Was kommt, wenn der INF-Abrüstungsvertrag gekündigt wird?
Die USA haben angekündigt, den INF-Abrüstungsvertrag mit Russland zu kündigen. Abrüstungs-Experte Oliver Thränert erkennt darin selbst für die USA keinen Vorteil. Er sieht Europa in der Pflicht - denn andere Mächte hätten kaum Interesse am Thema.
Deutschlandfunk Kultur: Über dreißig Jahre war er in Kraft, der Vertrag über den Abbau atomarer Mittelstreckenwaffen. 1987 wurde er von Ronald Reagan und Michael Gorbatschow unterzeichnet. Er war eine der Stützsäulen der europäischen Sicherheitsarchitektur. Nun hat der amerikanische Präsident Trump angekündigt, diesen Vertrag kündigen zu wollen. Abrüstung, Aufrüstung, Bedrohung, Abschreckung, darüber wollen wir in unserem heutigen Tacheles-Gespräch reden, und zwar mit Dr. Oliver Thränert, Leiter des Think Tanks am Center for Security Studies an der ETH Zürich. Guten Tag, Herr Thränert.
Oliver Thränert: Schönen guten Tag, Herr Pindur.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Thränert, bevor wir uns daran machen, die Motive zu sezieren, die hinter dieser Kündigung stehen oder stehen könnten, können Sie vielleicht den Hörern kurz erklären, was in diesem Vertrag steht und warum er eben so wichtig für die europäische Sicherheit ist.
Die Idee des Abrüstens
Oliver Thränert: In diesem Vertrag steht, dass sich die Vereinigten Staaten von Amerika und die damalige Sowjetunion, heute Russische Föderation, darauf geeinigt haben, "für immer", das heißt also, ohne jegliche zeitliche Beschränkung, auf Raketen und Marschflugkörper zu verzichten im Reichweitenspektrum zwischen 500 und 5.500 km.
Der Hintergrund ist gewesen, dass in den 70er Jahren die Sowjetunion gerade in diesem Reichenweitenband mit der sogenannten SS20-Rakete eine enorme nukleare Aufrüstung vollzogen hatte und als Reaktion darauf die Nato mit dem damaligen Nato-Doppelbeschluss vom Dezember 1979 angedroht hatte, im Gegenzug Pershing-II-Raketen und Marschflugkörper in Westeuropa zu stationieren. Diese Stationierung fand dann auch ab 1983 tatsächlich statt.
Aber im Zuge der Verhandlungen wurde sich eben darauf geeinigt, diese Raketen komplett aus dem Verkehr zu ziehen – abzurüsten. Somit hat mal also hier zum ersten Mal, zum einzigen Mal bisher in der Geschichte der nuklearen Abrüstung und Rüstungskontrolle eine gesamte Waffenkategorie vernichtet.
Deutschlandfunk Kultur: Der Hintergrund dieser damaligen Entscheidung war ja, dass man befürchtete, dass die europäische von der amerikanischen Sicherheit abgekoppelt werden könnte, sprich, dass die Europäer erpressbar wären mit einer Waffe, die die Amerikaner nicht bedrohte und somit auch den nuklearen Schutz der Amerikaner in gewisser Weise infrage stellte.
Oliver Thränert: Genau. Das war der Hintergrund. Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte damals vor dem Institut für Internationale Strategische Studien in London eine berühmte Rede genau zu dieser Fragestellung gehalten, wo er argumentiert hatte, dass eben durch diese SS 20-Raketen eine neuartige Bedrohung für Westeuropa entstehe, dass die Sowjetunion die Option bekäme, Westeuropa anzugreifen, ohne Amerika anzugreifen, und die Amerikaner damit also in ein Dilemma geraten würden, wie sie darauf reagieren würden. Denn die Amerikaner hätten dann nur die Chance gehabt, entweder die Sowjetunion gewähren zu lassen, also möglicherweise einen Krieg in und um Europa zu verlieren, oder auf die strategische Ebene zu eskalieren, was bedeutet hätte, dass auch amerikanische Städte dann eben auf der strategischen Stufe von sowjetischen Interkontinentalraketen ins Visier genommen worden wären.
Das bedeutete eben in den Augen von Helmut Schmidt, es drohte die Abkopplung der amerikanischen von der europäischen Sicherheit. Deswegen plädierte er dafür, dem etwas entgegenzusetzen. Und da er aber eben nicht nur ein Aufrüster war, sondern auch ein Rüstungskontrollexperte und -befürworter, hat er sich dafür eingesetzt, dass man zugleich mit der Androhung der Stationierung von amerikanischen Raketen in Europa der Sowjetunion Verhandlungen über diesen Themenkomplex anbot. Das war eigentlich ein sehr revolutionäres politisches Konzept.
