Autorin: Susanne von Schenck
Sprecherin: Bettina Kurth
Technik: Christoph Richter
Regie: Stefanie Lazai
Redakteur: Martin Hartwig
Finsterwalde – New York – Finsterwalde
27:19 Minuten
Nach der Wende verließen ganze Schulklassen die neuen Bundesländer in Richtung Westen. Seit einigen Jahren ziehen aber Ostdeutsche auch wieder zurück in die Region, aus der sie ursprünglich kamen - viele von ihnen folgen ihrem "Heimatgefühl".
Frühstück am großen Küchentisch der Villa August Stark im sächsischen Marienberg. Andrea Steinert und ihre Tochter Sama mischen Bananen und Jogurt in weißen Schalen.
"Wir sind hier ganz nah an der Grenze zu Tschechien, circa sechs Kilometer, und wir haben das ganze sächsische Gebiet sozusagen vor unserer Haustür. Marienberg ist eine ganz kleine mittelständische Stadt, die 13 000 Einwohner hat. Für uns als Familie ist das ideal."
Die Familie, das sind Andrea Steinert und ihre drei Kinder. Von ihrem ägyptischen Mann hatte sie sich 2006 getrennt und war aus Kairo zurück in ihre alte Heimat gezogen. Dort lernte sie ihren jetzigen Mann kennen, einen Marienberger. Er, ein Hiergebliebener, sie, eine Rückkehrerin.
"Ursprünglich stamme ich aus Chemnitz", sagt Andrea Steinert. "Zu meiner Zeit, als ich geboren wurde, hieß es noch Karl-Marx-Stadt. Das Erzgebirge war für meinen Vater und mich reine Erholung. Wir haben hier oben zusammen eine kleine Datsche gebaut, eine Finnhütte, und das hat sich über 12, 14 Jahre hingezogen."
Rückkehr nach beinahe 20 Jahren
18 Jahre lang hat die erfolgreiche Designerin im Westen Deutschlands und im Ausland gelebt: zehn Jahre in Wien, drei Jahre in Frankfurt am Main und fünf Jahre in Kairo.
"Ich sag immer, wenn ich meine Gitarre mitnehme, dann bleibe ich auch dort", sagt sie. "Meine Gitarre hätte ich nie zurückgelassen."
Doch dann wuchs die Sehnsucht nach Vertrautem, so etwas wie Heimat. Sie wollte ihre drei Kinder im Grünen aufwachsen sehen und kehrte zurück.
"Es gab am Anfang viele offene Arme und Gesichter", erzählt Andrea Steinert. "Ursprünglich hatte ich hier einen sehr großen Freundeskreis. Dann, nach ein, zwei Jahren habe ich gemerkt, dass das alles bröckelt und sich die Dinge verschieben. Weil das Leben in der langen Zeit, in der ich weg war - es waren ja 18 Jahre - ist natürlich enorm weitergegangen hier, und die Leute haben alle ihre Bahnen und Wege gefunden. Und man selber hat sich natürlich auch verändert. Mein Blick hier auf die Region war anders als der Blick der Menschen, die hier leben. Ich habe natürlich gesehen, dass sehr viel in Infrastruktur investiert wurde. Ich selbst habe natürlich diesen Immobilienüberschuss hier gesehen, weil nach Frankfurt, Wien und Kairo war es für mich einfach unglaublich, dass man solche Immobilien wie zum Beispiel die, in der wir gerade sitzen, für ein so geringes Geld erwerben kann und die ganzen Chancen, die damit einhergehen.
2010 kaufte Andrea Steinert die damals heruntergekommene Villa August Stark, sanierte sie, lebt und arbeitet dort mit ihrer Familie.
In Marienberg fällt die 50-Jährige auf: Sie ist lässig-chic gekleidet, bringt mit Stil und Niveau etwas von der weiten Welt in die sächsische Kleinstadt. Anfangs hatte sie ihre Werbeagentur in einem Beduinenzelt eingerichtet, bevor sie die Villa in der Poststraße fand.
