Ruhrfestspiele

Wenn der Traum zum Leben wird

Bühnenbild der Uraufführung "Jenny Jannowitz" bei den Ruhrfestspielen.
Bea Brocks, Raphael Traub, Andreas Bißmeier, Rika Weniger, Martina Struppek, Tobias Beyer © Volker Beinhorn
Von Christiane Enkeler |
Der gebürtige Augsburger Michel Decar hat drei Stücke verfasst - und zwei wurden mit dem Kleist-Förderpreis für junge Dramatiker ausgezeichnet. In "Jenny Jannowitz", das bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen uraufgeführt wurde, geht es um die Wundertüte Leben und die Suche nach einem Haltepunkt, wenn Tempo und Orientierungslosigkeit zunehmen.
Jenny Jannowitz in Michel Decars gleichnamigem Stück ist eine Zauberin, die Kartentricks beherrscht, eine magische Figur. Mit einer absurden, poetisch-humorvollen Tragikomödie hat der Mittzwanziger den Kleist-Förderpreis dieses Jahres gewonnen – und damit nicht nur 7.500 Euro, sondern eine Uraufführung bei den Ruhrfestspielen. Das komplette sechsköpfige Ensemble gehört zum Kooperationspartner Staatstheater Braunschweig, das die Inszenierung im Oktober übernehmen wird.
Ein Rädchen im System
Jenny fragt Karlo Kollmar, Hauptfigur des Stücks und Dreh- und Angelpunkt, nach dem Weg mit einer Karte, auf der oben und unten nicht ganz klar sind. Genauso wie Zeit und Ort ständig springen – Karlo schläft immer wieder Monate, aber inzwischen müssen Jahre vergangen sein. Karlo hat einen Chef, einen guten Freund und eine Freundin sowie eine Mutter. Wie Karten in einem Spiel werden sie ständig neu in Beziehung zueinander gesetzt. Wie bei einem einarmigen Banditen verwischen da vor lauter Geschwindigkeit die Konturen und ist Karlo ein Rädchen im System.
Und wie in einer Datenbank (Karlo verwaltet Datenbanken) findet sich Karlo auch schon mal unter „Carlo“ mit „C“, wenn das jemand so will. Die Freundin von Karlo wechselt mitten im Dialog ihren Namen, zum Beispiel von Sybille zu Sabine. Städte und Arbeitsstellen sind austauschbar, Freunde und Kollegen, Feiern und gemeinsame Abende. Gegenstände sprechen poetisches Zeugs und Menschen werden benutzt. Je mehr Osten, desto schneller wieder Westen. Je später, desto früher. Das heißt: In dieser poststrukturalistischen Welt geht alles, was austauschbar scheint, auch wieder ineinander über, "die Welt ist auch nur eine Kugel", wie Karlo sagt. Man weiß gar nicht so genau, wo man den Schnitt machen soll, zwischen den Szenen. Zwischen den Welten, zwischen den Figuren.
Absurde Traumlogik
Das Stück besteht im Grunde genommen aus Mechanismen. Aus Verschiebung, Auslassung, Übersprung und Substitution. Eine absurde Traumlogik, wobei das Erwachen immer nur eines in den nächsten Traum hinein ist. Somit wird der Traum zum Leben. Also besteht das Leben aus diesen Mechanismen. Was ja eine recht simple Erkenntnis ist. Decar dekliniert sie hier durch an den Gegensatzpaaren resp. Komplexen: Privat/Beruf; Freunde/Kollegen; konkrete Städte und rasende Globalisierung. Aber gerade mitten im Komplex kann das Simple ja sehr erhellend sein.
Regisseurin Catja Baumann und ihr spielfreudiges Ensemble konzentrieren sich vor allem aber auf zwei andere Aspekte. Einmal das Rasen der Zeit. Wie ein surrealistischer Chor treten alle zu einem ungeschriebenen Prolog an die Rampe und lassen akustisch die Uhren ticken, bevor Karlo aufwacht und bald darauf Jenny trifft, und die ist "Der Engel des Todes", wie es im Untertitel heißt. Den rasenden Wortfluss hat Catja Baumann sinnfällig rhythmisiert – jeweils kurz vor Karlos Aufwachen lässt sie das Ensemble überdrehen und taucht dann die Jenny-Auftritte in unwirkliches Nachtlicht und in eine Langsamkeit, die sich wohltuend von der absurden Jagd absetzt. Figuren treten nicht ab, sie erstarren oder schlafen einfach ein. Karlo blickt auf sein Leben zurück, zusammen mit Jenny. Auch das könnte das Stück bedeuten.
Und zum Zweiten erzählt das Bühnenbild von Linda Johnke die vielen Perspektivwechsel des Textes, die Dialoge, in denen jede Äußerung anders in den Raum gestellt als aufgenommen wird. Aus ihren drei Regalen, in denen sich die Figuren wie Nippes verstauen können, werden Podeste, Winkel, Pulte und Hocker.
Abstraktes Bühnenbild
In diesem abstrakten Bühnenbild spielen die sechs Darsteller realistische Situationen an dergestalt schnell aufgebauten Stehtischen und Flugzeugen mit Pappmaché-Requisiten. Biergläser, Handtaschen, Telefone, Weihnachtsbaum – alles Pappe. Was sehr gut und humorvoll funktioniert. Nur zu Beginn, als die Darsteller mit vorgehaltenen Sprechblasen zeigen, dass sie nun als "Spiegel" oder "Kleiderhaken" sprechen, wirkt das Ganze ungeschickt – offenbar eine Idee des Autors, mit der hier niemand so richtig etwas anfangen kann und die schließlich auch für den Rest der Inszenierung einfach nicht weiter aufgegriffen wird.
Was sicher die richtige Entscheidung war, um zu einer eigenen, in sich runden und rhythmisch gut strukturierten Inszenierung zu kommen und um noch viele Entdeckungen – andere Motive und Strukturelemente in dem kunstvoll komponierten Textwerk von Michel Decar – für weitere, sehr eigene Inszenierungen übrig zu lassen.