Rückkehrer-Börse in Zittau

Wie die Oberlausitz den Bevölkerungsexodus stoppen will

Morgenstimmung im Zittauer Gebirge
Wenn der Trend nicht gestoppt wird, wird Zittau weiter schrumpfen. © Deutschlandradio / Michael Frantzen
Von Michael Frantzen |
Seit der Wende leidet die Oberlausitz in Sachsen unter Bevölkerungsschwung. Die Folge: Vielen Betrieben fehlt qualifiziertes Personal. Mit einer Rückkehrer-Börse wollen Geschäftsleute nun Menschen zurück in die Region locken.
"Hallo"
"Hallo. Bei ihnen alles gut?"
"Die Sauna – können wir das machen, für eine Person?"
Sie ist einfach nicht aus der Ruhe zu bringen: Carla Liebisch. Mittwochmorgen, kurz vor neun. Das "Alte Kurhaus Lückendorf" im Zittauer Gebirge. Die Hotelbesitzerin sitzt auf heißen Kohlen. Silvia, ihre Freundin, müsste eigentlich längst schon da sein. Zusammen wollen sie runter fahren nach Zittau – zur "Rückkehrer-Börse".
"Hier vor Ort: Azubis und so weiter: Das hab ich alles schon probiert. Das ist eher schwierig. Also die orientieren sich dann eher Richtung Dresden. Oder weiter weg. Gerade wenn se ausgelernt haben in der Gastronomie. Viele sind in Österreich, in der Schweiz. Arbeiten."
Liebisch schaut auf die Uhr: Zehn nach neun: Es wird langsam Zeit. Nervös geht die Mittfünfzigerin zum Fenster: Von ihrer Freundin weit und breit keine Spur. Von der Sonne umso mehr. Da drüben – meint sie - am Horizont: die feuerroten Berggipfel: Das ist schon Tschechien. Einer ihrer Köche kommt von dort. Klappt ganz gut, doch die Fluktuation ist hoch. Vielleicht ergibt sich ja etwas auf der Rückkehrer-Börse.
"Große Hoffnungen hab ich da nicht, dass ich gleich jemanden finde. Es geht mir eigentlich erst mal nur zu sehen, ob da überhaupt in meiner Branche … jemand mal auftaucht, der Interesse bekundet."
Da ist sie endlich: Silvia Toll, Liebischs Freundin.
Carla Liebisch mit Interessentin an ihrem Stand auf Börse
Carla Liebisch mit Interessentin an ihrem Stand auf Börse © Deutschlandradio / Michael Frantzen

Heimatverbunden und mobil

Die zwei Frauen kennen sich schon seit einer halben Ewigkeit. Sie ticken ähnlich. Beide sind heimatverbunden. Und mobil. Liebisch pendelt zwischen Lückendorf und Falkensee bei Berlin, ihrem Hauptwohnsitz. Immer die gleiche Routine: Zwei Wochen Durcharbeiten, danach zwei Tage Freizeit in Falkensee bei Mann und Sohn. Toll hat es da noch vergleichsweise bequem: Sie fährt nur ein paar Mal die Woche nach Dresden zu einem Ableger ihres Startups aus dem Energiebereich. Auch sie sucht händeringend Mitarbeiter.
Gut 20 Minuten dauert die Fahrt nach Zittau. Einmal quer durch das Zittauer Gebirge. Dichte Wälder wechseln sich mit Wiesen ab, auf denen Kühe grasen. Silvia Toll liebt das. Ihre Kinder weniger.
"Mein Sohn studiert zurzeit noch in Leipzig und meine Tochter studiert in Hamburg. Und die haben auch beide dort ihren Lebensmittelpunkt hin verlagert. Mein Sohn der steht kurz vor der Masterarbeit. Und da hab ich auch gesagt: Na, und?! Da sagt er: Näh, er kann sich das nicht vorstellen, zurück nach Zittau zu kommen. Es geht ihm nicht einmal um die Job-Perspektiven. Das ist ja das vollkommen Erstaunliche für mich. Für ihn ist es einfach zu klein."

Die Show beginnt

Voll ist es im Foyer des Gerhard-Hauptmann-Theaters, des Veranstaltungsorts. Die zwei Freundinnen schauen sich um ehe sie, bepackt mit Flyern und Kugelschreibern, ihre Plätze ansteuern. Eine Viertelstunde noch und die Show kann beginnen; die Rückkehrer-Show.
"Ich begrüße sie sehr herzlich im Gerhard-Hauptmann-Theater im Foyer. Ich wünsche den Firmen, die anwesend sind, dass sie wunderbare Angestellte finden, wunderbare Mitarbeiter finden. Und ich wünsche denen, die sich interessieren, in die Heimat zurückzukommen, dass sie fündig werden."
"Ich bin die potenzielle Rückkehrerin. Ich bin in Zittau geboren."
Dana Senai steht noch direkt neben dem Eingang. Sie ist extra früh aufgestanden, um möglichst zeitig da zu sein. Die Frau mit der Designerbrille und dem schwarzen Blazer schaut lachend zu ihrem Mann rüber. Florin Senai war nur schwer aus dem Bett zu bekommen. Doch was muss, das muss. Selbst im Urlaub.
Oberbürgermeister Thomas Zenker (rechts im Bild) bei Eröffnung der Börse
Oberbürgermeister Thomas Zenker (rechts im Bild) bei Eröffnung der Börse © Deutschlandradio / Michael Frantzen