Ein Netzwerk für Rückkehrer gegründet
Das geräumige Haus ist lichtdurchflutet, in der obersten Etage, unter den Dachschrägen, hat Andrea Steinert eine originelle Ferienwohnung mit alten Möbeln eingerichtet. Im ersten Stock ist die Werbeagentur. Die Atmosphäre ist aufgelockert, die Räume sind großzügig. Einige der Mitarbeiter kommen täglich aus dem nahegelegenen Chemnitz nach Marienberg.
Im vergangenen Jahr hat sie das Rückkehrernetzwerk "Geh voran – komm zurück" gegründet. Simon Held, eine junger Mann aus Marienberg, hilft, das Netzwerk aufzubauen.
"Wir stehen natürlich in engem Kontakt mit den Rückkehrern. Wenn sie sich melden, sind wir der erste Ansprechpartner für die Rückkehrer, und wir sind dann zuständig für die Vermittlung von Jobs, Immobilien und sind quasi zuständig, Rückkehrern ein gutes Ankommen in Sachsen zu ermöglichen."
Die Nachfrage steigt. Über 200 Menschen haben sich bereits bei "Geh voran – komm zurück" beraten lassen.
Gut 120 km nordwestlich von Marienberg beschäftigt sich Tim Leibert in Leipzig mit innerdeutschen Migrationsbewegungen. "Wobei gerade die Oberlausitz bekannt ist", sagt er, "dass es in Deutschland die Region mit den niedrigsten Löhnen ist. Und das sind Regionen, die massiv schrumpfen."
Asymmetrische Wanderungen nach dem Mauerfall
Der gebürtige Heidelberger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibnitz Institut für Länderkunde in Leipzig. Als im November 1989 die Mauer fiel, setzte eine Wanderung in beide Richtungen ein, allerdings eine asymmetrische: 4,8 Millionen Umzügen von Ost nach West zwischen 1989 und 2017 standen 2,9 Millionen Umzüge in die umgekehrte Richtung gegenüber. Egal in welche Richtung es ging, die meisten Menschen zogen in die jeweiligen Metropolen und Zentren.
Die Folge: In ländlichen Regionen fehlen heute Fachkräfte und zwar sowohl im Westen als auch im Osten, wo nach der Wende der Arbeitsmarkt zusammenbrach.
Dass dennoch Menschen auch aufs Land ziehen, erklärt Migrationsforscher Tim Leibert folgendermaßen: "Die Entscheidung, zurückzukommen, hat sehr viel damit zu tun, dass man zu Familie und Freunden zurückmöchte und dass man in eine gewohnte Umgebung zurückmöchte. Viele Rückkehrer sind auch bereit, ökonomische Nachteile in Kauf zu nehmen, also sie haben dann Arbeitsplätze, die möglicherweise nicht ganz ihren Qualifikationen entsprechen, bei denen sie weniger verdienen oder geringere Aufstiegschancen haben. Aber die Motivation kommt in den allermeisten Fällen über den Wunsch, in die sozialen Netzwerke zurückzukehren."
Aber was genau ist eigentlich ein Rückkehrer?
"Ein Rückwanderer ist nach strenger Definition jemand, der in einem Ort geboren ist, da aufgewachsen ist, weggezogen ist und wieder in den Geburtsort zurückkehrt", sagt Michaela Fuchs, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung in Halle. Das trifft vermutlich nur auf jeden zehnten Rückkehrer zu. Denn nicht jeder landet wieder direkt in seinem Geburtsort.
Die erste Cocktailbar in Finsterwalde
Finsterwalde im südlichen Brandenburg: 16.000 Einwohner, ein sogenanntes Mittelzentrum. Finsterwalde schmückt sich gern mit dem Zusatz "Sängerstadt", weil dort alle zwei Jahre ein großes Sängerfest gefeiert wird. Im Stadtzentrum, in der August-Bebel-Straße, ist die Cocktailbar "Auras". "Cocktailbars gab's ja nicht so viele zu DDR Zeiten", sagt Sina Auras, "wir waren die erste in Finsterwalde."
Vor 16 Jahren haben sich Sina Auras und ihr Mann Detlev mit ihrer Bar einen Traum erfüllt. Ihre Spezialität ist der "Heeme Cocktail", den Sina Auras mit lokalen Produkten bewirbt. Allerdings, bei Orange und Blue Curacau schummelt sie ein bisschen: "So, jetzt kommt der schöne Heimatapfel dazu. Highlight ist das Heeme-Fähnchen, wo die Gäste dann immer fragen: Wieso steht denn da Heeme drauf?"
