Rückkehr nach Ostdeutschland

Der Ruf, an einer weltoffenen Gesellschaft mitzubauen

06:59 Minuten
Blick über die Altstadtbrücke auf die historische Altstadt in Görlitz.
Es habe ihn schockiert, „wie homogen diese Gesellschaft hier ist und wie weiß und wie alt und wie deutsch“, sagt Rietzschel über Görlitz und die Region. © picture alliance / Eventpress Hoensch
Von Alexandra Gerlach |
Audio herunterladen
Der Schriftsteller Lukas Rietzschel gilt als wichtige junge literarische Stimme aus Ostdeutschland. 2015 ist er aus Hessen nach Sachsen zurückgekehrt, um mitzugestalten. Inzwischen engagiert sich ein Rückkehrer-Netzwerk in Görlitz für Demokratieprojekte.
Der Abwanderungstrend in den ostdeutschen Bundesländern scheint gebremst. Es fehlen dort aber viele tausend junge Leute, die in den 90er-Jahren mangels Ausbildungs- und Job-Perspektiven weggegangen sind. Doch es gibt junge, engagierte und gut ausgebildete Ostdeutsche, die in die Heimat zurückkehren – mit dem Ziel, mitzugestalten. Zum Beispiel der Schriftsteller Lukas Rietzschel.
Er ist 27 Jahre alt und gilt aktuell als eine der wichtigsten jungen literarischen Stimmen aus Ostdeutschland. Der Literat hat gerade sein zweites großes Werk vorgelegt. Der Roman "Raumfahrer" bearbeitet die Traumata der Ex-DDR-Elterngeneration aus der frühen Nachwendezeit, die bis heute nachwirken – auch beim Autor. "Dieser Leerstand, dieses Wegbrechen, dieses Schweigen von Eltern, von Großeltern", das habe ihn geprägt. Und die Brüche in den Biografien mitzubekommen: Dass in so gut wie allen Familien jemand arbeitslos oder in einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme gewesen oder in Frührente gegangen sei.
Rietzschel profitiert selbst von den Freiheiten durch den Mauerfall: Nach seinem Schulabschluss im ostsächsischen Kamenz zieht er nach Kassel, wo er auch ohne Abitur Politikwissenschaft und Germanistik studieren kann.

Mit ostdeutscher Identität konfrontiert

In Hessen erlebt er eine bunte, teils migrantisch geprägte Gesellschaft und ist überrascht. Viele migrantische Milieus habe er das erste Mal so erlebt – und gemerkt: "Das kann funktionieren, warum soll das nicht funktionieren?" Aus dem Osten hab er immer nur von Parallelgesellschaften und Clans und so weiter gehört. "Warum und woher kommt das? Ich habe da ganz andere Erfahrungen gemacht!"
Porträtfoto des Autors Lukas Rietzschel auf der Frankfurter Buchmesse 2018
Nach Ostdeutschland zurückgekehrt: der Autor Lukas Rietzschel© picture alliance / Anke Waelischmiller / Sven Simon
Im Studium wird Rietzschel erstmals mit seiner ostdeutschen Identität konfrontiert. Durch einen stereotypen Kommentar einer Freundin zu Bananen im Supermarktangebot. "Da war ich wirklich schockiert." Denn er habe gemerkt, dass diese Klischees – etwa dass die Ostdeutschen minderbemittelt seien, weil es in der DDR keine Bananen gab, oder vom dummen "Ossi", Nazi und so weiter – auch ihn treffen und weitergetragen werden. Außerdem findet Rietzschel sich oftmals als einziger "Ossi" in den Seminaren wieder.

Für einen Autor ist Görlitz "wahnsinnig spannend"

Das schärft sein Bewusstsein für die eigene Identität. Als sich ab 2015 und auf dem Höhepunkt des internationalen Flüchtlingsstroms die fremdenfeindlichen Vorfälle und Übergriffe in den ostdeutschen Regionen und auch in seiner Heimat Sachsen häufen, beschließt Lukas Rietzschel zurückzukehren. Er habe das Gefühl gehabt, dagegen wirken zu müssen, sagt er heute.
Rietzschel zieht nach Görlitz. Die einstmals reiche und florierende Handelsstadt an der Neiße profitiert von der Nähe zum polnischen Teil Zgorgelec mit seiner deutlich jüngeren Bevölkerung.
Für ihn als Autor seien Görlitz und die gesamte Region Lausitz "wahnsinnig spannend", sagt Rietzschel. "Wir haben jetzt hier den Strukturwandel, diese zweite große De-Industrialisierung nach der Wende, wir reden jetzt über die Nach-Kohle-Zeit und wir haben diese Überalterung, wir haben immer noch die Abwanderung, wir haben eben diesen Wandel in der Arbeitswelt, wir haben diese Grenzlage hier."

