"Ruhiges Auftreten wirkt deeskalierend"
Ein bayerischer Tourist hat dem Opfer von zwei U-Bahn-Schlägern in Berlin durch seinen sofortigen Einsatz vermutlich das Leben gerettet. Der Politologe Hans-Gerd Jaschke hält die Mobilisierung anderer Beteiligter aber im Prinzip für das bessere Konzept.
Stephan Karkowsky: Die deutsche Volksseele kocht hoch, weil die Polizei die beiden brutalen U-Bahn-Schläger vom U-Bahnhof Berlin-Friedrichstraße freilassen musste. Der eine ist 18, deutscher Gymnasiast, passt also nicht ins Vorurteilsraster – kein Migrationshintergrund, vor allem aber nicht vorbestraft, geständig – und er hat sich selbst gestellt, und deshalb bekam er Haftverschonung. Für seinen Komplizen gab es nicht mal einen Haftbefehl, obwohl der einem mutigen Zeugen ins Kreuz trat und zu Fall brachte. Der Zeuge wollte den Schläger aufhalten und hat dem Opfer durch seine Zivilcourage vermutlich das Leben gerettet. Andere schauten einfach nur zu – wie so oft.
Warum einer half, aber keiner dem Helfer zu Hilfe eilte, darüber möchte ich mit Professor Hans-Gerd Jaschke sprechen. Jaschke ist Politologe an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Er beschäftigt sich mit der Frage: Was hält unsere Gesellschaft zusammen? Guten Morgen, Herr Jaschke!
Hans-Gerd Jaschke: Guten Morgen!
Karkowsky: Was unterscheidet denn einen Helfer, wie in diesem Fall diesen 21 Jahre alten bayerischen Touristen, der sich getraut hat, von denen, die schocksteif dasitzen und sich nicht rühren können?
Jaschke: Ich glaube, weder der Tourist noch die anderen sind nach Plan vorgegangen, sondern beide haben situativ reagiert. Das heißt, sie haben innerhalb von wenigen Bruchteilen einer Sekunde entscheiden müssen, was sie jetzt tun. Was sie in dem Augenblick getan haben, ist so eine Art blitzschnelle Risikoabwägung, nämlich ein Check des Risikos, das ich eingehe, wenn ich jetzt etwas tue. Wie hoch ist das Risiko? Das muss man einschätzen, und die Zeit ist dafür äußerst knapp.
Karkowsky: Und das Interessante ist – das sagt ja auch tatsächlich der Zeuge, der eingegriffen hat, er sagt: Wenn ich über die möglichen Folgen für mich selbst erst mal nachgedacht hätte, dann hätte ich es womöglich gar nicht getan. Ist dann Zivilcourage in den meisten Fällen unüberlegtes Reflexhandeln?
Jaschke: Mit dem Begriff Zivilcourage verbinden wir ja eigentlich etwas anderes und noch mehr als eine sagen wir mal persönliche Risikoabwägung. Mit Zivilcourage verbinden wir ja doch auch das Engagement, auch das dauerhafte Engagement für bestimmte Werte dieser Gesellschaft. Typischerweise Menschenrechte etwa, Einhaltung von Menschenrechten gegen den Widerstand etwa von Autoritäten oder des Staates. Zivilcourage meint eigentlich nicht situativ bedingtes Handeln innerhalb weniger Sekunden, sondern es meint eigentlich ein dauerhaftes Engagement über zumindest Wochen, Monate – etwa der Widerstand in Diktaturen, klassischer Fall von Zivilcourage. Wir haben es in der U-Bahn mehr zu tun mit Risikoabwägungen, die ein jeder von uns ständig treffen muss, weil wir alle Risiken eingehen jeden Tag. Sobald wir aus dem Haus gehen, Auto fahren, gehen wir ein gewisses Risiko ein, und wir schätzen ab, ist das Risiko es wert, dass ich das tue.
Karkowsky: Nun ist Zivilcourage – lassen Sie uns bei dem Thema noch ein bisschen bleiben – ein hohes Gut. Wer sie ausübt, genießt in der Gesellschaft ein hohes Ansehen. Häufig aber machen Helfer in der Not ja diese Erfahrung, dass sie ganz allein dastehen, sie können sich im Zweifel nicht auf die Hilfe anderer verlassen – so soll es ja wohl auch in diesem Fall gewesen sein –, etwa dann, wenn sie vom Helfer selbst zum Opfer werden. Was könnte ich tun? Müsste ich als Helfer nicht zunächst andere motivieren, bevor ich mich selbst aktiviere, andere motivieren, die mir beistehen, bevor ich eingreife?