Die Cocktailbar Auras besticht durch eine Mischung aus orientalischem Flair und DDR-Nostalgie. Dort kann man Shisha rauchen oder an einem der "Eventabende" beim DDR-Quiz mitmachen, Musik aus dem Osten hören oder sich beim Betrachten der großen Wandmalereien an exotische Plätze träumen.
"Dann sage ich: Ja, das ist ein Stück Heimat", sagt Sina Auras. "Und dann erzähle ich, dass meine Tochter dieses Buch geschrieben hat."
Die Tochter heißt Stephanie Auras-Lehmann und sitzt auf einer plüschigen Eckbank in der Bar. In dem kleinen autobiografisch geprägtem Roman "Heeme" erzählt die 37-Jährige, wie sie nach der Wende erst westwärts bis nach New York zog und vor zehn Jahren zurück in ihren brandenburgischen Heimatort Finsterwalde: "Also Heeme ist aus dem Dialektbereich und heißt: zu Hause. Ich geh jetzt heeme, ist so, was wenn man in einer anderen Region sagen würde: Ich geh jetzt nach Hause."
Autobiografischer Roman über die Rückkehr
Am Beispiel ihrer Hauptfigur Peggy Piepenkind, die in den fiktiven Ort Lieblingswalde zurückkehrt, thematisiert sie in einfacher Sprache Begriffe wie Identität oder fragt "Wo ist eigentlich mein Zuhause?" Das Fazit des Buches "Gib alles, nur nicht auf" scheint auch auf seine Verfasserin zuzutreffen. Die Rückkehr war allerdings nicht einfach.
In ihrem Buch beschreibt Stephanie Auras-Lehmann die Begegnung mit einer einheimischen Verkäuferin:
"'Tach, Peggy, auf Durchreise oder zum Urlaub hier?' grunzte sie trocken. 'Nichts von beidem. Ich wohne wieder hier', stellte ich gleich klar. Ihre Mundwinkel zogen sich leicht nach unten, der Kopf senkte sich leicht zur Seite und zwei traurige, mitleidige Augen gafften mich an. 'Hat wohl nicht geklappt in der großen weiten Welt", bedauerte sie mich.'Doch, ich hätte sogar in New York bleiben können. Aber zu Hause ist es doch am schönsten', verteidigte ich mich. 'Wenn du meinst', ätzte sie über die Ladentheke. Dieser 'Hast es wohl in der weiten Welt nicht geschafft'-Blick durchdrang mich bis zur Ladentür. Gedemütigt verließ ich den Laden."
Wie schwer es ist, zurückzukommen, hat auch Anne Shepley erfahren. Sie stammt aus Stralsund und wollte 2003 nach dem Abitur so weit weg wie möglich, ans andere Ende der Welt. Zehn Jahre jobbte sie in Neuseeland und segelte um die Fidschi Inseln. 2013 kam sie zurück: Weil sie eine Familie gründen wollte, weil sie ihre Wurzeln suchte, weil sie in Neuseeland Heimweh hatte.
Der Abstand verändert den Blick
Jetzt lebt sie mit ihrem Mann, einem Engländer, und der kleinen Tochter auf dem Land in Gottmannsförde, 30 Kilometer nordwestlich von Schwerin: "Es war schon ein Schock. Es gab auch durchaus Momente nach der Rückkehr, wo ich gesagt habe, wieso, was tue ich hier eigentlich. Mir kam alles viel kleiner vor. Für mich waren viele Sachen auffällig, die sich verändert hatten: das politische Klima, die Situation der Menschen, ja nicht nur die wirtschaftliche, auch die im Kopf, auch die Ost-Westthematik. Das war für mich in Neuseeland alles sehr weit weg. Ich habe auch schnell gemerkt, dass mir zum Beispiel zehn Jahre politische Geschichte fehlen."
Durch den Abstand, den sie zu ihrem Land hatte, hat sich ihr Blick verändert. Anne Shepley erlebt eine Gesellschaft, die sich verändert hat. Über die hochgepriesene Effizienz in Deutschland amüsiert sie sich: Das habe sie in Neuseeland sehr viel besser erlebt. Erschrocken ist sie über den Rechtsruck im Land.
