Rückhaltlose Selbstbefragung
Der Schriftsteller Rudolf Ditzen, alias Hans Fallada, verfasste 1944 während seiner Haft ein Tagebuch, in dem er mit dem Nationalsozialismus abrechnet und sich rückhaltlos selbst befragt. Die Aufzeichnungen sind jetzt als Buch unter dem Titel "In meinem fremden Land" erschienen.
Das Gefängnis von innen war für Rudolf Ditzen, alias Hans Fallada, nicht neu, als sich im September 1944 die Tore der geschlossenen Heilanstalt für Trinker und geisteskranke Kriminelle hinter ihm schlossen. Bereits 1923 und 1926 war er zu insgesamt drei Jahren verurteilt worden, wegen Unterschlagung zur Finanzierung seiner Morphiumsucht. 1933 bewahrte ihn nur ein prominenter Anwalt vor mehr als elf Tagen Haft wegen angeblicher "Verschwörung gegen den Führer". Jetzt, 1944, war der Tatbestand ein anderer. Schwer alkohol- und drogensüchtig, körperlich ein Wrack, in tiefer Schaffenskrise, genervt von ausgebombten Freunden und Verwandten, die auf ihrem Landsitz in Carwitz Unterschlupf suchten, hatte Fallada die Fassung verloren. Ein Streit mit seiner frisch geschiedenen Frau Anna Ditzen eskalierte, der Betrunkene schoss. Später bestätigte seine Ex-Frau: Keine Tötungsabsicht.
Während der dreieinhalb Monate zur Beobachtung in der geschlossenen Anstalt Neustrelitz erbat Fallada Papier und erhielt kostbare 92 Blatt. In lupenkleiner Handschrift schrieb er mehrere Kurzgeschichten und den Roman "Der Trinker". Und in nur 14 Tagen verfasste er auch das Gefängnistagebuch, seine rückhaltlose Selbstbefragung und Abrechnung mit dem Nationalsozialismus.
"Alle zehn Minuten kommt ein Wachtmeister in meine Zelle, sieht neugierig auf mein Gekritzel und fragt mich, was ich schreibe? Ich sage: ‚Geschichte für Kinder’ und schreibe weiter. Ich verscheuche jeden Gedanken an das, was aus mir wird, wenn jemand diese Zeilen liest. Ich muß sie schreiben. Ich ahne das nahe Ende des Krieges, und vorher noch will ich niedergeschrieben haben, was ich erlebte. Nach dem Krieg werden’s Hunderte tun."
Als alle Blätter beidseitig und zur Tarnung teilweise in Sütterlin-Schrift beschrieben waren, drehte Fallada sie kurzerhand um und nutzte den Raum zwischen den Zeilen. So brachte er es auf unglaubliche 80 Zeilen pro Seite.
Sieben Jahre arbeiteten die Herausgeber an diesem Manuskript. Die Entschlüsselung seiner zahlreichen Abkürzungen und komplizierten Textverschachtelungen ist eine nicht hoch genug zu schätzende Leistung der früheren Fallada-Archivarin Sabine Lange und der Professorin Jenny Williams an der Dubliner City University.
Fallada hatte seine Notizen am bloßen Körper aus dem "Totenhaus", der geschlossenen Heilanstalt, geschmuggelt, sie aber später selbst als zu unbedeutend verworfen. Wen würde schon die Rechtfertigungsschrift eines Dagebliebenen interessieren? Bereits während der Niederschrift war er skeptisch gewesen:
"Ich habe nicht mitten im Tagesgeschehen gestanden, ich war nicht der vertraute Freund von Ministern und Generälen. Ich habe keine großen Enthüllungen zu machen, ich habe das Leben wie alle gelebt, das Leben der kleinen Leute. Und unser Leben hat, soweit wir keine Parteimitglieder waren, im Dritten Reich aus Streitereien bestanden, aus lauter kleinen Kämpfen, die wir durchfechten mußten, um unser Dasein zu erhalten. (...) Ich konnte nicht mehr daran denken, die Bücher zu schreiben, die mir am Herzen lagen. Jede Schilderung dunklerer Gestalten war mir streng untersagt. Ich hatte optimistisch und lebensbejahend zu sein, gerade in einer Zeit, die mit Verfolgungen, Martern und Hinrichtungen den Sinn des Lebens verneinte."