Von Schwaben zurück nach Sachsen

"Mein Mann würde mitkommen, quasi. Aus Reutlingen. Ich bin zum Studieren nach Tübingen gezogen und bin dann einfach hängengeblieben – wie so viele. Weil einfach die Angebote besser waren. Ich bin im Moment bei der AOK tätig in Reutlingen. Aber, ja: Jetzt mit Familie und Kindern zieht’s einen doch wieder dann in die Heimat – so’n bisschen."
Dana blättert in der Liste der mehr als 20 ausstellenden Firmen. Drei, vier kommen in Frage. Ihre Familie konnte es anfangs kaum fassen, als sie nach 20 Jahren im schwäbischen Exil meinte: Ich will zurück.
"So ne Familienfeier ... sind wir schon so 50 Leute. Von daher wär hier schon nen großes Netz da. Es ist grad, wenn man einfach Kinder hat, nicht ohne. Wir haben jetzt im Moment für den Jüngsten das Problem, dass wir keinen Betreuungsplatz kriegen für ihn. Deshalb bin ich seit ner Weile raus. Also wir haben im Sommer schon die Absage bekommen bis einschließlich August, dass wir keinen Platz bekommen. Und das macht’s grad nen bisschen schwierig. Nicht nur von der finanziellen Seite her. Ist für uns jetzt auch noch mal son bisschen der Antrieb gewesen, es doch noch mal hier zu versuchen."
Es läuft nicht schlecht: Das Gespräch zwischen den Senais und der Frau von der "Fit GmbH" – einem Hersteller von Reinigungsmitteln und Kosmetika. Freie Stellen: Sind vorhanden. In Verwaltung und Marketing.
"Es ist uns bewusst, dass wir nicht mit den Gehaltsvorstellungen hierherkommen können, die wir in Reutlingen haben, mit den Erwartungen. Aber es ist das Gesamtpaket. Wir zahlen beispielsweise für ne Wohnung hier nicht so viel, wie wir in Reutlingen zahlen. Und wenn sich das denn wieder die Waage hält, ist das denn nen guter Deal. Und es kommt eben, wie gesagt, das Unbezahlbare der Familie dazu."
Florin und Dana Senai, potenzielle Rückkehrer
Florin und Dana Senai, potenzielle Rückkehrer© Deutschlandradio / Michael Frantzen

Zittau - eine Stadt im Abseits

Drei, vier Mal im Jahr schauen die Senais mit ihren drei Kindern in der Oberlausitz vorbei, bei Oma und Opa. Als Dana wegging zum Studium, vor knapp zwei Jahrzehnten, pfiff Zittau aus dem letzten Loch. Erst verschwanden die Industrie-Jobs, dann die Menschen – seit der Wende 12.000. Zittau – das war eine Stadt im Abseits, eingequetscht zwischen dem Braunkohletagebau auf polnischer Seite und trostlosen Dörfern auf der tschechischen. Braunkohleschwaden wehen zwar immer noch herüber, doch die Trostlosigkeit ist gewichen, nicht nur in Tschechien.
"Ich bin immer wieder überrascht, wenn man herkommt und hier durchs Industriegebiet fährt: Dass da doch viel los is. Also auch die Innenstadt von Zittau war durchaus auch schon mal eingeschlafener als wie sie jetzt is. Sie is immer noch ne verschlafene Innenstadt. Aber wir haben durchaus auch im Schwabenland Ecken, die verschlafener sind als hier. Ich find’s schön und freu mich – für die Region. Hab auch viele Klassenkameraden, die inzwischen schon hergekommen sind wieder beziehungsweise mit dem Gedanken spielen."
"Wir wissen um viele Rückkehrer-Geschichten."
Bestätigt Gloria Heymann, zuständig für Wirtschaft bei der Stadt Zittau und Organisatorin der Rückkehrer-Börse.
"Aus dem eigenen Freundeskreisen. Aus dem Umfeld. Dass das ein Thema ist. Und deswegen war’s uns wichtig, einfach mal eine Plattform zu bieten, wo man auch ins Gespräch kommen kann. Da können wir bei den harten Faktoren anfangen: Mit den vielen, sehr wettbewerbsfähigen Unternehmen. Und zum anderen mit den weichen Faktoren: Angefangen vom Angebot von Wohnungen. Von Bau-Land. Kinderplätzen. In Einrichtungen. Von den ganzen Freizeitangeboten. Kultur, Sport, Natur, vor der Haustür. Meine beste Freundin ist heute selber da. Mit ihrem Mann und guckt sich um."
"Katrin Meier ist mein Name."
"Und Sebastian Meier."
"Ich bin Architektin. Es war mir relativ klar, dass meine Branche nicht so vertreten ist. Aber seine ja schon. Man muss da auch einfach mal initiativ auf die Büros ran treten, die es hier so gibt. Muss nicht Zittau sein. Man kann da ja auch nen weiteren Weg auf sich nehmen. Görlitz. Bautzen. Keine Ahnung. Wir fahren jetzt auch so viel. Von daher sind wir das gewöhnt. Wir arbeiten beide in München. Pendeln: Eine Stunde. EINE Fahrt."