"Die AfD, aber auch die NPD und alle anderen nichtdemokratischen Parteien und Vereinigungen in Mecklenburg-Vorpommern, das ist natürlich was, was unsere Landesgeschichte ist", sagt Anne Shepley und wehrt sich dagegen, ganze Landstriche der AfD zu überlassen.
"Und es ist etwas, was mich letztendlich dazu bewegt hat, selber politisch aktiv zu werden", sagt si. "Weil ich gesehen habe, dass, wenn ich nicht mithelfe, die Demokratie wieder zum Leben zu erwecken, wieder ein paar Ideen einzubringen, dann machen es halt andere Leute, und die haben leider nichts Gutes im Sinn mit diesem Land. Das ist auch etwas, was ich seit meiner Rückkehr gelernt habe. Es war vielleicht ein Schlüsselmoment im Leben, so würde ich es fast schon bezeichnen, dass man sagt: Ah, Moment mal, das mit der Demokratie, das wird uns nicht einfach so im Grundgesetz vor die Füße gelegt und dann ist einfach da. Diesen Luxus haben wir nicht. Wir müssen da alle mit anpacken."
Nach der Wende: Braindrain in Richtung Westen
Nach der Wende verließen ganze Abiturklassen die neuen Bundesländer. Die Folge: Ein Braindrain in Richtung Westen, Regionen bluteten aus, standen vor dem Aus. Vor allem die Frauen gingen, zurück blieben die Männer.
"Das darf man nicht vergessen: Ende der 90er-Jahre wurden die Ostdeutschen liebend gern nach Westdeutschland vermittelt", sagt Michaela Fuchs vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung in Halle. "Jeder war froh, wenn ein Ostdeutscher in Westdeutschland eine Arbeit bekommen hat und dann da auch geblieben ist, weil die Arbeitsmarktlage hier hoffnungslos war."
Viele Menschen wurden gezielt abgeworben.
"Es gab die große Abwanderungswelle, die auch heute noch nachwirkt", sagt Michaela Fuchs. "Wir haben viele Rückkehrer um die 40, die damals weggehen mussten, weil sie hier keine Arbeit gefunden haben. Das wurde befördert mit Prämien, das kennen wir alle. Ich denke, da sind die Wunden noch tief."
Stephanie Auras-Lehmann blieb als eine der wenigen ihres Abiturjahrgangs in Finsterwalde und machte eine Lehre als Reisekauffrau. Aber irgendwann wollte sie nicht nur Reisen verkaufen, sondern auch selbst weiterkommen. Weilburg in Hessen - Berlin - Leipzig - New York. Und dann zurück nach Finsterwalde – der Liebe wegen. Zehn Jahre ist das jetzt her. Der Wiedereinstieg war schwer.
Stephanie Auras-Lehmann schrieb 160 Bewerbungen: "Das ist immer das Wichtigste für Rückkehrer, dass sie hier ihre Existenz haben und davon leben können. Dieses ganze Netzwerk war nicht mehr da. Aber ich habe gemerkt, dass die Stadt Finsterwalde sich trotzdem weiterentwickelt hat. Es wurde viel gebaut, es gab auch neue Ideen. Das hat mich motiviert, hierzubleiben. So habe ich erstmal gekämpft. Man muss sich schon selbst drehen und wenden und ein Stück neu erfinden, wenn man wieder zurückgeht."
Inzwischen arbeitet sie als Projektkoordinatorin und PR- und Social-Media-Managerin. Nebenbei entstand ihre Rückkehrerinitiative "Comeback Elbe-Elster", in der sie Menschen berät, die in der Region wieder Fuß fassen möchten, inzwischen finanziert vom Land Brandenburg, lokalen Sponsoren und der Robert Bosch Stiftung.
Ministerpräsident zu Besuch im "Heimatladen"
2016 kam der Durchbruch, als Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke in Finsterwalde "Comeback Elbe-Elster" mit dem dazugehörigen "Heimatladen" besuchte.