Entwicklungen in Russland und der Faktor China
Deutschlandfunk Kultur: Wir springen jetzt dreißig Jahre vor in die Jetztzeit. Wir sind einiges an Erschütterungen und auch Destruktion durch die Trump-Administration ja leider bereits gewöhnt, aber warum kündigt Trump Ihrer Ansicht nach diesen Abrüstungsvertrag? Was sind seine Motive?
Oliver Thränert: Ja, zum einen ist natürlich das Motiv – und das hat auch schon die Obama-Administration umgetrieben, das ist jetzt etwas, das nicht erst von Trump kommt – dass erkennbar Russland sich nicht mehr an diesen Vertrag hält. Die Russen haben einen neuen Marschflugkörper entwickelt und wohl auch an zwei Orten in Russland stationiert, der gegen den INF-Vertrag verstößt, weil er eine Reichweite von mehr als 500 km hat.
So stellt sich natürlich die Frage: Warum soll sich Amerika an ein bilaterales Abkommen halten, das Russland nicht mehr einhält?
Das zweite Argument ist, dass es sich eben um ein bilaterales Abkommen handelt zwischen Russland und Amerika. Das hat damals im Kalten Krieg vor dreißig Jahren durchaus Sinn gemacht, weil das die beiden Hauptprotagonisten damals waren. Mittlerweile hat sich die Welt aber massiv geändert. Die nukleare Landkarte ist heute eine andere. Insbesondere China rüstet nuklear, wenn auch von niedrigem Niveau kommend, auf. Das sieht Amerika auch als Bedrohung an und fühlt sich hier durch den INF-Vertrag gebunden und möchte also sozusagen hier die Fesseln der Rüstungskontrolle sprengen und sich die Option erarbeiten, gegenüber China möglicherweise nukleare Mittelstreckenwaffen ins Spiel zu bringen.
Und dann, bei Trump ist das natürlich immer klar, spielen innenpolitische Motive eine Rolle. Er möchte jetzt – wohl auch im Blick auf die anstehenden Zwischenwahlen im Amerikanischen Kongress – als starker Führer erscheinen, der sich nicht von Russland rumschubsen lässt und der insbesondere in Bezug auf Russland eben auch zeigen will, er ist nicht von Russland abhängig. Er ist nicht von der russischen Unterstützung abhängig, auch wenn es um Wahlen geht. Er kann mit Russland hart umgehen.
Deutschlandfunk Kultur: Viele Experten weisen auch darauf hin, Sie haben das ja gerade angesprochen, dass für Trump und seinen Sicherheitsberater Bolton weniger die unerlaubte Aufrüstung Russlands mit neuen Mittelstreckenraketen und Cruise-Missiles als die chinesische Aufrüstung mit Mittelstreckenraketen entscheidend war.
Denken Sie tatsächlich, dass das eine Schlüsselrolle spielen kann? Wie sehen Sie das?
Oliver Thränert: Einerseits denke ich in der Tat, dass eine der Schwierigkeiten allgemein der nuklearen Abrüstung und Rüstungskontrolle heute darin besteht, dass, wenn wir sie wiederbeleben wollen, und das sollten wir unbedingt, es wahrscheinlich dann wenig Sinn macht, das nur noch auf bilateralen Vertragsebenen zu machen, nur mit Russen und Amerikanern. Weil: Andere nukleare Akteure, nicht nur China, auch Indien und Pakistan, rüsten immer mehr auf und man muss einfach diese neuen nuklearen Akteure auch in die Rüstungskontrolle miteinbeziehen.
Speziell, was China anbelangt: deren Raketenrüstung ist eine Bedrohung beispielsweise für die Südchinesische See, aber auch zum Beispiel für Taiwan und andere amerikanische Verbündete in Asien. Und das völlig in bilateralen Verträgen außer Acht zu lassen, ist aus amerikanischer Perspektive schon nicht besonders sinnvoll.
Bolton wohl kein Rüstungskontroll-Fan
Deutschlandfunk Kultur: Jetzt muss ich nochmal zurückkommen auf die Kündigung oder die angekündigte Kündigung dieses Vertrages. Macht man denn dadurch eine Verhandlungslösung wahrscheinlicher?
