Ruhrtriennale

"Das Phänomen Migration ist universell und urmenschlich"

"Kirina" in der Maschinenhalle Zweckel, Gladbeck
Das Tanzstück "Kirina" feierte bei der Ruhrtriennale Premiere. © Paul Leclaire/Ruhrtriennale 2018
Serge Aimé Coulibaly im Gespräch mit Susanne Burkhardt |
Bei der Ruhrtriennale feiert der Tänzer und Choreograph Serge Aimé Coulibaly aus Burkina Faso Premiere. Sein Tanzstück "Kirina" widmet sich dem Thema Migration und dem damit verbundenen kulturellen Reichtum.
Bei der Ruhrtriennale feierte mit "Kirina" – ein Tanztheaterabend – der Tänzer und Choreographe Serge Aimé Coulibaly aus Burkina Faso Premiere. Der international erfolgreiche Choreograf und Tänzer hat mit Alain Platel und Sidi Larbi Cherkaoui gearbeitet – zwei großen Namen des zeitgenössischen Tanztheaters. In seinem neuesten Stück geht es um das aktuelle Thema "Migration" – unsere Redakteurin Susanne Burkhardt hat ihn während der Proben getroffen und wollte wissen, was ihn an diesem Thema besonders interessiert.

Das Interview im Wortlaut:

Serge Aimé Coulibaly: Jeden Tag hören wir Nachrichten von Afrikanern, die nach Europa kommen, aber in Kirinia geht es um etwas Grundsätzlicheres: Diese Migrationsbewegungen finden ja überall statt, und schon als um 2015 die Syrer und die Iraker nach Europa flohen und dann die Grenzen geschlossen wurden, habe ich viel darüber nachgedacht, auch im Zusammenhang mit Westafrika. Hinter dem Irak und Syrien stehen große Zivilisationen, da gibt es einen kulturellen Reichtum, von dem die Menschen lernen können – das ist die eigentliche Idee hinter dem Stück.
Nimmt man die Geschichte der Welt der letzten 2000 Jahre sieht man ganz klar, dass Menschen immer in Bewegung waren. In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts ist halb Europa vor Deutschland geflüchtet, nach Amerika oder in andere Länder – weit mehr Menschen waren das als heute nach Europa kommen. Im Stück erweitern wir den Blick und erkennen: Das Phänomen Migration ist universell und urmenschlich. Überhaupt keine afrikanische Sache. Wir kommen alle von irgendwoher und gehen alle irgendwohin.
Regisseur Serge Aimé Coulibaly
Der Tänzer und Choreograph Serge Aimé Coulibaly aus Burkina Faso © Sophie Garcia
Susanne Burkhardt: Geht es vielleicht auch ein bisschen darum, Ängste abzubauen oder einfach klarzumachen, dass es ein ganz normaler Vorgang ist , dass Menschen aus verschiedenen Kulturen in andere Länder ziehen?
Coulibaly: Ganz genau! Ich glaube, wir gehen alle den Politikern in die Falle. Die Leute sitzen vorm Fernseher und müssen mit irgendwas gefüttert werden. Ich sage immer: Man soll sich nur ml vorstellen, wie viele Europäer sich jeden Tag in ein Flugzeug setzen, um Europa zu verlassen. Wie viele dass sind! Es kommt immer darauf an, wie man die Dinge betrachtet und worauf der Scheinwerfer gerichtet wird.
Es wäre meiner Meinung nach kein Problem, wenn wir zum Beispiel alle Grenzen öffnen würden. Man soll nicht glauben, dass alle Afrikaner Afrika verlassen, denn wenn man nur Burkina Faso nimmt, wo ich herkomme, ziehen auch nicht alle aus den kleinen Dörfern in die großen Städte. Menschen gehen fort, weil sie sich nach einer Veränderung sehnen. Viele von uns wollen mal nach Australien. Aber ob man da gleich für immer bleiben will? Das ist natürlich eine Zuspitzung, aber die muss ich als Künstler auch machen.