"2012 hatten wir eine Rückkehranfrage pro Quartal, jetzt in einer Woche sieben Anfragen", sagt Stephanie Auras-Lehmann. "Das ist enorm, wie sich das in den letzten Jahren gesteigert hat. Wir haben seit 2012 circa 500 bis 600 Beratungen durchgeführt, und wir können sagen, dass davon rund ein Drittel zurückgekommen ist. Aber mit dem Zahlenmaterial ist sehr schwierig. Ich bin mir sicher, es gibt eine höhere Dunkelziffer, die zurückgekehrt ist, als wir registriert haben."
Genaue Zahlen gibt es nicht. Auch wenn Politiker gern von einem Trend in Richtung Osten sprechen, handelt sich allenfalls um ein Trendchen, meint Michaela Fuchs vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung in Halle: "Es gibt keine einzige seriöse Datenquelle, die Rückwanderung abbilden kann. Wer etwas anderes erzählt, das ist unseriös. Auch die Rückkehrerinitiativen oder die Rückwandererbüros können nur für sich selber sprechen und die wissen nicht, ob die Rückwanderer zurückkommen aufgrund ihrer Aktivitäten, oder ob sie auch so zurückgekommen wären. Das ist eine schwarze Box. Man hat keine umfassenden Informationen über die Rückwanderung."
Aber man weiß: Sie ist ein gesamtdeutsches Phänomen. Allerdings: Die entvölkerten Landstriche gibt es in dieser Extremform nur im Osten. Dort sind in allen fünf Bundesländern Initiativen wie die von Stephanie Auras-Lehmann entstanden, die Rückkehrer beraten: in Mecklenburg-Vorpommern "mv4you" in Schwerin, die "Raumpioniere" in der Oberlausitz oder "Geh voran – kehr zurück" im Erzgebirge. Es gibt Welcome Center in Sachsen-Anhalt oder Thüringen.
Abwanderung ist ein weltweites Thema
Das Land Brandenburg ist mit über einem Dutzend Rückkehrerinitiativen sehr aktiv - und vernetzt sich, so Stephanie Auras-Lehmann, inzwischen auch mit dem Westen.
"Da soll in den nächsten zwei Jahren eruiert werden: Kehrt der Osten anders zurück als der Westen, gibt es Unterschiede und auch Gemeinsamkeiten? Vielleicht gibt es irgendwann mal eine Bundeskonferenz für Rückkehrer in ganz Deutschland. Das heißt, diese Stadt-Land-Flucht, diese Abwanderung ist ein Thema nicht nur in Ostdeutschland, sondern in der ganzen Welt, und da können wir vielleicht auch unsere Erfahrung teilen."
Im Welcome Center im thüringischen Sondershausen sitzt Nicolle Linke am Schreibtisch. Sondershausen ist eine hübsche Stadt im Kyffhäuser mit 3000 Einwohnern und einem Residenzschloss der Fürsten zu Schwarzburg-Sondershausen.
Als 20-Jährige zog Nicolle Linke aus Erfurt in die Region, deren Entwicklung sie trotz aller Probleme positiv sieht – oder sehen muss: "Wenn man die Leute auf der Straße fragen würde, würden ganz viele sagen, ja, wir sind hier abgehängt in der Region, ohne Frage. Aber es gibt auch ganz viel, was wir dagegen tun. Wir haben zum Beispiel im letzten Jahr drei neue Schulen eröffnet. Wir haben viele Fördergelder in die Region geholt und Infrastruktur, Radwege, alles, was lebenswert ist, in die Region gebracht."
Im Kyffhäuserkreis setzte ab 1990 - mit dem Ende der Kaliförderung - die Abwanderung ein. Heute leben noch 75.000 Menschen in der Region. Vor dem Fall der Mauer waren es 100 000. Jeder, der zurückkehrt, ist willkommen.
"Wir haben weiterhin sinkende Einwohnerzahlen, und laut Prognose wird das auch weiter so bleiben", sagt Nicolle Linke. "Deswegen ist eine Kooperation der Landkreise untereinander wichtig, um einfach ein bisschen gestärkt aufzutreten, um zum Beispiel auch verschiedene Förderprogramme wahrzunehmen, weil das müssen spezielle Einwohnerzahlen vorhanden sein. Das ist hier bei uns im Haus und in anderen Landkreisen gewünscht, dass man da wirklich alles wahrnimmt und die Leute und Institutionen wirklich unterstützt."