Oliver Thränert: In der Hinsicht bin ich, ehrlich gesagt, sehr skeptisch. Die Trump-Administration hat bisher eigentlich wenig Interesse überhaupt an Abrüstung und Rüstungskontrolle gezeigt. In der Nuclear Posture Review, in der Kernwaffendoktrin der Trump-Administration ist deutlich erkennbar, dass der Einfluss des State Departments – und das State Department ist in der Regel für Rüstungskontrolle und entsprechende diplomatische Initiativen verantwortlich – sehr gering ist. Da steht über Rüstungskontrolle so gut wie nichts drin. Und speziell John Bolton, Trumps Sicherheitsberater, ist in der Vergangenheit schon des Öfteren dadurch aufgefallen, dass er sich gegen verschiedene Rüstungskontrollverträge ausgesprochen hat beziehungsweise auch aktiv in seiner Zeit der Bush-Administration dazu beigetragen hat, Rüstungskontrollabkommen zu beenden.
Deswegen habe ich da wenig Hoffnung, dass diese Administration an einer Neuaufstellung der Rüstungskontrolle interessiert ist.
Und die Art und Weise, wie sie jetzt die Kündigung angekündigt haben, trägt auch nicht dazu bei, hier mehr Vertrauen in die Administration hinein zu interpretieren.
Deutschlandfunk Kultur: Das ist alles geschehen, ohne dass man sich mit den engsten Verbündeten vorher beraten hat. Die sind jetzt erst im Nachhinein benachrichtigt worden. Wie deuten Sie diese Missachtung der Nato-Verbündeten durch die USA?
Oliver Thränert: Ich bin mir nicht ganz sicher, ob man von totaler Missachtung sprechen kann. Es hat ja wohl verschiedene Konsultationen auf verschiedenen Ebenen gegeben, in die nicht unbedingt alle Nato-Mitglieder eingebunden gewesen sind, aber jedenfalls die wichtigsten. Also, da hat es schon Vorankündigungen, Gespräche und Informationen gegeben. Aber allgemein ist der Umgang der Trump-Administration mit den Verbündeten in der Tat verbesserungswürdig.
Kernwaffen in Russlands Militärdoktrin
Deutschlandfunk Kultur: Wenn wir jetzt auf diese Mittelstreckenraketen schauen, die in Russland stationiert sind, stellen die eine Bedrohung besonders für die Europäer dar? Oder ist es ein Abschreckungsmittel gegenüber China?
Oliver Thränert: Ich denke, aus russischer Perspektive spielt beides eine Rolle. Wir wissen, dass auch Russland schon seit vielen Jahren mit dem INF-Vertrag unzufrieden ist. Bereits 2007 hat der russische Präsident Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz dieses betont und hat darauf hingewiesen, dass asiatische Nachbarn Russlands, nicht nur China, sondern eben auch Indien, Pakistan und andere, Nordkorea beispielsweise, in diesem Waffenspektrum aufrüsten und dass das mit den nationalen Sicherheitsinteressen Russlands nicht mehr vereinbar ist. Daher denke ich, dass diese Entwicklung und Stationierung neuer Marschflugkörper damit etwas zu tun hat.
Andererseits muss man aber auch sehen, auch was den sogenannten europäischen Schauplatz anbelangt, dass allgemein in der russischen Militärdoktorin Kernwaffen wieder eine größere Rolle zukommt. Kernwaffen und konventionelle Präzisionswaffen werden doktrinär in Russland als eine Einheit betrachtet. Man möchte die Möglichkeit bekommen, wenn es denn notwendig wäre, einen Atomkrieg, auch einen regionalen Atomkrieg zu seinen Gunsten entscheiden zu können. Und diese neuen Marschflugkörper, die dort stationiert werden, könnten in diesem Zusammenhang in der Tat eine Rolle spielen.
Deutschlandfunk Kultur: Wenn man jetzt in dieser Logik bleibt, dann hätten doch auch die Amerikaner hingehen und sagen können, gut, wir stationieren einen oder mehrere Lenkwaffenzerstörer in Japan und Südkorea und haben damit – mit seegestützten Systeme, die ja erlaubt sind laut dieses Vertrages – eine Abschreckungsfunktion erreicht, behalten aber gleichzeitig den Vertrag von 1987 ein.
Warum hat man sich denn dagegen entschieden? Warum hat man an einer Stelle, um in Asien mehr Spielraum zu haben, ein großes Loch in Europa aufgerissen?