Jaschke: Das wiederum ist situationsabhängig. Richtig ist – und das sagen uns alle polizeilichen Berater, Trainer und andere – etwa in S-Bahnen, in U-Bahnen, in öffentlichen Verkehrsmitteln, wenn es dort zu Schlägereien kommt, zu Gewalt, dann sind wir alle gut beraten, andere um Hilfe zu bitten, andere zu mobilisieren. Also gar nicht selber einzugreifen, mit oder ohne Waffen, sondern andere zu mobilisieren. Das ist richtig. Lassen Sie mich noch eine Anmerkung machen zur Rolle von Zivilcourage in solchen Situationen: Wir haben alle unterschiedliche Erfahrungen darüber, ob wir für bestimmte Werte einstehen sollen, aktiv im Alltag einstehen sollen. Das heißt, Gewaltfreiheit kann ein solcher Wert sein im Alltag, oder längerfristig gesehen, Eintreten für Menschenrechte, für ein friedliches Miteinander und so weiter. Ich denke, Menschen, die das gelernt haben und diese Werte sehr stark internalisiert haben, sind eher bereit, richtig zu handeln oder kommen mit einer richtigen Prädisposition als solche Menschen, die sehr viel stärker egozentriert handeln. Also nutzenorientiert, utilitaristisch halt.
Karkowsky: Ist das so? Ich meine, wenn zum Beispiel einer meiner Werte die Gewaltfreiheit ist, ist es dann nicht so, dass ich mich eher nicht einmische in solche Konflikte, weil ich ja dann Teil von Gewalthandlungen werde?
Jaschke: Nein, bei der Gewaltfreiheit ist es doch eher so, dass das Mobilisieren anderer, etwa in der S-Bahn, dazu beiträgt, dass wir zu fünft, zu siebt, zu zehnt sind und allein durch die Menge der Personen andere davon abhalten können, gewalttätig zu werden. Die Erfahrung bestätigt das übrigens.
Karkowsky: Womöglich ist es dann aber schon zu spät. Dieser Helfer hat ja wirklich reflexhaft gehandelt, weil er gesehen hat, der stirbt sonst, der da am Boden liegt.
Jaschke: Das ist natürlich richtig. Es ist ein Unterschied, ob man mobilisieren kann, andere mobilisieren kann, in einem geschlossenen Wagen wie der S-Bahn, oder nachts um halb vier in einer U-Bahn-Station relativ alleine ist und vereinzelte Andere da sind oder ich damit zu rechnen habe, es sind vereinzelt Andere da, aber es ist keine Menge da, die ich mobilisieren kann. Dann ist in der Tat die Kernentscheidung: Wie handele ich selbst, was mache ich? Greife ich ins Geschehen ein oder greife ich zum Mobiltelefon – sofern das geht in der U-Bahn – oder renne ich weg, um Hilfe zu holen, das wäre auch eine Alternative. Ich denke, das ist sehr, sehr situationsabhängig und sehr von unseren spontanen Empfindlichkeiten, Gefühlen, die einem durch den Kopf gehen.
Karkowsky: Nach dem brutalen Überfall im U-Bahnhof Berlin-Friedrichstraße reden wir mit dem Berliner Politologen Hans-Gerd Jaschke über Zivilcourage in Deutschland. Herr Jaschke, haben Sie eigentlich einen Überblick darüber, wie es in anderen Gesellschaften aussieht, also zum Beispiel in den USA, wo ja auf der einen Seite Gewalt viel stärker verbreitet ist, wo aber auch die Polizei einen härteren Ruf hat – helfen die Menschen da schneller?
Jaschke: Wir haben Studien über die sogenannte Civic Culture, die Zivilkultur der Gesellschaften, und die ist in der Tat unterschiedlich. In den Vereinigten Staaten ist es so, dass in der Tat Solidarität im Alltag stärker ausgeprägt ist, aus historischen Gründen. Das ist eine Siedlungsgesellschaft, Siedlergesellschaft, die ohne den Staat Jahre und Jahrzehnte lang irgendwie sich zurechtfinden musste, man konnte nicht auf Hilfe vom Staat rechnen. Und das spielt bis heute in der Civic Culture der Vereinigten Staaten eine wichtige Rolle. Auch übrigens die Skepsis gegenüber dem Staat und der Politik. Insofern ist das anders von Gesellschaft zu Gesellschaft. Das Beispiel verweist aber auch darauf, das kann sehr lange historische Gründe haben, die teilweise 100 Jahre, in den USA sicherlich um die 150 Jahre alt sind.