Globale Perspektive

Burkhardt: Für Kirinia arbeiten sie zusammen mit einer Künstlerin, einer Musikerin aus Mali, aber auch mit Texten des senegalesischen Philosophen Felwine Sarr. Er ist Autor des Buches "Afrotopia" und neben Achille Mbembe aus Kamerun einer der wichtigsten oder eine der führenden Stimmen im Zukunftsdiskurs um den afrikanischen Kontinent. Die Frage von Sarr ist, wie findet der afrikanische Mensch zu seiner eigenen Identität und kann sich von der Dominanz des Westens lösen? Was hat sie an seinen Texten interessiert, dass sie mit in diesen Tanztheaterabend einfließen?
Autor Felwine Sarr
In das Tanzstück fließen Texte des senegalesischen Philosophen Felwine Sarr ein. Der Autor gilt als einer der führenden Stimmen im Zukunftsdiskurs um den afrikanischen Kontinent.© Antoine Tempé
Coulibaly: Er hat mit seinem Buch Afrotopia etwas Unglaubliches geleistet. Er hat etwas zum Ausdruck gebracht, was vielen Afrikanern im Kopf herumgeht. Ich reise viel, in Europa, in Asien und in Afrika, aber man sieht, dass wir die Welt sehr unterschiedlich betrachten. Europa sieht die Zivilisation als etwas, das es selbst hervorgebracht hat, sieht sich in einer Spitzenposition und Afrika am anderen Ende. Felwine Sarr hat auf sehr kluge Art eine neue Perspektive entwickelt, wie wir heute auf Afrika schauen können. Weitaus komplexer.
Ich war wirklich verblüfft, als ich das Buch gelesen habe. Manchmal habe ich das Gefühl, die Menschen glauben, Afrika gehöre gar nicht zu dieser Welt, aber die Welt ist rund, und die Menschen müssen sich auf ihr bewegen. Für dieses Stück brauchte ich jemanden wie Felwine Sarr, der viel über die Welt weiß und über die Geschichte Afrikas. Bei der Musik von Rokia Traoré ist es genauso. Sie ist aus Mali, aber beinflusst von anderen, sie ist sehr offen und zugleich sehr afrikanisch. In Kirina wollte ich genau das haben: Menschen mit einer globaleren Perspektive.
Burkhardt: Und wie haben Sie jetzt die Proben zu Kirina begonnen? Da gab es erst den Text oder erst die Musik und wann kam der Tanz dazu?
Coulibaly: Alles hat eigentlich gleichzeitig begonnen. Wenn man heute eine Oper oder ein Ballett aufführt wie Sacre du Printemps, sind die Stücke garantiert europäisch, Afrika ist aber auch ein Kontinent der Musik und des Tanzes. Als klar war, wir wollten so ein afrikanisches Musiktheater erschaffen, mussten wir erst einmal ein ganz neues Libretto schreiben und sehr viel diskutieren. Das ist ein langsamer Prozess, wir tauschen viele Ideen aus. Ich hatte jede Menge Assoziationen und Referenzen im Kopf, die ich dann mit dem Team bespreche, und den anderen fällt auch immer etwas anderes ein. Eigentlich wie bei einem Pingpong-Spiel.

Mit Bewegungen kommunizieren

Burkhardt: Ihre Arbeiten sind ganz stark geprägt von der afrikanischen Kultur und man kann es so beschreiben, dass die Tänzer sehr, sehr kraftvoll, sehr energetisch sind und wenn Sie mit Künstlern wie Alain Platel, dem flämischen Künstler, arbeiten oder dem flämisch-marokkanischen Künstler Sidi Larbi Cherkaoui – treffen dann verschiedene Tanzsprachen aufeinander oder gibt es diese vielbeschworene, universelle Form des körperlichen Ausdrucks? Oder ist es, wie Sie ja schon sagen, inzwischen so international, dass es diese großen Unterschiede gar nicht mehr gibt?
Der Choreograph Coulibaly setzt auf den ausdrucksvollen Tanz seiner Darsteller.
Der Choreograph Coulibaly setzt auf den ausdrucksvollen Tanz seiner Darsteller.© Paul Leclaire/Ruhrtriennale 2018
Coulibaly: Eins ist sicher. Wie ich heute arbeite und welches Vokabular ich benutze, ist beeinflusst von Menschen wie Platel oder Cherkaoui, aber ich bin auch beeinflusst von der Aborigine-Kultur, weil ich seit 15 Jahren regelmäßig in Australien arbeite. Und natürlich von Afrika. Seit 17 Jahren mache ich jetzt meine eigenen Choreografie. Man versucht eigentlich jedes Mal besser zu werden als man vorher war, sich weiter dem anzunähern, was man erreichen möchte.
Vielleicht kann man bei mir inzwischen einen eigenen Stil erkennen: Mir geht’s um die Frage: Wie kann ich mit meinem Körper mit meinen Bewegungen mit dem Betrachter kommunizieren, wie kann ich ihm nahe sein und ihm meine Welt öffnen, ohne auf Exotismen und Afrika-Klischees zurückzugreifen, die sich dem eher in den Weg stellen. Das ist sehr wichtig, denn oft kommen die Menschen in meine Vorstellungen, um Afrika zu sehen. Aber ich bin nicht bloß Afrika, ich bin auch die Welt! Darum geht es mir: Wie kann ich mit jedem Menschen auf de ganzen Welt mit meiner Körpersprache in Kontakt treten und damit eine starke Verbindung zum Publikum aufbauen.