Oliver Thränert: Ja, ich habe, ehrlich gesagt, auch das Gefühl, dass hinter dieser angekündigten Kündigung des INF-Vertrages nicht so der ganz große Plan dahinter steht. In der Kernwaffendoktrin, in der Nuclear Posture Review hat ja die Trump-Administration dieses Thema auch schon angeschnitten und zunächst mal in der Tat eine Lösung angeboten, die mit dem INF-Vertrag kompatibel ist, nämlich die Stationierung von seegestützten Marschflugkörpern, darunter auch solche mit sogenannten kleineren nuklearen Sprengköpfen. Das sollte also die Möglichkeit schaffen, die Russen von der Führung eines begrenzten Nuklearkrieges in Europa sozusagen abzuschrecken.
Dass nun die Amerikaner, dass die Trump-Administration nun einen Schritt gegangen ist, der eben dazu führt, dass der INF-Vertrag beerdigt wird, bindet in der Tat die Amerikaner mehr als die Russen. Denn die Russen sind frei, wenn dieser Vertrag nicht mehr existiert, in diesem Waffenbereich wieder nuklear aufzurüsten, während beispielsweise die Nato größte Schwierigkeiten hätte gegenüber ihren eigenen Bevölkerungen, die Stationierung neuer nuklearer Mittelstreckenwaffen zu legitimieren.
Insofern ist das, was Europa anbelangt, sicherlich nur vorteilhaft für Russland. Auch, was Asien anbelangt, sehe ich in der Tat nicht, wo die USA, in welchen Ländern die USA jetzt landgestützte nukleare Mittelstreckenraketen stationieren könnten, es sei denn, auf ihrem eigenen Stützpunkt in Guam.
Der Faktor US-Innenpolitik
Deutschlandfunk Kultur: Guam ist 4.000 km vom chinesischen Festland entfernt. Da würden also Mittelstreckenraketen viel an ihrer Abschreckungsfunktion auch einbüßen. Aber eine Stationierung in Taiwan von atomaren Raketen, die auf China gerichtet sind, oder in Südkorea, das ist ja schlechthin nicht denkbar. Das würde ja eine Situation herauf beschwören, die der der Kuba-Krise ähneln würde.
Oliver Thränert: Ja, das ist so. Man muss zunächst noch als Hintergrund sagen, in der Tat findet eine chinesische Aufrüstung bei ballistischen Raketen statt, die sowohl konventionell als auch nuklear nutzbar sind. Diese Raketen sind mehrheitlich auf Taiwan gerichtet. Und hier ist unter anderem die Zielstellung, dass man die Amerikaner im Falle einer Krise zwischen Festlandchina und Taiwan daran hindern möchte, mit ihren Flugzeugträgergruppen in der Straße von Taiwan aufzukreuzen. Das ist aus amerikanischer Perspektive schon eine signifikante Bedrohung, die auch schon andere Administrationen gesehen haben.
Im Gegenzug nun allerdings nukleare Mittelstreckenraketen zur Abschreckung in Taiwan zu stationieren, würde in der Tat eine massive Krise mit China heraufbeschwören, die kaum politisch zu steuern wäre.
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben jetzt eben gesagt, und da sind Sie sich wohl einig mit dem ehemaligen amerikanischen Botschafter in Deutschland und engem Berater Ronald Reagans, Richard Burt. Sie haben gesagt, dass der einzige, der jetzt unmittelbar von dieser Kündigung des INF-Vertrages profitiert, Putin ist: Russland kann ja jetzt heilfroh sein, dass es die Schuld an der Kündigung dieses Vertrages auf die USA schieben kann und jetzt aber umso ungenierter aufrüsten kann und auch die Europäer damit in eine ziemliche Zwangslage bringen kann.
Warum betreibt Trump in dieser Form das Geschäft Putins? Kann es dafür irgendein valides strategisches Argument geben?
Oliver Thränert: Nein, ein strategisches Argument sehe ich nicht. Ich denke eben, wie schon vorhin gesagt, dass bei Trump innenpolitische Gründe immer eine sehr, sehr große Rolle spielen. Und hier war er wohl auch zudem unter dem Einfluss seines Sicherheitsberaters John Bolton, der eben von Vornherein und immer schon ein konkreter Gegner der Rüstungskontrolle gewesen ist, weil er immer schon das Argument gebracht hat, Rüstungskontrolle bindet die USA und gleichzeitig halten sich aber die anderen Vertragspartner sowieso nicht an die Bestimmungen.
