Wir haben nicht ein Problem mit den anderen, sondern ein Problem mit uns selber.
Christentum im Wandel
Muss man mögen: Ein überlebensgroßer Donald Trump aus Pappe beim Sturm aufs Kapitol Anfang 2021. © imago / Nordphoto
Rückzug oder Kreuzzug?
12:48 Minuten
Wer ist schuld am eigenen Leid? Ich selbst oder "die anderen"? Wir müssen aushalten, dass wir in einer Welt leben und doch so verschieden sind, sagt der Religionswissenschaftler Michael Blume. Für Glauben und Religion hat diese Erkenntnis Folgen.
Nach einem Band zum Islam und einem zu Antisemitismus befasst sich der Religionswissenschaftler Michael Blume nun im dritten Band einer Trilogie mit dem Christentum. Und der Erkenntnis, dass die blutige Bruchlinie mit Anschlägen und Attentaten weniger ein religiöses Phänomen ist.
Sie verlaufe vielmehr durch die Kulturen, betont er. Jitzchak Rabin etwa sei von jüdischem Extremisten ermordet worden, in der islamischen Welt gebe es heftige Kämpfe zwischen radikalen Islamisten und gemäßigten Muslimen, zwischen Sunniten und Schiiten.
Die Impfdiskussion in Deutschland ziehe sich quer durch Kirchen, quer durch Weltanschauungen, quer durch Familien. Michael Blume schließt daraus:
Dahinter steckten zwei unterschiedlichen Weltanschauungen, "Lesarten der Welt", wie er sagt, nämlich Monismus versus Dualismus.
Eine Erklärung für fast alles
Das „Wir gegen die“ des Dualismus bedeute: "Ich akzeptiere meine Ängste und Unsicherheiten nicht, sondern spalte sie ab und werfe sie auf die anderen.“
Die "anderen" seien dann an allem schuld: die Muslime, die Migranten, die Juden, die Pharma-Lobby. So könne man "alle Ängste von sich abspalten und sie auf vermeintliche Weltverschwörer werfen".
Das fühle sich erst mal gut an, man habe eine Erklärung für vermeintlich alles.
Auch könne man sich mit anderen auf Basis des gemeinsamen Feindbildes zusammenschließen. Das könne bis zu Gewalt und Terror gehen, aber "es löst keine Probleme, denn die Welt ist nicht so", sagt Blume.
Monismus dagegen bedeute "aushalten, dass wir in einer Welt leben und dass wir verschieden sind." Das sei die viel schwerere Haltung, "aber ich glaube, das ist die vernünftigere, die weisere Haltung."
Die Auseinandersetzung zwischen Monismus und Dualismus finde nicht nur im Islam statt, im Hinduismus oder Judentum. „Sie findet auch mitten in Europa und mitten in den christlichen und in den nicht-religiösen Milieus statt."
Fundamentalismus kommt aus dem Christentum
Fraglich sei, wie die christliche Kirche mit dieser Herausforderung umgehe: Mit Rückzug oder Kreuzzug? Die Frage habe er im ersten Band der Trilogie auch dem Islam gestellt, sagt Blume.
Rückzug oder Kreuzzug seien gleichermaßen "gefährliche Wege". Sowohl der Rückzug, bei dem Glaube nur noch Privatsache ist, als auch der Kreuzzug, der bedeuten könne: Ich will diese unangenehmen Wahrheiten nicht mehr haben.
Dem Religionswissenschaftler Blume ist es wichtig, dass wir "die Vielfalt der Phänomene" entdecken, wie er es formuliert. Fundamentalismus etwa entstamme dem evangelischen Christentum, er sei ursprünglich eine Strömung des Protestantismus gewesen mit dem Anspruch:
"Wir haben die 'fundamentals', wir haben jetzt festgelegt, was nie mehr geändert werden darf." Nach diesem Glauben sei die Evolutionstheorie falsch, Frauen und Männer seien nicht gleichberechtigt.
Medien verändern unsere Wahrnehmung
Die Gesellschaft zerreiße, zunehmend würden Extrempositionen eingenommen, beschleunigt durch das Internet. "Es wird immer schwieriger, die vernünftige Mitte durchzuhalten", meint Blume. Das sei in der Geschichte bei Einführung neuer Medien oft so gewesen.
Man müsse von der Vorstellung wegkommen, die Menschheit werde immer säkularer und vernünftiger. „Es ist viel, viel komplexer, unsere Emotionen verschwinden nicht.“
Die Amtseinführung Barack Obamas etwa sei für viele "ein riesiges religiöses Ereignis" gewesen, viele hätten in Obama einen Heilsbringer gesehen, "später die anderen in Donald Trump".
Blume ist fasziniert davon, wie Medien unsere Wahrnehmung verändern:
Wir nehmen große Teile der Welt durch Medien wahr, aber vergessen das oft.
Wir seien Menschen wie unsere Vorfahrinnen und Vorfahren. Was uns unterscheide, sei der Medienkonsum. „Wir sollten uns über die Macht der Medien und die Macht der Mythen und Traditionen sehr, sehr viel klarer werden.“
Das entspannte Verhältnis zum Glauben
Blumes Buch endet verblüffend optimistisch. Das liege daran, wie wir glauben, so der Autor: „Auch der Atheismus ist bei uns zutiefst christlich geprägt."
Hierzulande komme es immer darauf an, richtig zu glauben – beziehungsweise richtig nicht zu glauben. Religion könne aber auch anders sein. Einstein etwa habe sich eher zur Tradition des Judentums bekannt als jedes Detail geglaubt.
Das passiere gerade auch im Christentum, glaubt Blume: "Es entsteht ein Kulturchristentum, das selbstverständlich wird."
Es mache Hoffnung, "dass sich gute Gedanken immer wieder durchgesetzt haben" - selbst dann, wenn die Wurzeln vergessen worden seien.
Michael Blume: "Rückzug oder Kreuzzug?"
Die Krise des Christentums und die Gefahr des Fundamentalismus
Patmos, Ostfildern 2021
176 Seiten, 19 Euro