Von politischer Seite ist das Problem des demografischen Wandels erkannt. Aber muss man gleich, um dem Mangel an Fachkräften entgegenzuwirken, wie die thüringische CDU in ihrem Wahlprogramm vorsieht, eine Prämie für Rückkehrer einführen?
Das jedenfalls überlegte Mike Mohring, Landesvorsitzender der CDU, in einem MDR-Interview vom August dieses Jahres: "Ich würde gerne so eine Kultur schaffen, dass die Besten bei uns bleiben, auch zurückkommen, in dem man Rückkehrerprämien organisiert, jungen Familien eine neue Chance gibt, und dafür sorgt, dass eine bessere Entlohnung stattfindet. Wir wollen unser Wahlprogramm formulieren, dass es eine 5000 Euro Prämie gibt, wenn man zurückkommt und in Thüringen einen Arbeitsplatz findet und sich diese Prämie noch mehr erhöht, wenn noch Kinder in der Familie dabei sind und junge Familien auch den Weg wieder nach Thüringen zurückgehen und in Thüringen eine Zukunftsperspektive sehen."
"Auch Rückwanderer brauchen Integrationsleistungen"
Vermutlich werden die Wenigsten wegen 5000 Euro Prämie einen Rückzug nach Thüringen planen. Und für Menschen, die ganz neu in dieses Bundesland ziehen möchten, muss eine Prämie befremdlich wirken, die nur für "Landeskinder" gedacht ist.
"Auf politische Seite wäre es erst mal notwendig, sich so ein bisschen davon zu lösen, eine Fixierung auf Rückwanderer zu entwickeln, die es meiner Meinung nach im Moment gibt", findet Tim Leibert vom Leibnitz-Institut für Länderkunde:
"Man hat, und das ist wahrscheinlich auch ein Resultat der aktuellen und letzten Wahlen, so ein bisschen Fokus darauf, Leute, die aus der Region kommen, zurückzuholen. Das hängt teilweise auch ein bisschen damit zusammen, dass man Leute, die von woanders kommen, nicht so will. Dass die nicht zu uns gehören, auch wenn es Leute aus Westdeutschland sind, und da ist es wichtig zu erkennen, auch Rückwanderer brauchen Integrationsleistungen. Wir brauchen alle Fachkräfte, und wir brauchen alle Leute, die bereit sind in den ländlichen Regionen zu leben, und die sollten auch alle gleich willkommen sein."
Warum kehrt jemand zurück? Weil es so etwas wie Heimatgefühl gibt? Weil die Familie vor Ort ist?
So wie bei Annika Struck aus Oldisleben: "Ich bin nach der Realschule 2005 nach Wiesbaden, berufsbedingt, ausbildungsbedingt, weil: Hier gab es nichts. Wir sind dann, mein Mann und ich, 2012 wieder in die Heimat gezogen nach Erfurt und dann 2016 wieder ganz in die Heimat nach Oldisleben."
Oldisleben, ein kleiner Ort 30 Kilometer östlich von Sondershausen. Annika Struck, 30 Jahre alt, und ihr Mann Uwe, 37, sitzen in ihrer Wohnzimmerlandschaft, der kleine Sohn ist bei der Nachbarin. Annika Struck war 16, als sie nach Wiesbaden zog, um eine Ausbildung als Fachangestellte für Bürokommunikation zu beginnen.
Deutliche Abstriche beim Gehalt
Uwe Struck, gelernter Fensterbauer, folgte ihr: "Die Leute sind offener und freundlicher, auf jeden Fall. Der Unterschied zwischen Osten und Westen ist der Lohn. Ich sag mal, wenn man zurückkehren möchte, muss man Abstriche machen gegenüber dem Westen, das ist definitiv klar. Ich hab - von meinem jetzigen Gehalt - die Hälfte mehr verdient im Westen, als was ich hier bekomme."
Wie bei vielen gab auch bei Annika und Uwe Struck die Familie den Ausschlag, nach sieben Jahren im hessischen Wiesbaden wieder nach Thüringen zurückzuziehen. Positive infrastrukturelle Entwicklungen erleichterten das Ankommen.