Iran-Deal nach dem Abschied der USA
Deutschlandfunk Kultur: Jetzt schauen wir mal auf ein anderes Feld, auf dem die USA und die Europäer ähnlich auseinander driften. Der deutsche Außenminister Maas hat ja schon gesagt, er sei gegen die Kündigung dieses Vertrages. Er hat bereits in Russland angerufen, bei Putin im Kreml, beim Außenminister Lawrow und darum gebeten, dieses Abkommen aufrecht zu erhalten.
Jetzt gibt’s noch ein anderes Feld, der Iran-Deal, wo sich auch die USA zurückgezogen haben. Der Vertrag würde dem Iran in den nächsten 15 bis 20 Jahren die Entwicklung von Atomwaffen verbieten. Ist das immer noch haltbar, auch ohne die USA? Ich sage das mit Blick auf die amerikanischen Sanktionen, die ja nächste Woche dann in Kraft treten sollen gegenüber dem Iran und ausländischen Firmen, die sich im Iran engagieren?
Oliver Thränert: Ehrlich gesagt, die Sache ist etwas komplizierter, weil auch ohne das Iran-Abkommen, das spezielle Iran-Abkommen, ist ja Iran sowieso Mitglied des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrages. Deswegen darf Iran so oder so völkerrechtlich verbindlich keine Kernwaffen bauen.
Aber was man jetzt in dem speziellen Abkommen 2015 vereinbart hat, ist, dass dem zivilen Nuklearprogramm der Iraner hier insbesondere in Bezug auf die Urananreicherung spezielle Grenzen oder spezielle Limits auferlegt worden sind, die notwendig geworden waren, damit Iran durch diese praktischen Aktivitäten seine Vertragstreue zum Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag unterstreichen würde.
Wenn diese besonderen Limits und wenn diese besonderen, auch damit einherkommenden Inspektionen und vieles andere mehr tatsächlich beendet werden würde, dann würde die Gefahr bestehen, dass Iran sich eben auch im Rahmen des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrages wieder an eine Atomwaffe heran arbeiten würde, so wie sie es in der Vergangenheit vor 2002 mindestens tatsächlich getan haben – oder sogar den Vertrag kündigen würden, so wie das ja Nordkorea gemacht hat. Und das wäre sicherlich eine außerordentlich negative Entwicklung, die es zu verhindern gilt.
Die Europäer versuchen daher trotz der Trumpschen Kündigung, dieses Abkommen aufrecht zu erhalten. Aber es ist außerordentlich fraglich, ob das gelingt. Denn die eigentlichen iranischen wirtschaftlichen Erwartungen sind natürlich insbesondere daran geknüpft, dass sie nicht mehr amerikanischen Sanktionen unterliegen.
INF, Iran und die Nato
Deutschlandfunk Kultur: Genau das ist ja der Punkt. Das heißt, der Iran will einen wirtschaftlichen Nutzen davon haben, dass er sich an diesen Deal hält. Wenn der jetzt aber nicht eintritt, und das ist ja wahrscheinlich, dass die ausländischen Firmen, die sich im Iran engagiert haben oder wollen würden, sich dann für den amerikanischen Markt statt für den iranischen entscheiden. Wenn das also nicht eintritt, dann hat der Iran ja alle Möglichkeiten, auch politisch legitimiert sozusagen, aus diesem Deal auszutreten.
Jetzt wäre das schon der zweite Punkt, wo die Trump-Administration ein Rüstungskontrollabkommen zu Lasten der Europäer aufgegeben hat. Das ist ja eine große Spaltungstendenz, hat ein großes Spaltungspotenzial innerhalb der Nato.
Oliver Thränert: Das sehe ich auch so. In der Tat, sowohl die Kündigung oder angekündigte Kündigung des INF-Vertrages sowie die Kündigung des Iran-Abkommens sind schwere Belastungen für die transatlantischen Beziehungen und stellen große Herausforderungen für die Europäer darf. Die Europäer müssen sich hier sehr genau überlegen, wie sie ihre Prioritäten setzen wollen. In beiden Fällen sind sie natürlich einerseits an der Rüstungskontrolle interessiert. Andererseits müssen sie sich natürlich überlegen, ob sie mit solchen Akteuren wie Russland und China gegen Amerika agieren wollen, ob das im langfristigen Interesse Europas ist. Und das ist eine Fragestellung, die nicht sehr einfach zu beantworten ist.
