Ruhrgebiet - die Kulturhauptstadt Europas

Von Eberhard Straub · 07.01.2010
Mit einer gewissen Bangigkeit bin ich durch Ihre Industriegebiete gefahren und habe mir vorzustellen gesucht, ob die drohende, unsaubere Monumentalität dieser Welt ein bedeutendes Wollen wohl dauernd anzuziehen vermöchte". Das schrieb im August 1907 der Kunsthistoriker Karl Scheffler an einen der Direktoren im Kruppschen Werk, an Eberhard von Bodenhausen. Diesen Förderer zahlloser Künstler schreckte die industrielle Welt in keiner Weise.
Ihm ging es auch um ästhetische Erziehung, also die Industriegesellschaft mit der bürgerlichen Idee der Humanisierung durch das Schöne zu durchdringen. Bodenhausen wollte "frei von diesem elenden Geld" werden, indem er sich sittlich - schönen Aufgaben zuwandte. Mit dem Bekenntnis zu einem Reich der Freiheit, das überhaupt erst die Arbeitswelt mit ihren Zwängen entschuldigen konnte, resümierte er die Skrupel vieler Industrieller.

Die Gründerzeit zwischen 1871 und 1914 war eine Epoche dramatischen wirtschaftlichen Aufschwungs. Es war aber auch, gerade im Ruhrgebiet, eine Gründerzeit der Museen, Theater, Orchester, Bibliotheken und Volkshochschulen, eine Zeit der Volksbildung im umfassendsten Sinne.

Das Ruhrgebiet, die Werkbank des Deutschen Reiches, wurde hineingerissen in die geistige Erneuerung, die mit den wirtschaftlichen Energien verbunden waren. Die Neuzeit zu Beginn des 20.Jahrhunderts verlangte nach neuer geistig - künstlerischer Legitimierung aus dem stets im Wandel begriffenen Geist der immer veränderlichen Moderne.

Das meinte unter anderem, Arbeit und Kunst miteinander zu versöhnen und auch den Besitzlosen Bürgerrechte im Reich der Bildung zuzugestehen oder ihnen Geschmack am Schönen beizubringen über ihre unmittelbare Umwelt, über die Verschönerung ihrer Städte. Das Ruhrgebiet wurde zu einer typischen Region des sozial - ästhetischen Wilhelminismus. Der Kaiser kam, sah und siegte.

Er begeisterte, weil er vom Lärm, den die Maschinen machten, begeistert war in der Absicht, Deutschland herrlichen Zeiten entgegen zu führen. "Wilhelminisch" ist ein Sammelbegriff für alle möglichen Stile, von der Bahnhofsrenaissance über staufisch - romanische Rathäuser bis zur zweckgebundenen Romantik von Fabrikanlagen und Zechen. Auch der Historismus, das freie Spiel mit Formen der Vergangenheit war einmal ganz modern.

Man hatte es in kürzester Zeit herrlich weit gebracht und hoffte ununterbrochen immer schneller, immer weiter zu kommen. Das Spiel mit Erinnerungen sollte während der rastlosen Selbstüberholungen der Industriekultur diese dennoch im Zusammenhang mit einer langen Kulturgeschichte halten. Unübersehbar waren mit Domen, Burgruinen, Schlössern und zu ihnen gehörenden Parkanlagen die Zeugnisse der beiden Mächte, die über fast tausend Jahre die Landschaft und ihre Leute kultiviert hatten: Adel und Kirche.

Beide wiesen auf die Zeiten vor der industriellen Revolution. Ihnen traten nach dem Humanismus und der Reformation Besitz - und Bildungsbürger zur Seite. Das Ruhrgebiet war ein Paradies innerhalb der deutschen Kleinstaatsterei. Hier lag eine freie Reichstadt, dicht daneben waltete der Krummstab des Bischofs, unfern gebot ein kleiner Dynast.

Daran änderte sich auch nach 1815 nichts als das gesamte Ruhrgebiet zu Preußen kam. Denn die preußische Verwaltung behandelte den Raum nicht als eine Einheit. Sie ließ die lokalen Temperamente gewähren, ohne deren miteinander konkurrierenden Eifer auf übergeordnete, gemeinsame Ziele zu koordinieren.

Bei diesem fortwährenden Durchwursteln ehrgeiziger Kommunen blieb es bis heute. Von der Masse her nur mit Moskau zu vergleichen, wird allerdings nach neuen Strukturen in einem unübersichtlichen Großraum verlangt Sie könnten auch die wirtschaftliche Umstrukturierung beschleunigen. Opern, Theater oder Museen gehören zu den Standortvorzügen, die auch im wirtschaftlichen Kalkül eine Rolle spielen.

Im Ruhrgebiet gibt es auf einer Fläche wie Groß-Berlin mehr Theater, Opern, Orchester und Universitäten. Aber all das hilft nicht aus der "pauverté" hinaus. Die Gemeinden mit ihrem Ehrgeiz stehen einander im Wege. Wäre das Ruhrgebiet eine Stadt, könnte es bei einer umsichtigen Konzentration der Bildungseinrichtungen zu erstklassigen Institutionen kommen, die als Ansammlung der Besten eine Sogkraft auf weitere Talente in ganz Europa entwickeln. Das würde es erlauben, mit Berlin, Paris oder Moskau den Wettbewerb zu wagen. Dann wäre das Ruhrgebiet nicht nur auf ein Jahr europäische Kulturhauptstadt, sondern dauernd eine selbstverständliche Kulturmetropole in Europa.


Eberhard Straub, geboren 1940, studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Archäologie. Der habilitierte Historiker war bis 1986 Feuilletonredakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und bis 1997 Pressereferent des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Heute lebt er als freier Journalist in Berlin. Buchveröffentlichungen u. a. "Die Wittelsbacher", "Drei letzte Kaiser", "Albert Ballin" und "Eine kleine Geschichte Preußens" sowie "Das zerbrechliche Glück. Liebe und Ehe im Wandel der Zeit".


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Interview mit Fritz Pleitgen
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