Schockiert, "wie homogen die Gesellschaft hier ist"

Rund vier Millionen Ostdeutsche haben seit 1990 ihrer Heimat den Rücken gekehrt. Vor allem junge Leute sind aus Görlitz – wie aus vielen anderen Orten – weggezogen.

Die Rolle der ostdeutschen Heimat nach Jahrzehnten im Westen [ Audio ]
Doreen Klotz ist vor mehr als 20 Jahren aus Sachsen-Anhalt in den Westen gegangen. Kein Bundesland hat nach der Wende so viele Menschen verloren wie Sachsen-Anhalt. Jeder Fünfte ist nach 1990 von dort weggegangen, fast immer in "den Westen", oft ins Niedersachsen oder nach Nordrhein-Westfalen. Die Arbeitslosigkeit war enorm, junge und gut ausgebildete Menschen suchten woanders Job und Glück.
Doreen Klotz ist über Umwege im baden-württemberischen Esslingen gelandet und hat dort Wurzeln geschlagen. Doch ihre ostdeutsche Heimat ist noch immer präsent in ihrem Leben. Über befremdliche und schöne Erfahrungen in Doreen Klotz‘ heutiger und der alten Heimat berichtet Katharina Thoms.

Der Wehrneckarkanal mit Blick auf die Stadtkirche St. Dionys in Esslingen am Neckar in Baden-Württemberg.
© picture alliance / imageBROKER / J. Pfeiffer
Es habe ihn schockiert, "wie homogen diese Gesellschaft hier ist und wie weiß und wie alt und wie deutsch", sagt Rietzschel über Görlitz und die Region dort. Es fehle an Weltoffenheit und auch an Zukunft.
Bei seinen Lesereisen im In- und Ausland ist Rietzschel auf viele abgewanderte Sachsen getroffen. Viele fühlten sich etwa auch verantwortlich dafür, dass die AfD so stark geworden sei – weil sie selbst dort eben fehlten. "Vielleicht ist da auch was dran", meint der Autor.

Netzwerk von Zurückgekehrten

In Görlitz ist er auf Gleichgesinnte gestoßen, die ebenfalls das Bedürfnis hatten, in die Heimat zurückzukehren und an einer weltoffenen, modernen und inspirativen Gesellschaft mitzuarbeiten. Sie bilden ein Netzwerk und engagieren sich in Demokratie- und Kunstprojekten in der Stadt.
Dazu gehört auch die aus Löbau stammende Regisseurin Romy Schmidt, die für Lukas Rietzschel die erste szenische Lesung seines neuen Buches auf die Bühne gebracht hat. Sie sei weggegangen, weil Mitte und Ende der 90er-Jahre klar gewesen sei: "Wenn du was werden willst, musst du in den Westen gehen."
Nach mehr als 15 Jahren Wanderschaft in den Altbundesländern ist sie, inspiriert durch den Kontakt zu Lukas Rietzschel, nach Görlitz gezogen. Sie habe einen Ruf empfunden, zurückzukommen und sich mit ihren Fertigkeiten und ihrer Expertise einzubringen.

Brücken bauen in andere Lebensrealitäten

Romy Schmidt ist Geschäftsführerin des soziokulturellen Projekts in Görlitz: eine von der Stadt geförderte Einrichtung auf dem alten Bahnwerksgelände, wo Jugendliche lernen, Projekte in Eigenregie umzusetzen. Es gehe dabei um Ermächtigung und gelebte Demokratie, sagt Romy Schmidt.
Für Lukas Rietzschel ist dieses Brückenbauen eine wichtige Aufgabe. Auch mit seinen Büchern will er dazu beitragen, Brücken zu bauen in andere Milieus, andere Lebensrealitäten. "Dann haben wir als Gesellschaft alle was davon, weil wir mehr verstehen, wer ist der andere, was will der andere, wie geht es dem anderen. Und das dürfen wir nicht verlieren und auch nicht verlernen."
Mehr zum Thema