Tatsächlich erweist Fallada sich in seinem Gefängnistagebuch als bemerkenswert selbstkritischer Zeitchronist mit einer außerordentlichen Beobachtungsgabe. Dieses Buch offenbart: Er ist weit mehr als ein Autor humoriger Romanerfolge aus dem Milieu des "Kleinen Mannes".
Während Berlin mit Bombenteppichen belegt wird, eröffnet er seine Erinnerungen mit einem literarischen Kabinettstückchen. Er erzählt, wie sein Verleger Ernst Rowohlt und er 1933 in ihrem Stammlokal eine kesse Lippe gegen die, wie sie sicher waren, braunen Reichstagsbrandstifter führten. Wieder ausgenüchtert, erschraken sie selbst. Vor den Augen der Wärter schreibt er über seine Auseinandersetzungen und Fluchten inmitten einer zunehmend dumpfbegeisterten Masse zwischen Erpressung, Korruption und Denunziantentum. Zugleich errichtet er einigen – auch jüdischen Zeitgenossen – kleine Denkmäler in Porträts. Und Fallada setzt sich auseinander mit seinem größten Selbstverrat, dem, wie er es nennt, "angehängten Nazi-Schwanz" an den "Eisernen Gustav", seinem Roman über den legendären Droschkenkutscher und dessen Protestfahrt 1928 nach Paris. Goebbels Drohung hatte ihre Wirkung getan:
"Wenn Fallada heute noch nicht weiß, wie er zur Partei steht, so weiß die Partei, wie sie zu Fallada steht."
Am Ende sucht der Tagebuchschreiber seine Aus- und Zuflucht in der Phantasie. Er malt sich aus, wie seine Familie und er den Zusammenbruch des Dritten Reiches in geheimen Räumen tief unter ihrem Haus überdauern würden.
"Mein Traum von der Zuflucht im Bauch der Erde entzieht mich jeden Tag meinen Feinden, stärkt mich für den Morgen... Hier stehen die verbotenen Bücher auf den Regalen, an den Wänden hängt entartete Kunst, und durch das Gehirn ziehen landesverräterische Gedanken – ungestört, richtig! Hier ist meine Kraftquelle, die kein Nazi erschüttern kann."
Hans Fallada: In meinem fremden Land - Gefängnistagebuch 1944
Herausgegeben von Jenny Williams und Sabine Lange
Aufbau Verlag, Berlin 2009
333 Seiten, 24,95 Euro
Während der dreieinhalb Monate zur Beobachtung in der geschlossenen Anstalt Neustrelitz erbat Fallada Papier und erhielt kostbare 92 Blatt. In lupenkleiner Handschrift schrieb er mehrere Kurzgeschichten und den Roman "Der Trinker". Und in nur 14 Tagen verfasste er auch das Gefängnistagebuch, seine rückhaltlose Selbstbefragung und Abrechnung mit dem Nationalsozialismus.
"Alle zehn Minuten kommt ein Wachtmeister in meine Zelle, sieht neugierig auf mein Gekritzel und fragt mich, was ich schreibe? Ich sage: ‚Geschichte für Kinder’ und schreibe weiter. Ich verscheuche jeden Gedanken an das, was aus mir wird, wenn jemand diese Zeilen liest. Ich muß sie schreiben. Ich ahne das nahe Ende des Krieges, und vorher noch will ich niedergeschrieben haben, was ich erlebte. Nach dem Krieg werden’s Hunderte tun."
Als alle Blätter beidseitig und zur Tarnung teilweise in Sütterlin-Schrift beschrieben waren, drehte Fallada sie kurzerhand um und nutzte den Raum zwischen den Zeilen. So brachte er es auf unglaubliche 80 Zeilen pro Seite.
