Rückkehr in eine fremd gewordene Heimat

28.06.2007
Derek Walcott, Literatur-Nobelpreisträger von 1992, wurde auf der Karibikinsel St. Lucia geboren. Jahrelang durchstreifte er die Welt, um schlussendlich wieder auf seiner Heimatinsel zu landen. Seine Erlebnisse in der Fremde verbindet er mit dem Erfahrungsschatz der westindischen Kultur, um diese in freien Rhythmen in einer Art Langgedicht zu komprimieren.
Derek Walcott ist einer der ersten Dichter der Globalisierung. Er zeigt in diesem Prozess, der zum Schlagwort geworden ist und vielerorts angstbesetzt, vor allem das auf, was man im Politikerdeutsch "Chancen" nennen würde - das Miteinander und die Verschmelzung verschiedener Kulturen nämlich, das Kaleidoskop verschiedener Identitäten.

Walcott, der 1992 den Literatur-Nobelpreis bekommen hat, ist 1930 auf der karibischen Insel St. Lucia geboren, wo mehr als neunzig Prozent der Bevölkerung Nachfahren afrikanischer Sklaven sind. Die Mehrheit ist römisch-katholisch und spricht Patois, eine französische Kreol-Sprache.

Walcott hingegen entstammt der Minderheit englischsprachiger "Mischlinge", der kleinen gebildeten Mittelschicht. Schon als 18-Jähriger ließ er seinen ersten Gedichtband drucken, und sein Generalthema ist die spezifisch westindische Kultur, die gleichzeitig afrikanische und europäische Traditionen hat. Es geht aber immer auch um das Fremde: nichts ist sich sicher, alles ist im Fluss.

Sein neuestes Buch, das 2004 in New York erschienen ist und von ihm als sein "letztes Buch" bezeichnet wird, nimmt dieses Leitthema wieder auf und skandiert damit einen Lebensrückblick: "The Prodigal", das ist der "verlorene Sohn" aus dem Lukas-Evangelium, der in der Fremde das väterliche Erbe verprasste. Und das ist für Walcott die Folie, auf die er seine eigenen biographischen Erfahrungen beschreibt: der Weggang aus St. Lucia, die Jahre auf Trinidad und in New York, die vielfältigen Erforschungen der europäischen Kultur, vor allem in Italien - und schließlich die Rückkehr nach St. Lucia, wo er heute wieder lebt.

Walcotts ureigene Leistung - und die nobelpreiswürdige! - ist es, das Englische von den Randgebieten her anzureichern und mit vielen neuen Facetten zu versehen, es hinterrücks sogar umzuwidmen: Sein karibisches Denken, das Denken eines Archipels, hat kein statisches, sicheres Zentrum.

Auch "Der verlorene Sohn" zeigt wieder alle Eigenarten der Walcott'schen Poesie, der vor allem die Gattung des mehrzyklischen Langgedichts neu erfunden und gefasst hat: eine gebundene Sprache, die vielerlei Formen von freien Rhythmen hervorbringt; eine Musikalität, die sich dem Vielstimmigen, Polyrhythmischen der karibischen Trommel- und Schlaginstrumente verdankt; sowie eine Bilderwelt, die mühelos das Archaische und das Moderne in sich vereinen kann und keineswegs als Gegensätze begreift.

Das Leben in der Fremde, die fremdgewordene Heimat: diese Grunderfahrung des "verlorenen Sohns" wird in etlichen Formen durchgespielt. Es gibt viele Bruchstücke aus Erinnerungen und literarischen Assoziationen, die sich gegenseitig durchdringen. US-amerikanische und europäische Bildungsfetzen stehen nebeneinander, stehen für eine Gleichzeitigkeit, und die endgültige Wieder-Ankunft in seiner westindischen Heimat St. Lucia fasst Walcott so:

"Dieser verdreckte Hinterhof, dies unerfüllte Land,
dies kleine Feld, aus Blättern, welk und mürbe,
dies ist, von all den Städten dieser Welt, dein Zentrum.
Ach, hell zu leuchten und genau zu sein!"


Die Edition dieses bilanzierenden Werks von Derek Walcott in der Edition Lyrik Kabinett des Hanser-Verlags ist mustergültig: zweisprachig, mit ausführlichen Anmerkungen und einem einführenden Nachwort des Übersetzers Daniel Göske versehen.


Rezensiert von Helmut Böttiger

Derek Walcott: Der verlorene Sohn
Zweisprachige Ausgabe
Deutsch von Daniel Göske
Carl Hanser Verlag, München
213 Seiten