Europas Nuklearwaffen-Potenzial
Deutschlandfunk Kultur: Es kann aber sein, dass Trump jetzt noch sechs Jahre Präsident ist, falls er wieder gewählt wird. In diesen sechs Jahren müssen die Europäer ja eine Haltung dazu entwickeln. Was sollten sie tun?
Oliver Thränert: Wenn Sie jetzt darauf ansprechen, dass die Frage im Raum steht, ob Europa eine eigene nukleare Abschreckungsfähigkeit entwickeln kann – im Moment sind ja die Europäer, mal abgesehen von dem französischen und britischen Potenzial, total abhängig von dem Verbund mit den Vereinigten Staaten – dann muss ich sagen, dass ich in dieser Hinsicht außerordentlich skeptisch bin. Denn es wäre außerordentlich schwierig, dafür einen politischen Rahmen zu finden.
Im Moment ist der politische Rahmen für diese nukleare Abschreckung die Nato. Die Amerikaner stellen in diesem Konzept, in dem Rahmen ihre eigenen oder einen Teil, einen kleinen Teil ihrer Kernwaffen für Europa bereit. Die sind in fünf europäischen Staaten stationiert. Es gibt die sogenannte nukleare Teilhabe. Das heißt, Europäer stellen die Trägerflugzeuge für den Einsatz dieser Kernwaffen im Krieg zur Verfügung. Es gibt also eine sehr enge nukleare Zusammenarbeit.
Wenn man das jetzt alles in Zukunft rein europäisch buchstabieren wollte, dann könnte man das logischerweise nicht in der Nato machen. Denn die Nato ist eine amerikanisch geführte Allianz. Man müsste sich also überlegen, kann man das im Rahmen der EU machen. Aber auch da ist es ja so, dass erstens die europäischen Staaten in vielen politischen Fragen offenbar außerordentlich getrennte Wege gehen. Gerade zur Frage der Nuklearbewaffnung gibt es sehr unterschiedliche Standpunkte. Da ist einmal die Atomwaffenmacht Frankreich und da ist am anderen Ende des Spektrums ein Land wie Österreich, das sich massiv für ein Kernwaffenverbot und eine entsprechende UN-Kernwaffenverbotskonvention engagiert und das auch schon ratifiziert hat.
Und es stellte sich darüber hinaus die Frage, ob Briten und Franzosen bereit wären, ihre Abschreckungsstreitkräfte auch für andere Europäer zur Verfügung zu stellen beziehungsweise ob die anderen Europäer dann willens und in der Lage wären, sich an einer Finanzierung einer ausgeweiteten britischen und französischen Atomstreitmacht zu beteiligen.
Deutschlandfunk Kultur: Zunächst einmal würden die Deutschen ja im Rahmen der EU zu den Franzosen rüber schauen und sich vielleicht mit Präsident Macron, der ja schon Angebote unterbreitet hat, dann über irgendetwas einigen in der Hinsicht. Ist es ein Versäumnis von Bundeskanzlerin Merkel, dass sie überhaupt noch kein Echo gegeben hat auf dieses weitreichende Entgegenkommen von Macron?
Oliver Thränert: In den konventionellen Bewaffnungen und was die konventionellen Streitkräfte anbelangt, wird ja jetzt auf EU-Ebene einiges angeschoben mit der sogenannten PESCO-Initiative. Im nuklearen Bereich sind diese Diskussionen natürlich wesentlich schwieriger. Und ich sehe, ehrlich gesagt, trotz verschiedener Äußerungen von Präsident Macron nicht, dass Frankreich eine grundsätzliche Kehrtwendung hinsichtlich seiner Nuklearstrategie vollzogen hat.
Im Moment sind die französischen Kernwaffen ausschließlich für die nationale Verteidigung Frankreichs vorgesehen. Das ist eigentlich französische Politik seit vielen Jahrzehnten, seit de Gaulle. Wenn man das ändern wollte, wenn man also sagen würde, wir breiten unseren Nuklearschirm auch auf andere Europäer aus, dann müsste Paris sich schon massiv bewegen. Es würde auch bedeuten, dass Frankreich seine Atomstreitmacht ausweiten müsste.
Französische Nuklear-Garantie?
Deutschlandfunk Kultur: Da könnte man ja drüber reden und sagen, okay, wir beteiligen uns daran, an den Kosten.
