"Theater verliert an Rückhalt in der Stadtgesellschaft"
Ein turbulentes Theaterjahr geht zu Ende. Wir haben die Kritikerinnen Esther Slevogt und Dorte Lena Eilers nach den größten Aufregern gefragt und danach, wie es im nächsten Jahr für die Theaterlandschaft weitergeht.
Es ging hoch her im Jahr 2016 - in den gesellschaftlichen Debatten ebenso wie an den Bühnen. Zum Beispiel bei der Frage, wie man es finden soll, dass Chris Dercon, bisheriger Leiter der Tate Modern in London, ein Museumsmann also, die Nachfolge von Frank Castorf als Intendant der Volksbühne antritt. Und wo will das Theater überhaupt hin, wie muss es sich aufstellen, um mit den großen gesellschaftlichen Umbrüchen mithalten zu können, um auf Rechtsruck und Populismus angemessen zu reagieren?
André Mumot spricht im Theatermagazin "Rang I" über die großen Aufreger des Jahres mit zwei Kritikerinnen, die das Bühnengeschehen 2016 genau beobachtet haben: mit Dorte Lena Eilers, Redakteurin bei der Zeitschrift "Theater der Zeit", und mit Esther Slevogt, Redakteurin bei nachtkritik.de, dem Theaterfeuilleton im Internet.
Streifälle Matthias Lilienthal und Sewan Latchinian
In Sachen Dercon zeigt sich Esther Slevogt enttäuscht über die bisherigen Aussagen des zukünftigen Intendanten, der immerhin vorhat, ein Theater neu zu definieren, das "die deutsche Stadttheaterlandschaft umgekrempelt hat wie kein anderes Haus".
Aber auch andere Streitfälle kochten hoch in diesem Jahr, etwa in München, wo Intendant Matthias Lilienthal vorgeworfen wird, zu sehr auf Performance zu setzen.
"Es hat sich ein Graben aufgetan zwischen Performance- und Schauspielertheater", wie Dorte Lena Eilers feststellt, "obwohl man doch dachte, man ist eigentlich schon weiter. Das verhärtet sich in der Diskussion, auch angeheizt durch die Medien, sodass man das Gefühl hat, Performance ist das neue Regietheater: Wenn ich etwas nicht mag, ist es Performance und damit per se schlecht."
Auch die Rauswürfe der Intendanten Sewan Latchinian in Rostock (gegen den Letzterer erfolgreich geklagt hat) und Karl Silbelius in Trier haben für viel Aufregung gesorgt. Hier stehen sich knappe Kassen und künstlerischer Innovationswille diametral entgegen. "Was die verschiedenen Fälle verbindet", so Esther Slevogt, "ist die Tatsache, dass die Institution Stadttheater an Rückhalt in der Stadtgesellschaft verliert und dadurch auch in der Politik. Sodass sich die Theater überlegen müssen: Wie stellen wir uns auf für eine neue Gesellschaft?"