Zukunft in der Oberlausitz

Seit mehr als zehn Jahren leben die Meiers nördlich von München. Verdienen gutes Geld. Sie: In einem Architekturbüro. Er als Projektleiter bei einem mittelständischen Unternehmen aus dem Elektrobereich.
"Für uns ist ja langfristig: Wir haben zwei Kinder. Wir haben da drüben ne gewisse Existenz. Ich würde niemals im Streit gehen, weil: Ich fühle mich wohl in der Firma. Es ist wirklich nen super Klima. Aber: Für die endgültige Zukunft is es nix."
Kurz vor elf. Am Stand von Carla Liebisch – der Hotelbetreiberin - tut sich etwas.
"Ist das schon der erste Interessent?"
"Näh, Näh. Um Gottes Willen."
"Wir tauschen uns bloß aus."
"Wo ist denn ihr Stand?"
"Ich bin von Havtlat-Präzisionstechnik und bin dort für das Personalmanagement zuständig. Wir sind ein Lohnfertiger für Maschinenbau-Präzisionsteile. In dem Bereich Drehen, Fräsen, Schleifen. Und Montieren. Und wir suchen in den entsprechenden Bereichen auch Spezialisten. Deshalb sind wir heute auch hier."
Hausmann hat sich generalstabsmäßig auf die Börse vorbereitet. Mit Prospekten, Stellenausschreibungen mit genauem Anforderungsprofil – allein für Verspahnungs-Mechaniker fünf; und als Clou: mit Bierhumpen im XXL-Format samt Logo seines 220-Mann-Unternehmens.
"Für uns ist wichtig, dass wir uns hier als Unternehmen mit präsentieren. Dass wir hier für den Standort auch stehen. Für den Standort auch einstehen. Sie sehen’s auch im Hintergrund: Als Familien-geführtes Unternehmen."
"Gut. Also dann kann’s weiter gehen."
Mit Silvia Toll, der Startup-Frau.
"Sind Sie gerade in Verhandlungen?"
"Ich hab hier ne potenzielle Bewerberin, mit der ich gerade gesprochen habe. Und: Hut ab! Ich bin begeistert. Alle: Jung, aufgeschlossen und sehr, sehr interessiert auch. Auch wenn wir davon gesprochen haben gerade – mit meinem Sohn und so: Ganz anders. Die wollen wirklich wieder zurückkommen und haben konkrete Pläne."
"Ich bin der Raimo Christoph. Wir sind auf der Suche nach nem Job hier in der Gegend wieder. Wir kommen nämlich ursprünglich von hier. Wir sind jetzt nach Chemnitz gezogen – vor zwei Jahren. Ich bin Leiter von einem Logistik-Unternehmen. Aber jetzt haben wir Nachwuchs bekommen, da wollen wa natürlich schon gerne zu Oma, Opa, zurück."
Zehn Monate ist Leon alt. Raimo streicht ihm sachte über den Kopf - auch wenn er ihm und seiner Partnerin gerade schlaflose Nächte bereitet.
"Momentan sind wir auch nach nem Kindergarten auf der Suche. Momentan haben wir mehr Absagen als wie wa irgendwo auf ner Warteliste stehen. Das ist schon schwierig. Wenn sie nicht in Arbeit kommt, dann wird’s mit dem Geld irgendwann auch eng."