Globales Missverständnis

Burkhardt: Sie haben gerade gesagt, sie sind ein internationaler Künstler, nicht nur ein Afrikaner. Sie haben auch mal gesagt, ich bin ein globaler Künstler. Ist es etwas, was heute zu viel gemacht wird, dass Künstler auf ihre Herkunft beschränkt werden statt einfach auf die Arbeiten zu gucken und aus den Arbeiten zu lesen?
Coulibaly: Nein, das Hauptproblem besteht darin, dass die Europäer immer glauben, sie hätten das Wissen und alle anderen würden von ihnen lernen. Wenn man also kein Europäer ist, glauben sie nicht, dass man ihnen mehr erzählen kann als das, was mit der Hautfarbe oder der Herkunft zu tun hat: Ah,du bist Afrikaner, erzähl uns was von Afrika. Das ist ein globales Missverständnis. Man muss ihnen immer ganz deutlich erklären, dass man sich auch mit anderen Sachen beschäftigen kann. Sonst reduzieren sie dich. Da fängt die Beurteilung an und zieht sich so weiter. Die Welt ist rund, aber die Europäer glauben, sie seien das Zentrum.
Als Spielstätte für das Tanzstück "Kirina" diente die Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck.
Als Spielstätte für das Tanzstück "Kirina" diente die Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck.© JU/Ruhrtriennale
Burkhardt: Ich weiß nicht, ob Sie den Künstler Christoph Schlingensief kennen, der in Burkina Faso in Ouagadougou ein Operndorf eröffnet hat? Wie ist das, wenn ein deutscher Künstler nach Burkina Faso kommt und dort Kultur ermöglicht. Wie wird das dann aufgenommen?
Coulibaly: Alles hängt davon ab, wie man da rangeht, wo die Verbindung liegt, was für eine Philosophie steht hinter so einem Projekt. Es ist leicht irgendwo hinzugehen und zu sagen: oh, ihr habt keinen Kühlschrank? Ich geb euch einen Kühlschrank. Ihr habt keinen Fernseher? Ich geb euch einen. Aber die Leute da haben vielleicht gar keinen Sinn für Kühlschränke und Fernseher, sie holen sich ihre Tomaten aus dem Garten, kochen sie und sind glücklich. Und plötzlich müssen sie Strom bezahlen und werden immer ärmer, denn das gehört eigentlich nicht in ihre Welt. Sowas kann passieren.
Aber um ehrlich zu sein, ich kenne dieses Operndorf nicht, ich weiß nicht, was da der Ausgangspunkt war, deshalb kann ich darüber eigentlich nichts sagen. Aber es kommen eben sehr viel öfter Menschen aus Europa zu uns, die uns etwas beibringen wollen, als Menschen, die von uns lernen wollen. Wir Künstler bauen da jetzt manchmal eine Mauer um uns auf, um uns da zu schützen. Wir wollen dann wissen: Hast du uns wirklich etwas zu sagen, oder willst du uns nur deine Sichtweise aufnötigen, was ja seit Jahrhunderten genauso immer wieder passiert ist.
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