Oliver Thränert: Ich wollte gerade sagen, das müssten dann eben andere Europäer mitfinanzieren. Dann wäre eben die Frage, ob man tatsächlich sich auf die Franzosen verlassen würde, so wie man sich in der Vergangenheit auf die Amerikaner verlassen hat. Aber das wäre ein ziemlich langer Prozess, würde ich sagen.
Deutschlandfunk Kultur: Das eine ist eine Funktion des anderen. Wenn man sich auf die Amerikaner nicht mehr verlassen kann, so wie man es mal gekonnt hat, dann wird man sich doch aber einen anderen Partner suchen müssen.
Es gibt ja ein historisches Präzedens. Anfang der 90er Jahre hat Präsident Mitterand einmal eine französische Nuklear-Garantie für Deutschland ins Spiel gebracht. Die damalige Bundesregierung ist darauf nicht eingegangen, weil sie genau die Kopplung an die USA nicht gefährden wollte. Ist da nicht vielleicht mehr Spielraum und wird es nicht aufgrund der Umstände, denen sich jetzt die Europäer gegenüber sehen, einfach immer dringlicher?
Oliver Thränert: Das mag sein. Das hängt sehr stark davon ab, wie sich die Dinge in den USA entwickeln. Politisch, sozusagen handwerklich, ist es außerordentlich schwierig, hier die Sequenzierung zu vollziehen. Das heißt: Welche Schritte will man wann gehen? Will man auf die Franzosen zu gehen und hier gleichzeitig etwas initiieren, bevor man weiß, ob das auch wirklich funktioniert, und mit einem solchen Schritt dann die Amerikaner endgültig verprellen? Oder will man mit einem solchen Schritt, auf Frankreich zuzugehen, noch abwarten in der Hoffnung, dass sich die Beziehungen zu Amerika wieder verbessern?
Atombewaffnung für Deutschland?
Deutschlandfunk Kultur: Wir sprechen natürlich in der Irrealis hier die ganze Zeit, weil wir einfach Neuland betreten, das wir bisher noch nicht hatten. Die Situation schien uns sehr gefestigt, was Rüstungskontrolle in Europa anbelangt.
Jetzt gibt’s tatsächlich eine marginale, eine sehr zaghafte Debatte darüber, ob Deutschland selber Atomwaffen anstreben sollte, wenn der amerikanische Nuklearschild unglaubwürdig würde und man sich sicherheitspolitisch von den USA abkoppeln würde beziehungsweise die USA von den Europäern und Deutschland. Halten Sie das für eine realistische Option?
Oliver Thränert: Das halte ich für einen kompletten Irrweg – aus verschiedenen Gründen. Das eine ist: Wenn Deutschland Atomwaffen entwickelt, dann ist das das Ende des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrages. Deutschland ist hier ein wichtiges Mitglied. Wenn Deutschland aus diesem Vertrag aussteigt, und als Mitglied hat es ja völkerrechtlich verbindlich für immer auf Kernwaffen verzichtet, dann ist das natürlich das Signal an andere Mächte, an Iran, an Saudi Arabien, an die Türkei, an Ägypten und viele andere mehr, ebenfalls diesen Vertrag zu verlassen. Das würde bedeuten, dass wir eine ungeheure nukleare Proliferations-Dynamik sehen würden. Und das ist überhaupt nicht im europäischen oder im deutschen Interesse, dass wir eine nukleare Aufrüstung mit verschiedenen Akteuren im Nahen und Mittleren Osten sehen.
Das Zweite ist: Ich kenne eigentlich kein europäisches Land, das es befürworten würde, dass Deutschland Atomwaffen bekommt. Das heißt also, das ist ein Sprengsatz auch für den gesamten, ohnehin schon in einer tiefen Krise befindlichen Prozess der Europäischen Union.
Und das Dritte ist, dass natürlich innenpolitisch ein solches Kernwaffenprojekt enorm umstritten wäre und zu einer enormen Polarisierung nochmal innenpolitisch führen würde, so dass man also auch von dem her einen sehr hohen Preis als Deutschland bezahlen würde, wenn man so etwas durchziehen möchte.
Die Zukunft von Rüstungskontrolle
Deutschlandfunk Kultur: Herr Thränert, Sie beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit Rüstungskontrolle. Putin ist kein vertrauenswürdiger sicherheitspolitischer Partner. Er hat ja, was diese Mittelstreckenwaffen anbelangt, massiv gelogen bis jetzt. Die USA entfernen sich immer mehr von Europa. Sicherheitsberater Bolton ist Rüstungskontrolle und alles, was die USA an multilaterale Abkommen und Verbündete bindet, ein Gräuel. Wie kann da eigentlich die Zukunft von Rüstungskontrolle noch aussehen?