Von Berlin und Paris zurück nach Sachsen

Junge, engagierte Oberlausitzer, die wieder zurück wollen in die alte Heimat: Das ist ganz nach dem Geschmack von Thomas Zenker. Zittaus Oberbürgermeister hat es sich nicht nehmen lassen vorbeizuschauen. Trotz allem. Der Mittvierziger fasst sich an den Hals. Die Stimmbänder. Zenker war gestern auf einer Cocktail-Party – bis spät in den Nacht. Wenn man so will, ist der Parteilose genau der richtige Mann für eine solche Börse: Er ist selbst Rückkehrer. In Leipzig hat er studiert, in Berlin, Paris.
"Ich hab 93 mein Abitur gemacht und habe damals noch von den allermeisten Menschen, die damals für mich sozusagen die Richtung vorgegeben haben, gehört: Geh mal lieber weg! Inzwischen können wir mit ruhigem Gewissen sagen: Hier lohnt es sich zu bleiben. Hier kann man auch Karriere machen. Wenn sie sich umschauen, was für Jobs gesucht werden: Es geht tatsächlich um den hochausgebildeten Bereich. Und nicht nur irgendwelche Niedriglohn-Jobs im Teilzeitbereich."
"Wir suchen Oberärzte an unserem Standort Ebersbach. Apotheker. Beziehungsweise Ärzte in Weiterbildung für unsere Klinik für Unfall- und Handchirurgie."
Ergänzt Jana-Cordelia Petzold vom Klinikum Oberlausitzer Bergland.
"Wir haben unbefristete Stellen. Wir haben sehr hohe Vergütungsstrukturen. Und wir bieten zusätzliche Betriebsrenten."
Petzold ist ganz in ihrem Element. Wie ein Wirbelwind wuselt die Personalchefin des Krankenhauses durch das Theater-Foyer. Ihr Chef Steffen Thiele lässt es gemächlicher angehen.
"Wir sind sicherlich keen Universitäts-Klinikum. Werden auch keins werden. Nichtsdestotrotz kann ich aber ein gutes Modell von Familie und Beruf anbieten. Was für junge Familien durchaus auch attraktiv sein kann. Abseits vom Großstadt-Smog, der Alltagshektik in der Großstadt. Sondern son bisschen dieses Beschauliche, Ländliche auch zu leben. Ohne dass man in einer abgehängten Region sich verstanden fühlt."
Der Mediziner weiß wovon er spricht. Er kommt selbst aus Zittau.
"Genau. Ich war klassischerweise zwischendurch in der Schweiz. Ich hab’ studiert in der Schweiz, hab ne Zeitlang in ner Praxis gearbeitet. War in Zürich und Luzern. War ne interessante Zeit. Sehr schön. Aber hier ist jetzt auch wieder gut. Das klingt jetzt vielleicht nen kleines bisschen komisch, aber es war jetzt tatsächlich auch so das Gefühl von Heimat. Von Zurückkommen. Von Familie und von Freunden. Das hat schon ein starkes Gewicht gespielt. Und ich hatte hier auch beruflich die Möglichkeit im Krankenhaus wieder Fuß zu fassen. Und sicherlich ist die Schweiz schon ein Standort mit einem hohen Lebensstandard. Aber: Der ist hier durchaus auch akzeptabel – für meine Verhältnisse."
Silvia Toll, Startup-Gründerin von "Use my Energy" an ihrem Stand auf Börse
Silvia Toll, Startup-Gründerin von "Use my Energy" an ihrem Stand auf Börse© Deutschlandradio / Michael Frantzen

Arbeiten für den Mindestlohn?

Es ist viertel vor zwei. 15 Minuten noch – dann schließt die Rückkehrer-Börse. Zeit für ein erstes Resümee.
"Hätt ich nie für möglich gehalten, dass es doch so viele Interessenten gibt, die sich auch angesprochen fühlen. Zehn, fünfzehn Gespräche hab ich geführt. Die werden sich bei mir melden. Ich werde auch Bewerbungen bekommen."
"Wir hatten ja hier zwischendurch Stoßzeiten, wo ich überlegt hab, ob wir noch jemanden reinlassen. 300 bis 400 werden da gewesen sein. Unser Ziel war 200, die haben wir locker geschafft.
"Ja, ich glaub, die Kugelschreiber sind nen bisschen weniger geworden."
"Die sind nen bisschen weniger geworden. Die Kugelschreiber sind weniger geworden. Aber das Angebot ist nicht größer geworden."
An Interessenten, die sich vorstellen können, bei Carola Liebisch zu arbeiten. Die Hotelbesitzerin rollt ihr Werbeplakat zusammen. Es reicht.
Bereut – meint Liebisch auf dem Weg zur Tiefgarage - nein, bereut habe sie die Rückkehrer-Börse nicht. Sie hätte ja gewusst, dass es schwierig werden würde. Wer will schon für etwas mehr als den Mindestlohn arbeiten. Sie steigt in ihr Auto. Gleich wird sie zurückfahren in ihr Vier-Sterne-Hotel, auf verschlungenen Pfaden – und das tun, was sie immer tut: Sich kümmern.
"Ein Selbstausbeuter hat nie Feierabend."
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