Karkowsky: Haben Sie denn eine Erklärung für das Verhalten der Deutschen in solchen Fällen?
Jaschke: Nun, es gibt keine eindeutige Erklärung dafür, anzunehmen ist aber, dass wir ja von Anfang an, von Kindesbeinen an darauf trainiert werden, dass wir uns vernünftig verhalten, dass wir unsere eigene Sicherheit im Auge behalten, dass wir rational handeln in dem Sinne: Ich muss meinen eigenen Zweck im Auge behalten, ich muss mich zweckrational verhalten. Das lernen wir in der Schule: Wenn wir Erfolg haben wollen, müssen wir unsere Ellenbogen gebrauchen und so weiter. Das widerspricht natürlich den Tugenden, den bürgerlichen Tugenden würde man sagen: Rücksichtnahme, Eintreten für den anderen, selbstloses Handeln und so weiter. Wir haben Indikatoren dafür – wie ist das etwa mit dem freiwilligen Engagement? Das ist ja selbstloses Handeln.
Karkowsky: Das Ehrenamt?
Jaschke: Ehrenamt – ist in Deutschland eher stagnierend bis rückläufig. Wir haben Unterschiede in Bundesländern, zum Beispiel Brandenburg ist ganz hinten in dieser Tabelle, auf dem vorletzten oder drittletzten Platz. Das hat viele Gründe, aber das sind Indikatoren dafür, etwa das ehrenamtliche Engagement, dass es mit den Tugenden, wie man so schön sagt, nicht allzu weit her ist in Deutschland.
Karkowsky: Auch das "Wie helfe ich richtig?" haben wir schon angesprochen. Diese Frage bringt ja einen mutmaßlichen Helfer womöglich dazu, in so einer Art Entscheidungsnotstand zu verharren. Spricht man nun laut brüllende Gewalttäter in dieser körperlichen Ekstase – dieser Junge hat ja getanzt auf dem U-Bahnhof, nachdem er dem anderen auf den Kopf getreten hat –, spricht man sie ruhig an, versucht die Vernunft zu erreichen nach dem Motto: Du möchtest doch auch nicht, dass dieser Mann stirbt, oder überleg, wie lang du dafür im Gefängnis sitzen müsstest? Oder verstehen solche Gewalttäter selbst nur die Sprache der Gewalt, also lass ihn in Ruhe oder ich hau dir eine rein?
Jaschke: Ich muss Ihnen da als Laie antworten. Ich denke, dass die Gesamtheit des Auftretens hier ausschlaggebend ist, also nicht allein die Wortwahl selbst, sondern die Gesamtheit – also Gestik, Mimik, Blickkontakt, Körperlichkeit. All dies spielt eine Rolle. Wir wissen aus anderen polizeilichen Situationen, wo es um Deeskalationen geht, dass in der Tat ruhiges Auftreten deeskalierend wirkt und nicht das leicht aggressive Auftreten. Wir wissen das aus polizeilichen Handlungszusammenhängen. Ein Polizist, der entschieden auftritt und dabei aber aggressiv wirkt, hat keine deeskalierende Wirkung, während ein Polizeibeamter, der entschieden auftritt, aber ruhig, besonnen, einen besonnenen Eindruck macht, sehr viel größere Erfolge hat.
Karkowsky: Bei mir bleiben Zweifel. Jeder von uns könnte nun Zivilcourage-Kurse belegen, Studien über die Ursachen von Gewalt lesen, Expertenratgeber studieren über das richtige Verhalten in Gewaltsituationen, aber kann uns die Theorie wirklich zu wacheren, schützenderen, couragierteren Menschen machen?
Jaschke: Ich glaube, Theorie kann einen kleinen Beitrag leisten, sicherlich, gerade auch bei jungen Menschen würde ich das nicht unterschätzen. Aber wie wir in der konkreten Situation handeln, hängt, denke ich, von anderen Faktoren ab. Das hängt ab von der augenblicklichen Wahrnehmung der Situation, von der Situationswahrnehmung und -deutung, die sehr schnell ablaufen muss. Es hat zu tun mit unseren Erfahrungen in solchen Situationen – manche von uns haben ähnliche Erfahrungen schon einmal gemacht –, die dann aktualisiert werden. Ich denke nicht, dass die Theorie sich in die Praxis umsetzt. Ich habe gelernt, dass … und jetzt setze ich das um. Die Zeit hat man nicht.