Ein Rückkehrernetzwerk oder Welcome Center haben sie nicht in Anspruch genommen, wussten damals auch gar nicht, dass es so etwas gibt: "Wir sind ja von Wiesbaden nach Erfurt und von Erfurt nach Oldisleben. Von Erfurt wären wir nicht hierhergekommen, wenn die Autobahn nicht gebaut worden wäre. Und Oldisleben hat uns zugesagt, weil: Hier gibt es alles. Hier gibt es einen Kindergarten, hier gibt es eine Schule, hier gibt es Ärzte, hier gibt es Einkaufsmöglichkeiten, eine Sparkasse – also alles da, was man im normalen Leben baucht. Das hat alles zugespielt, sonst wären wir nicht hier gelandet."
Uwe Struck geht nach Ausflügen in diverse Branchen inzwischen wieder seiner ursprünglichen Tätigkeit als Fensterbauer nach. Auch seine Frau Annika hat eine Arbeit gefunden – allerdings in Weimar: "Ich fahre jeden Tag 140 Kilometer. Durch die Autobahn geht es relativ zügig, also Hin- und Rückfahrt jeweils eine Dreiviertelstunde, das ist ok. Auch mit dem Kind ist alles vereinbar dank Kindergarten und den Großeltern."
Rückwanderung gibt es überall, im Osten wie im Westen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Aber es gilt auch: Wer weg ist, bleibt meist weg. Denn wer an neuem Ort Beruf, Familie und einen Freundeskreis gefunden hat, kehrt nur selten wieder in die Gegend zurück, in der er aufgewachsen ist. Vor allem dann, wenn sich die dort seine Lebensbedingungen verschlechtern und für die gleiche Arbeit deutlich weniger gezahlt wird. Laut Ostdeutschlandbericht des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle lag der durchschnittliche Monatsbruttoverdienst 2017 im Osten bei 2690 Euro, im Westen bei 3330.
Erfolgsgeschichten lauter erzählen
Prämien, Newsletter an die abgewanderten "Landeskinder": Inzwischen wird heftig die Werbetrommel gerührt, damit Menschen wieder in die ostdeutschen Bundesländer zurückzukehren. Dass viele Firmen dringend Mitarbeiter oder am besten gleich neue Inhaber suchen, weiß auch Andrea Steinert aus dem Erzgebirge:
"25.000 Unternehmen in Sachsen haben keinen Nachfolger, das ist ein großes Manko, und wir sind glücklich über jeden, der bereit ist, zurückzukommen und Verantwortung zu übernehmen. Wir sind absolut in Fahrt und entwickeln uns immer weiter. Und wir haben dazu eine unglaubliche Immobiliensituation."
Damit fehlende Fachkräfte zurückkommen, müssen die Geschichten von erfolgreichen Rückkehrern lauter erzählt werden, glaubt die Designerin. In schön gestalteten Büchern hat sie die Biografien von Rückkehrern nach Sachsen gesammelt: Zum Beispiel die einer Frau, die als Fachärztin von Zürich zurück nach Chemnitz zog um dort den Traum vom eigenen Haus zu verwirklichen. Oder die eines Theologen, der zwischen der sächsischen Provinz und New York pendelt und dort Geschäfte mit erlesenen Rasierpinseln aus dem Erzgebirge beliefert.
Fünf Bände, so Andrea Steinert, sind inzwischen erschienen: "Wir sind jetzt ungefähr bei 200 Biografien von Rückkehrern und auch Leuten, die aus den alten Bundesländern hierhergezogen sind und Firmen übernommen haben. Es ist ein Stückweit auch Selbstbewusstsein für Unternehmer in Sachsen herzustellen. Deshalb versuchen wir das so schön wie möglich zu gestalten. Und es ist auch, weil die Biografien so schön sind."
Auch wenn vieles noch abschrecken mag: Irgendwann könnten die sogenannten "abgehängten" Regionen neue Chancen bieten. Von politischer Seite sind mehr Investitionen in die Infrastruktur sowie Maßnahmen zu Gehaltsangleichungen wünschenswert. Andrea Steinert und andere Rückkehrer jedenfalls zeigen: Es gibt viel Potenzial. Und ein Netzwerk, das hilft.