Vom Werden und Vergehen
Ein internationales Team mit Darstellern aus Neuseeland, Kanada, der Türkei und Samoa verkörpert den Fluss des Lebens in der Jahrhunderthalle Bochum. Für Lemi Ponifasio ist Theatermachen das Streben nach Wiedergeburt.
Tief ist die Dunkelheit in der Bochumer Jahrhunderthalle während Lemi Ponifasios "I AM", trotz der hohen schmalen Fenster im Hintergrund, die zu Beginn des Abends noch ein wenig Licht und am Ende immer noch kleine Leuchtpunkte in den Raum lassen. Wie eine steile Staumauer aber ragt eine schwarze Wand empor und begrenzt den Raum dem Publikum gegenüber. Helen Todd gestaltet ihn mit abstrakten Lichtpunkten und -bändern auf der Wand und auf dem Boden. Keine Muster, sondern abstrakte Bühnenbilder.
Der Mensch bewegt sich häufig an den Rändern. Was hell hervorscheint, sind oft nur eine helle Schulter, ein hoch gerecktes Kinn, die offene Kehle, der Lauf eines Gewehres, ein Nacken, ein Brustkorb, die Linie von ausgestreckten Armen. Es geht kaum darum, das Licht dem Menschen dienen zu lassen. Sondern für Lemi Ponifasio betritt der Darsteller den Raum wie "auf dem Opferblock", das Theatermachen ist für ihn "eine Zeremonie für ein neues Leben, das Streben nach Wiedergeburt."
Darsteller spielen keine Rollen
Nicht Thema, aber Impuls, sagt Ponifasio in einem Interview im Programmheft, sei der Erste Weltkrieg gewesen. "I AM" ist einerseits Gedenkfeier für die Toten und andererseits Statement der Lebenden: für sich zu sein. Diese Darsteller sind in jeder Szene jeweils einzelnes Ensemblemitglied, selbst wenn sie in einer Reihe auftreten, aber eigentlich stellen sie nichts dar. Sie spielen keine Rollen. Und der Ausdruck von Emotionen ist hier derart formalisiert, dass man nicht weiß, ob man begreift, was den Menschen, die Figur auf der Bühne gerade umtreibt.
Die Frau, die sich aus dem trauernden Chor herauslöst, wirkt wütend. Ihre aufputschende Rede ist eine Parallele zu dem Mann zu Beginn, dem die Reihe Performer choreografiert applaudierte. Beide haben etwas Beherrschendes, etwas Sich-Ergreifendes, aber Pathos oder Triumph sind hier weit entfernt: Sie greifen weit aus mit den Armen und ballen die Fäuste, aber sie gehen auch in die Knie, flattern mit den Fingern und lenken ein.
Ein Mann ringt verzweifelt die Hände, dreht sich, packt sich, wirft die Arme – ihm gegenüber steht ein ruhiger Mann mit geschwellter Brust, und es dauert lange, sehr lange, bis der reagiert, als der wüst Bewegte ihm an die Gurgel will. Sie ringen miteinander, die Arme in den Nacken.
Heiner Müllers Ophelia spricht von aufgegebenem Selbstmord, die einzige im weißen Kleid neben all den schwarz gekleideten Gestalten. Statisch steht sie, während der wilde Tänzer im Dunkleren die Bühne durchmisst, und setzt sich schließlich auf einen kantigen Stuhl. Man gibt ihr ein Gewehr, stopft ihr den Mund mit einer roten Tulpe. Sie schlägt die Augen nieder – und stirbt vielleicht. Man "beerdigt" sie, zumindest ist es ein Ritual, das dem unseren sehr ähnelt: Einer nach dem anderen wirft ihr eine weiße Blume in den Schoß oder vor die Füße. Und bespuckt ihre Glatze mit Theaterblut.
Alles im Fluss
Dann wird die Mauer zur schrägen Ebene, die sich nach hinten in den Bühnenraum erhebt. Drei Gestalten tragen Räucherstäbchen mit dem Mund, die Rücken verbiegen sich, der Mensch richtet sich gegen den Himmel. Ein Darsteller bewegt sich langsam durch den Raum, als sei die Luft ein Sirup – schwer, erstickend, aber auch tragend. Schließlich fällt sein Körper doch, mit einem lauten Knall, auf die Ebene, mit weit ausgebreiteten Armen, ein Gekreuzigter. Der schließlich, nach starkem Kampf und einer Ruhezeit, wieder aufersteht, während eines gesungenen arabischen Gotteslobs.
Doch dass ihn unten an der Schräge einer der sonst starren schwarzen Schatten behutsam empfängt und achtsam bekleidet, geht damit sozusagen "unter". Es geht schon gar nicht mehr um diese eine Auferstehung, sondern um ein Fließen in der Natur, um ein endloses Fallen und Werden:
Ein riesiger Wasserfall, projiziert auf die gesamte Schräge und auch auf die Fensterwand im Hintergrund der Halle, hatte schon länger beide, den Liegenden und den Sänger, überspült, mit einem Rauschen, wie man es den gesamten Abend über immer wieder ähnlich hört, wie man es von Blättern im Wind kennt oder wie es einem durch Mark und Bein gehen kann, wenn die Erde dröhnt.
Statt Gott ein Übergang
In diesem Fließen schien der gekreuzigte Körper über die Ebene zu gleiten, schien bewegt zu werden. Wie auch schon zuvor ein schneller Lichtwechsel aus verschiedenen Richtungen eine ganze Reihe von schwarz gekleideten Gestalten ständig "verrückt" hatte, wild mit ihren Schatten gespielt. Der Mensch bewegt sich nicht nur, er wird auch bewegt.
Was hier und da "Gott" genannt wird, ist hier vielleicht: ein Übergang. Und somit die Gegenwart. Die hier eine Ausdehnung bekommt zur Ewigkeit: in Lemi Ponifasios Sound und seinen sich gegeneinander bewegenden Gestalten vor Helen Todds Licht-Horizont.