Karkowsky: Ein einsamer Helfer stellt sich zwischen Schläger und Opfer am U-Bahnhof Friedrichstraße und beweist Zivilcourage. Wir sprachen darüber mit dem Berliner Politologen Hand-Gerd Jaschke. Herr Jaschke, vielen Dank!
Jaschke: Bitte schön!
Warum einer half, aber keiner dem Helfer zu Hilfe eilte, darüber möchte ich mit Professor Hans-Gerd Jaschke sprechen. Jaschke ist Politologe an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Er beschäftigt sich mit der Frage: Was hält unsere Gesellschaft zusammen? Guten Morgen, Herr Jaschke!
Hans-Gerd Jaschke: Guten Morgen!
Karkowsky: Was unterscheidet denn einen Helfer, wie in diesem Fall diesen 21 Jahre alten bayerischen Touristen, der sich getraut hat, von denen, die schocksteif dasitzen und sich nicht rühren können?
Jaschke: Ich glaube, weder der Tourist noch die anderen sind nach Plan vorgegangen, sondern beide haben situativ reagiert. Das heißt, sie haben innerhalb von wenigen Bruchteilen einer Sekunde entscheiden müssen, was sie jetzt tun. Was sie in dem Augenblick getan haben, ist so eine Art blitzschnelle Risikoabwägung, nämlich ein Check des Risikos, das ich eingehe, wenn ich jetzt etwas tue. Wie hoch ist das Risiko? Das muss man einschätzen, und die Zeit ist dafür äußerst knapp.
Karkowsky: Und das Interessante ist – das sagt ja auch tatsächlich der Zeuge, der eingegriffen hat, er sagt: Wenn ich über die möglichen Folgen für mich selbst erst mal nachgedacht hätte, dann hätte ich es womöglich gar nicht getan. Ist dann Zivilcourage in den meisten Fällen unüberlegtes Reflexhandeln?
Jaschke: Mit dem Begriff Zivilcourage verbinden wir ja eigentlich etwas anderes und noch mehr als eine sagen wir mal persönliche Risikoabwägung. Mit Zivilcourage verbinden wir ja doch auch das Engagement, auch das dauerhafte Engagement für bestimmte Werte dieser Gesellschaft. Typischerweise Menschenrechte etwa, Einhaltung von Menschenrechten gegen den Widerstand etwa von Autoritäten oder des Staates. Zivilcourage meint eigentlich nicht situativ bedingtes Handeln innerhalb weniger Sekunden, sondern es meint eigentlich ein dauerhaftes Engagement über zumindest Wochen, Monate – etwa der Widerstand in Diktaturen, klassischer Fall von Zivilcourage. Wir haben es in der U-Bahn mehr zu tun mit Risikoabwägungen, die ein jeder von uns ständig treffen muss, weil wir alle Risiken eingehen jeden Tag. Sobald wir aus dem Haus gehen, Auto fahren, gehen wir ein gewisses Risiko ein, und wir schätzen ab, ist das Risiko es wert, dass ich das tue.
Karkowsky: Nun ist Zivilcourage – lassen Sie uns bei dem Thema noch ein bisschen bleiben – ein hohes Gut. Wer sie ausübt, genießt in der Gesellschaft ein hohes Ansehen. Häufig aber machen Helfer in der Not ja diese Erfahrung, dass sie ganz allein dastehen, sie können sich im Zweifel nicht auf die Hilfe anderer verlassen – so soll es ja wohl auch in diesem Fall gewesen sein –, etwa dann, wenn sie vom Helfer selbst zum Opfer werden. Was könnte ich tun? Müsste ich als Helfer nicht zunächst andere motivieren, bevor ich mich selbst aktiviere, andere motivieren, die mir beistehen, bevor ich eingreife?
