Während in Seminarräumen über die richtige Form des Genderns debattiert wird, herrscht auf der Straße ein eklatanter Mangel an Umgangsformen, beobachtet der Autor Konstantin Sakkas. Er fordert: Ellbogen einfahren, Rücksicht nehmen!
Ein bekannter deutscher Benimmexperte hat einmal auf die Frage, worin Höflichkeit besteht, knapp geantwortet: im „Après vous“, also: im schlichten „Nach Ihnen“.
Wer heute in deutschen Großstädten, insbesondere natürlich im notorisch raubeinigen Berlin, unterwegs ist, wird dort wenig vom „Après vous“ finden. Es herrscht eine schier grenzenlose latente und offene Aggressivität und Rücksichtslosigkeit auf den Straßen – und noch mehr: Es herrscht ein völlig unnötiger und deplatzierter Konkurrenzkampf.
Es wird angerempelt und gedrängelt, als befänden sich die Menschen in einer Dystopie, in der nur das Recht des Stärkeren, das Faustrecht den Zugang zu den knappen Ressourcen und damit zum Überleben sichert. Nicht nur das. Die situative Schwäche eines Einzelnen wird oftmals geradezu als Einladung genommen, über ihn oder sie nun erst recht hinüberzutrampeln, sie die eigene räumliche Präsenz auch richtig spüren zu lassen. Was, du musst dir hier gerade die Schuhe binden? Da verpasse ich dir gleich einen Rempler. Selber schuld, du Opfer!
Eklatanter Mangel an Umgangsformen
Offene Rücksichtslosigkeit ist das eine, das andere der eklatante Mangel an Umgangsformen. Viele Menschen wissen schlicht nicht mehr, wie man höflich nach dem Weg fragt oder jemanden um etwas bittet. Ungefragt geduzt wird ohnehin, was das Zeug hält, wobei sich hier insbesondere junge Männer aus sogenannten bildungsfernen Verhältnissen hervortun, die ihr Umfeld oft mit einer unglaublichen Herablassung und Ungeniertheit tyrannisieren.
Überhaupt ist rüpelhaftes Verhalten in der Öffentlichkeit ganz überwiegend ein Problem von Männern. Unsere Gleichstellungsdebatten sind großenteils Mittelschichtdebatten, und zwar Debatten der gebildeten Mittelschicht. Da draußen auf der sogenannten Straße aber ist der alte Machismo sehr präsent, und zwar sowohl bei Geringverdienern im Bus als auch bei Wirtschaftsbürgern in ihren SUVs.
Grundlegende Tugenden fehlen
Jeder Aufenthalt in einer Fußgängerzone oder in einer Charlottenburger Bar straft die schönsten Gesellschaftstheorien über Ungleichheit und Benachteiligung Lügen, denn dort darf man nicht beim Gendern anfangen. Dort muss man bei grundlegenden Tugenden wie Rücksicht, Selbstreflexion und Selbstzurücknahme anfangen: Tugenden, die wohl die meisten Männer heute in Schule oder Elternhaus nicht mehr lernen.
Der Bewusstseinswandel, der in die Gesellschaft getragen werden soll, wird fast nur auf der intellektuellen Ebene verhandelt. Dabei ist die habituelle Ebene genauso wichtig, wenn nicht wichtiger. Es ist nicht falsch, für Sensibilisierung auf der Sprachebene zu sorgen oder gruppenbezogene Diskriminierung zu problematisieren. Aber: Diese Werte müssen richtig vermittelt werden. Um es in soziologischer Sprache zu formulieren: Damit sie resonieren, muss erst einmal ein Resonanzkörper vorhanden sein, ein moralisches Grundgerüst. Aber dieses moralische Grundgerüst muss anerzogen werden.
Sich zurücknehmen, Ellbogen einfahren
In der Realität aber werden insbesondere Männer immer noch in der machiavellistischen Haltung erzogen, dass das Leben ein Kampfplatz sei, in dem man durch List oder Gewalt seine Position behaupten müsse, wolle man nicht untergehen. Daran hat auch ein Wirtschaftssystem, das immer noch auf hierarchischen Strukturen und der Übervorteilung anderer beruht, seinen Anteil. Und so gilt ein allseits beschworener und werbewirksam plakatierter Wert wie Respekt vielen, insbesondere Männern als abstrakter Wert, der in der Welt des Geistes Geltung haben möge – aber die Wirklichkeit, nicht wahr, die sehe ja nun ganz anders aus.
Doch das Leben ist kein Dschungel, die Menschen keine geborenen Egoisten. Der vulgäre Sozialdarwinismus, diese unsägliche heimliche Leitideologie von heute, die einen in jeder Netflixserie, in jedem Blockbuster anspringt, muss heraus aus den Köpfen. Stattdessen bedarf es einer Moral Education, und zwar für alle. Deren Hauptprinzipien heißen: sich zurückzunehmen, zur Seite zu treten, Beine und Ellenbogen einzufahren und vor allem Abstand zu halten, verbal und körperlich.
Konstantin Sakkas, geboren 1982, studierte Philosophie und Geschichte. Er arbeitet als Publizist und Literaturkritiker in Berlin.