanzen. Zudem überfordere uns der hektische Alltag, und in der Musik suchten wir nach Entspannung. Andere meinen, auf eine Welle schneller Musik folge nun mal die Verlangsamung. Insofern wäre die Entschleunigung eine Reaktion auf die schnelle Electronic Dance Music der vergangenen Jahre.
Nun sag, wie hast Du's mit Morrissey?
Darf man das noch hören? Die Moralfrage stellte sich im Popjahr 2017 gleich ein paar Mal. Morrissey etwa warnt auf seinem neuen Album davor, auf "die Medien" zu hören. In einem Interview mit dem "Spiegel" hatte er Berlin wegen der angeblich offenen Grenzen außerdem als "Vergewaltigungshauptstadt" bezeichnet. Und im Frühjahr veröffentlichte Xavier Naidoo mit seinen Söhnen Mannheims den Song "Marionetten". Wenn man so will, ein Aufruf zu Gewalt an deutschen Politikern.
Also, darf man das hören beziehungsweise dürfen unsere Popmusiker das singen? Dazu der Musikkritiker Tobias Rapp im Deutschlandfunk Kultur:
"Ich glaube, dass Kunst einen Raum bieten muss, wo erst mal alles erlaubt ist, weil, die Menschheit braucht sozusagen die Möglichkeit, ungeschützt über diese Dinge sich äußern zu können."
Popmusik, das wurde dieses Jahr klar, ist nicht automatisch das Versprechen einer linken Utopie. Und wie das Beispiel des alten Helden Morrissey zeigt, liegt zwischen einer als progressiv verstandenen Verweigerungshaltung und rechtem Populismus manchmal nur ein kleiner Schritt. Boykottieren sollten wir bestimmte Popmusiker dennoch nicht, meint Rapp, stattdessen …
"… ist es für Kritiker sehr wichtig, viel zu erklären und wenig zu verdammen."
Das Schwein des Anstoßes
Stichwort Pop und Verbot: Im Sommer sagten einige Bands die Teilnahme an einem Berliner Musikfestival ab, weil die Veranstaltung zum Teil von der israelischen Botschaft unterstützt wurde. Spätestens damit war die BDS-Bewegung auch in Deutschland angekommen. Anhänger der Kampagne rufen dazu auf, Israel zu boykottieren. Im Fokus stehen oft Popkonzerte im Land selbst.
Radiohead etwa gehörten zu den Bands, die in diesem Jahr von der BDS-Bewegung angegriffen wurden. Sie spielten trotz Boykott-Aufruf in Tel Aviv. Es gibt aber auch prominente Unterstützer der Kampagne, darunter Roger Waters.
Auf seinen Konzerten lässt das Ex-Pink-Floyd-Mitglied aufblasbare Schweine in die Luft steigen, auf denen unter anderem der Davidstern abgebildet ist. Verschiedenen ARD-Wellen wurde das zu viel. Sie werden die nächsten Deutschlandkonzerte von Roger Waters nun nicht mehr präsentieren.
Wo war #metoo im Pop?
Auch wenn dieses Popmusikjahr sehr politisch war, ein Thema fand kaum statt: die #metoo-Debatte. Von den großen Künstlerinnen der Popmusik kam so gut wie nichts, von den männlichen Musikern ganz zu schweigen. Die amerikanische Musikkritikerin Ann Powers erklärt die geringe Beiteiligung so:
"Sexuelle Belästigung und Missbrauch sind so tief im Rock’n’Roll verankert, dass es für uns nichts Besonderes mehr ist, wenn Frauen begrapscht oder ihnen hinterhergepfiffen wird. Musikerinnen haben sich also möglicherweise deshalb nicht an der #metoo-Kampagne beteiligt, weil es erst mal eine Weile braucht, um zu verstehen, wie sexistisch die amerikanische Popmusik überhaupt ist."
In Schweden und Australien beteiligten sich Musiker und Musikerinnen an groß angelegten Unterschriftenaktionen. Vergleichbar mit den Ausmaßen der #metoo-Debatte in Hollywood ist das aber nicht. Vielleicht, weil es noch zu früh ist, meint Ann Powers, und blickt schon mal ins Jahr 2018.
"I think we gonna see more #metoo activism within music in the next year."