Jaschke: Das wiederum ist situationsabhängig. Richtig ist – und das sagen uns alle polizeilichen Berater, Trainer und andere – etwa in S-Bahnen, in U-Bahnen, in öffentlichen Verkehrsmitteln, wenn es dort zu Schlägereien kommt, zu Gewalt, dann sind wir alle gut beraten, andere um Hilfe zu bitten, andere zu mobilisieren. Also gar nicht selber einzugreifen, mit oder ohne Waffen, sondern andere zu mobilisieren. Das ist richtig. Lassen Sie mich noch eine Anmerkung machen zur Rolle von Zivilcourage in solchen Situationen: Wir haben alle unterschiedliche Erfahrungen darüber, ob wir für bestimmte Werte einstehen sollen, aktiv im Alltag einstehen sollen. Das heißt, Gewaltfreiheit kann ein solcher Wert sein im Alltag, oder längerfristig gesehen, Eintreten für Menschenrechte, für ein friedliches Miteinander und so weiter. Ich denke, Menschen, die das gelernt haben und diese Werte sehr stark internalisiert haben, sind eher bereit, richtig zu handeln oder kommen mit einer richtigen Prädisposition als solche Menschen, die sehr viel stärker egozentriert handeln. Also nutzenorientiert, utilitaristisch halt.
Karkowsky: Ist das so? Ich meine, wenn zum Beispiel einer meiner Werte die Gewaltfreiheit ist, ist es dann nicht so, dass ich mich eher nicht einmische in solche Konflikte, weil ich ja dann Teil von Gewalthandlungen werde?
Jaschke: Nein, bei der Gewaltfreiheit ist es doch eher so, dass das Mobilisieren anderer, etwa in der S-Bahn, dazu beiträgt, dass wir zu fünft, zu siebt, zu zehnt sind und allein durch die Menge der Personen andere davon abhalten können, gewalttätig zu werden. Die Erfahrung bestätigt das übrigens.
Karkowsky: Womöglich ist es dann aber schon zu spät. Dieser Helfer hat ja wirklich reflexhaft gehandelt, weil er gesehen hat, der stirbt sonst, der da am Boden liegt.
Jaschke: Das ist natürlich richtig. Es ist ein Unterschied, ob man mobilisieren kann, andere mobilisieren kann, in einem geschlossenen Wagen wie der S-Bahn, oder nachts um halb vier in einer U-Bahn-Station relativ alleine ist und vereinzelte Andere da sind oder ich damit zu rechnen habe, es sind vereinzelt Andere da, aber es ist keine Menge da, die ich mobilisieren kann. Dann ist in der Tat die Kernentscheidung: Wie handele ich selbst, was mache ich? Greife ich ins Geschehen ein oder greife ich zum Mobiltelefon – sofern das geht in der U-Bahn – oder renne ich weg, um Hilfe zu holen, das wäre auch eine Alternative. Ich denke, das ist sehr, sehr situationsabhängig und sehr von unseren spontanen Empfindlichkeiten, Gefühlen, die einem durch den Kopf gehen.
Karkowsky: Nach dem brutalen Überfall im U-Bahnhof Berlin-Friedrichstraße reden wir mit dem Berliner Politologen Hans-Gerd Jaschke über Zivilcourage in Deutschland. Herr Jaschke, haben Sie eigentlich einen Überblick darüber, wie es in anderen Gesellschaften aussieht, also zum Beispiel in den USA, wo ja auf der einen Seite Gewalt viel stärker verbreitet ist, wo aber auch die Polizei einen härteren Ruf hat – helfen die Menschen da schneller?
Jaschke: Wir haben Studien über die sogenannte Civic Culture, die Zivilkultur der Gesellschaften, und die ist in der Tat unterschiedlich. In den Vereinigten Staaten ist es so, dass in der Tat Solidarität im Alltag stärker ausgeprägt ist, aus historischen Gründen. Das ist eine Siedlungsgesellschaft, Siedlergesellschaft, die ohne den Staat Jahre und Jahrzehnte lang irgendwie sich zurechtfinden musste, man konnte nicht auf Hilfe vom Staat rechnen. Und das spielt bis heute in der Civic Culture der Vereinigten Staaten eine wichtige Rolle. Auch übrigens die Skepsis gegenüber dem Staat und der Politik. Insofern ist das anders von Gesellschaft zu Gesellschaft. Das Beispiel verweist aber auch darauf, das kann sehr lange historische Gründe haben, die teilweise 100 Jahre, in den USA sicherlich um die 150 Jahre alt sind.
Karkowsky: Haben Sie denn eine Erklärung für das Verhalten der Deutschen in solchen Fällen?