Oliver Thränert: Ja, das ist jetzt natürlich die Mehrere-Millionen-Dollar-Frage, die ich nicht in Kürze beantworten kann. Ich bitte da um Verständnis. Ich kann nur sagen: Zunächst mal muss man das, was man an Verträgen hat, also zum Beispiel den Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag, versuchen zu erhalten und nicht durch nicht bis zum Schluss überlegte Diskussionen, wie um eine deutsche Atombewaffnung, gefährden. Das ist mal der eine Punkt.
Der andere Punkt ist, dass ich grundsätzlich der Meinung bin, da es so ist, dass weder Russen, noch Amerikaner, noch Chinesen oder andere an der Rüstungskontrolle derzeit viel Interesse haben, müssen Initiativen von den Europäern kommen. Da ist auch Deutschland in der Pflicht.
Deutschlandfunk Kultur: Tut die Bundesregierung da genug?
Oliver Thränert: Nein, die Bundesregierung muss mehr dafür tun, dass die Rüstungskontrolle eben nicht ein Ziel an und für sich ist, sondern sie muss Rüstungskontrolle in strategisches Denken besser integrieren und in strategisches Handeln. Hier gilt es, mit den Franzosen und den Briten einen engeren Kontakt zu pflegen.
Und man darf dann auch nicht immer wieder betonen, dass es letztlich um die völlige Abschaffung aller Atomwaffen geht. Das mag ein Fernziel sein, aber es sind Äußerungen, die Franzosen und Briten eher verschrecken. Man muss den ganzen Diskurs eher in strategische Kontexte stellen und dann versuchen, Initiativen zu ergreifen, um nukleare Rüstungskontrolle wieder zu beleben. Das ist ein hehres und hohes Ziel. Ich weiß, dass der Handlungsspielraum der Deutschen da nicht besonders groß ist, aber man sollte sich in der Richtung zumindest Gedanken machen.
Deutschlandfunk Kultur: Rüstungskontrolle nicht als Selbstzweck, sondern als strategisches Instrument. Könnten Sie nochmal konkretisieren, was Sie damit genau meinen?
Oliver Thränert: Bei der nuklearen Rüstungskontrolle geht es ja darum, dass man den Einsatz von Atomwaffen vor allen Dingen auch in Krisenzeiten möglichst ausschließt. Das Stichwort der sogenannten nuklearen Zweitschlagfähigkeit hat ja immer wieder eine große Rolle gespielt. Dahinter steht sozusagen die revolutionäre Einsicht der Rüstungskontrolle, dass man bei allen eigenen Rüstungsanstrengungen die Sicherheitsinteressen der Gegenseite immer mit bedenken muss.
Also: In der Vergangenheit sind ja Kriege oft geführt worden und zumindest im vornuklearen Zeitalter war die Hauptaufgabe des Militärs sich zu überlegen, wie können wir den nächsten Krieg gewinnen. Und dann hat man gesagt: Heutzutage, im Nuklearzeitalter kommt es darauf an, Kriege zu verhindern, und dass es die Aufgabe der Rüstungskontrolle ist, die Rüstungen so zu steuern, dass auch in Krisenzeiten keine Seite unter einen Eskalationsdruck gerät.
In den 70er-, 80er-Jahren gab es da einige Fortschritte, aber leider ist dieses Denken, ist dieses Handeln bei den Politikern heute nicht mehr präsent.
Deutschlandfunk Kultur: Zusammenfassend: Rücken wir jetzt in ein neues Zeitalter, in dem die Konkurrenz der Großmächte wieder die Linien internationaler Politik bestimmt und so auch wieder ein Wettrüsten wieder möglich ist?
Oliver Thränert: Das ist genau das, was wir sehen. Also, die politischen Konflikte sind zurückgekehrt. Das Ganze, was das Nukleare anbelangt, ist auch noch durch eine Technologiedynamik gefördert. Neue Datenverarbeitungsmöglichkeiten ermöglichen neue Einsatzmöglichkeiten auch von Atomwaffen. Das ist außerordentlich gefährlich.
Die derzeitigen Politiker sehen Atomwaffen als Instrumente der Stärke, nicht als Waffen, die aufgrund ihrer wahnsinnigen Zerstörungswirkung eine gemeinsame Verantwortung erforderlich machen. Und das ist eine in der Tat sehr gefährliche Entwicklung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.