Sieben Jahre arbeiteten die Herausgeber an diesem Manuskript. Die Entschlüsselung seiner zahlreichen Abkürzungen und komplizierten Textverschachtelungen ist eine nicht hoch genug zu schätzende Leistung der früheren Fallada-Archivarin Sabine Lange und der Professorin Jenny Williams an der Dubliner City University.
Fallada hatte seine Notizen am bloßen Körper aus dem "Totenhaus", der geschlossenen Heilanstalt, geschmuggelt, sie aber später selbst als zu unbedeutend verworfen. Wen würde schon die Rechtfertigungsschrift eines Dagebliebenen interessieren? Bereits während der Niederschrift war er skeptisch gewesen:
"Ich habe nicht mitten im Tagesgeschehen gestanden, ich war nicht der vertraute Freund von Ministern und Generälen. Ich habe keine großen Enthüllungen zu machen, ich habe das Leben wie alle gelebt, das Leben der kleinen Leute. Und unser Leben hat, soweit wir keine Parteimitglieder waren, im Dritten Reich aus Streitereien bestanden, aus lauter kleinen Kämpfen, die wir durchfechten mußten, um unser Dasein zu erhalten. (...) Ich konnte nicht mehr daran denken, die Bücher zu schreiben, die mir am Herzen lagen. Jede Schilderung dunklerer Gestalten war mir streng untersagt. Ich hatte optimistisch und lebensbejahend zu sein, gerade in einer Zeit, die mit Verfolgungen, Martern und Hinrichtungen den Sinn des Lebens verneinte."
Tatsächlich erweist Fallada sich in seinem Gefängnistagebuch als bemerkenswert selbstkritischer Zeitchronist mit einer außerordentlichen Beobachtungsgabe. Dieses Buch offenbart: Er ist weit mehr als ein Autor humoriger Romanerfolge aus dem Milieu des "Kleinen Mannes".
Während Berlin mit Bombenteppichen belegt wird, eröffnet er seine Erinnerungen mit einem literarischen Kabinettstückchen. Er erzählt, wie sein Verleger Ernst Rowohlt und er 1933 in ihrem Stammlokal eine kesse Lippe gegen die, wie sie sicher waren, braunen Reichstagsbrandstifter führten. Wieder ausgenüchtert, erschraken sie selbst. Vor den Augen der Wärter schreibt er über seine Auseinandersetzungen und Fluchten inmitten einer zunehmend dumpfbegeisterten Masse zwischen Erpressung, Korruption und Denunziantentum. Zugleich errichtet er einigen – auch jüdischen Zeitgenossen – kleine Denkmäler in Porträts. Und Fallada setzt sich auseinander mit seinem größten Selbstverrat, dem, wie er es nennt, "angehängten Nazi-Schwanz" an den "Eisernen Gustav", seinem Roman über den legendären Droschkenkutscher und dessen Protestfahrt 1928 nach Paris. Goebbels Drohung hatte ihre Wirkung getan:
"Wenn Fallada heute noch nicht weiß, wie er zur Partei steht, so weiß die Partei, wie sie zu Fallada steht."
Am Ende sucht der Tagebuchschreiber seine Aus- und Zuflucht in der Phantasie. Er malt sich aus, wie seine Familie und er den Zusammenbruch des Dritten Reiches in geheimen Räumen tief unter ihrem Haus überdauern würden.
"Mein Traum von der Zuflucht im Bauch der Erde entzieht mich jeden Tag meinen Feinden, stärkt mich für den Morgen... Hier stehen die verbotenen Bücher auf den Regalen, an den Wänden hängt entartete Kunst, und durch das Gehirn ziehen landesverräterische Gedanken – ungestört, richtig! Hier ist meine Kraftquelle, die kein Nazi erschüttern kann."
Hans Fallada: In meinem fremden Land - Gefängnistagebuch 1944
Herausgegeben von Jenny Williams und Sabine Lange
Aufbau Verlag, Berlin 2009
333 Seiten, 24,95 Euro