Jaschke: Nun, es gibt keine eindeutige Erklärung dafür, anzunehmen ist aber, dass wir ja von Anfang an, von Kindesbeinen an darauf trainiert werden, dass wir uns vernünftig verhalten, dass wir unsere eigene Sicherheit im Auge behalten, dass wir rational handeln in dem Sinne: Ich muss meinen eigenen Zweck im Auge behalten, ich muss mich zweckrational verhalten. Das lernen wir in der Schule: Wenn wir Erfolg haben wollen, müssen wir unsere Ellenbogen gebrauchen und so weiter. Das widerspricht natürlich den Tugenden, den bürgerlichen Tugenden würde man sagen: Rücksichtnahme, Eintreten für den anderen, selbstloses Handeln und so weiter. Wir haben Indikatoren dafür – wie ist das etwa mit dem freiwilligen Engagement? Das ist ja selbstloses Handeln.
Karkowsky: Das Ehrenamt?
Jaschke: Ehrenamt – ist in Deutschland eher stagnierend bis rückläufig. Wir haben Unterschiede in Bundesländern, zum Beispiel Brandenburg ist ganz hinten in dieser Tabelle, auf dem vorletzten oder drittletzten Platz. Das hat viele Gründe, aber das sind Indikatoren dafür, etwa das ehrenamtliche Engagement, dass es mit den Tugenden, wie man so schön sagt, nicht allzu weit her ist in Deutschland.
Karkowsky: Auch das "Wie helfe ich richtig?" haben wir schon angesprochen. Diese Frage bringt ja einen mutmaßlichen Helfer womöglich dazu, in so einer Art Entscheidungsnotstand zu verharren. Spricht man nun laut brüllende Gewalttäter in dieser körperlichen Ekstase – dieser Junge hat ja getanzt auf dem U-Bahnhof, nachdem er dem anderen auf den Kopf getreten hat –, spricht man sie ruhig an, versucht die Vernunft zu erreichen nach dem Motto: Du möchtest doch auch nicht, dass dieser Mann stirbt, oder überleg, wie lang du dafür im Gefängnis sitzen müsstest? Oder verstehen solche Gewalttäter selbst nur die Sprache der Gewalt, also lass ihn in Ruhe oder ich hau dir eine rein?
Jaschke: Ich muss Ihnen da als Laie antworten. Ich denke, dass die Gesamtheit des Auftretens hier ausschlaggebend ist, also nicht allein die Wortwahl selbst, sondern die Gesamtheit – also Gestik, Mimik, Blickkontakt, Körperlichkeit. All dies spielt eine Rolle. Wir wissen aus anderen polizeilichen Situationen, wo es um Deeskalationen geht, dass in der Tat ruhiges Auftreten deeskalierend wirkt und nicht das leicht aggressive Auftreten. Wir wissen das aus polizeilichen Handlungszusammenhängen. Ein Polizist, der entschieden auftritt und dabei aber aggressiv wirkt, hat keine deeskalierende Wirkung, während ein Polizeibeamter, der entschieden auftritt, aber ruhig, besonnen, einen besonnenen Eindruck macht, sehr viel größere Erfolge hat.
Karkowsky: Bei mir bleiben Zweifel. Jeder von uns könnte nun Zivilcourage-Kurse belegen, Studien über die Ursachen von Gewalt lesen, Expertenratgeber studieren über das richtige Verhalten in Gewaltsituationen, aber kann uns die Theorie wirklich zu wacheren, schützenderen, couragierteren Menschen machen?
Jaschke: Ich glaube, Theorie kann einen kleinen Beitrag leisten, sicherlich, gerade auch bei jungen Menschen würde ich das nicht unterschätzen. Aber wie wir in der konkreten Situation handeln, hängt, denke ich, von anderen Faktoren ab. Das hängt ab von der augenblicklichen Wahrnehmung der Situation, von der Situationswahrnehmung und -deutung, die sehr schnell ablaufen muss. Es hat zu tun mit unseren Erfahrungen in solchen Situationen – manche von uns haben ähnliche Erfahrungen schon einmal gemacht –, die dann aktualisiert werden. Ich denke nicht, dass die Theorie sich in die Praxis umsetzt. Ich habe gelernt, dass … und jetzt setze ich das um. Die Zeit hat man nicht.
Karkowsky: Ein einsamer Helfer stellt sich zwischen Schläger und Opfer am U-Bahnhof Friedrichstraße und beweist Zivilcourage. Wir sprachen darüber mit dem Berliner Politologen Hand-Gerd Jaschke. Herr Jaschke, vielen Dank!
Jaschke: Bitte schön!