Brauchen wir eine Psychoanalyse der Gesellschaft?
Das Ressentiment hat Konjunktur: Geschimpft wird wahlweise auf "die Flüchtlinge", "die da oben", auf "die Linken" und "die Rechten". Diese Renaissance des Grolls gibt Aufschluss über die Gesellschaft, sagt der in Berlin lehrende Philosoph Samo Tomšič.
Ist es angesichts hochgekochter Emotionen, wütender Ressentiments und der drohenden Desintegration von Teilen der Gesellschaft nicht höchste Zeit, die Gesellschaft auf die Couch zu legen? Sein und Streit widmet diese Stunde Philosophie der Psychoanalyse und fragt nach ihren Perspektiven auf die aktuellen Entwicklungen unserer Zeit.
Rede und Antwort steht uns dabei der Philosoph Samo Tomšič. Mit ihm sezieren wir den Populismus aus psychoanalytischer Sicht, fragen, was die #metoo-Sexismus-Debatte mit dem gesellschaftlichen Unbewussten zu tun hat und diskutieren, wie die Psychoanalyse die kapitalistische Spätmoderne deutet.
Reaktion auf eine krisenhafte Lage
Woher rührt die neue Konjunktur des Ressentiments? Tomšič dazu:
"Als allererstes muss man bemerken, dass der Aufstieg des Ressentiments in einer krisenhaften Lage stattfindet. Das heißt, in Zeit einer dreifachen Krise – der ökonomischen, der politischen, der ökologischen. Das heißt, wir haben es mit einer globalen Situation zu tun, in der bestehende Strukturen – ob politische Institutionen, auch ökologische Ordnung und natürlich auch die gesellschaftliche Produktionsweise, die Art und Weise, wie die Ökonomie funktioniert – auseinanderfallen.
Hier kommt auch der Beitrag der Psychoanalyse ins Spiel. Freud hat sehr ausdrücklich betont, dass, wenn eine Struktur auseinander fällt, wird das mit bestimmer Affekterzeugung begleitet. Für die Neo-Populismen ist eine solche Figur der Migrant. Oder diese abstrakte Elite – das Establishment."
Anzeichen für Verdrängung
Für ihn ist "das Ressentiment als Affekt auch ein Zeichen dafür, dass eine Verdrängung stattfindet. Eine wichtige Lektion der Psychoanalyse besteht natürlich darin, dass man das Denken und die Affekte körperlich und psychisch, beziehungsweise das ist in letzter Instanz das Gleiche, zusammendenken muss. Das heißt, Affekte sind Gedanken. Und Gedanken sind Affekte.
Das ist vielleicht so ein spekulativer Ansatz in der Psychoanalyse, der aber wirklich wichtig ist, um überhaupt zu verstehen, wie diese Verbindung zwischen gesellschaftlicher Instabilität oder instabilen Entwicklungen im politischen Raum dann auch bei einzelnen Individuen bestimmte Affekte erzeugen und dementsprechend auch gewisse Ideen in unseren Köpfen formieren."
Außerdem in "Sein und Streit" vom 12. November 2017:
Bei so vielen Fragen und beträchtlichem Leidensdruck hat sich unsere Gesellschaft – bzw. Frau G. Sellschaft freiwillig auf die Couch unseres Klangkünstlers Xaver Römer begeben. Herausgekommen ist dabei eine kleine poetische Analyse von Frau G. Sellschaft.
Sophia Boddenberg stellt uns den argentinischen Philosophen Enrique Dussel vor. Dussel unternimmt den Versuch, das lateinamerikanische Denken aus der engen Umklammerung Europas zu lösen und schlägt eine Rückbesinnung auf indigene Lehren und nachhaltigere Lebensweisen vor.
Außerdem denkt Arnd Pollmann im philosophischen Wochenkommentar darüber nach, wann der Kompromiss in der Politik Tugend und wann er Laster ist. Eine mögliche Jamaika-Koalition muss, so argumentiert er, in faulen Kompromissen enden. Daran Schuld, so Pollmann, sei ihr programmatischer Opportunismus im Vorfeld.