Die Ruhrtriennale will in diesem Jahr unter dem Motto "Freiheit? Gleichheit? Brüderlichkeit?" politische Akzente setzen. Bis zum 24. September zeigt sie 32 Theater-, Musik-und Tanzproduktionen an zahlreichen ungewöhnlichen Orten des Ruhrgebiets heraus, darunter 20 Uraufführungen.
Wie sollen wir unsere Werte verteidigen?
Alceste geht für ihren Mann in den Tod, damit dieser gesundet: Intendant Johan Simons inszeniert Christoph Willibald Glucks Oper "Alceste" als fulminanten Auftakt der Ruhrtriennale, die sich in diesem Jahr besonders politisch gibt.
Mit der Barockoper "Alceste" hat am Freitagabend in Bochum die Ruhrtriennale begonnen. Der Niederländer Johan Simons führte auch im zweiten Jahr seiner Intendanz bei der Eröffnungspremiere selbst Regie. Die Zuschauer dankten mit langem Applaus.
Die 1767 entstandene Oper "Alceste" beruht auf einer Tragödie von Euripides. Christoph Willibald Gluck hat seine Oper "Alceste" fast durchgängig in Moll komponiert, sie erinnert an ein Requiem. Kurze fröhliche Momente entpuppen sich als trügerisch. König Admeto liegt im Sterben. Um ihn genesen zu lassen, fordern die Götter, dass sich jemand für ihn opfert. Seine Gattin Alceste verpflichtet sich dazu. Prompt geht es Admeto besser, sie handelt eine kurze Frist aus, um sich von ihm und den Kindern zu verabschieden. Doch es fällt ihr sehr schwer, in den Tod zu gehen.
Birgitte Christensen singt Alceste mit einer überwältigenden Vielzahl an Facetten und Klangfarben. Sie ist eine wahrhaftige Singschauspielerin, die komplexe Gefühle in Töne umsetzen kann. Genau das hat sich Gluck in seinen Reformopern gewünscht. Er verbannte die Virtuosität, den Pomp und die Koloraturkanonaden des Barock und entwickelte eine scheinbar schlichte, klar dem Text folgende Musik. Dirigent René Jacobs setzt die Partitur mit dem B´Rock Orchestra faszinierend feinfühlig um. "Alceste" ist eine Oper aus der Aufklärungszeit. Deshalb hat sie Johan Simons an den Beginn seiner zweiten Spielzeit bei der Ruhrtriennale gesetzt.
Sind wir bereit, uns für das zu opfern, was wir lieben?
Bis zur Pause ist der kranke Admeto nicht zu sehen, er bleibt abstrakt, eine Idee. Dadurch tritt die Frage in den Vordergrund: Sind wir bereit, uns für das zu opfern, was wir lieben? Einmal rennt der grandiose Chor MusicAeterna direkt vor das Publikum. Zentimeter vor der ersten Reihe bleiben die Sängerinnen und Sänger stehen und schauen den Zuschauern in die Augen.
Nachdem Alceste ihre Entscheidung gefällt hat, geht es um die Folgen: Kann sie und können ihre Angehörigen mit ihrem Opfertod klar kommen? Es funktioniert nicht. Alceste singt von den Umarmungen ihrer Kinder und rennt vor ihnen davon, weil sie Berührungen in diesem Moment nicht ertragen kann. Wie weit können, wollen, müssen wir gehen, um unsere Werte zu verteidigen? Dieser Frage nähert sich die Operninszenierung auf packende und berührende Weise, ohne platt zu aktualisieren.
Auch die Eröffnungsrede des Festivals kreiste um dieses Thema. Die Publizistin Carolin Emcke, in diesem Jahr Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels, beschäftigte sich mit den Idealen der Französischen Revolution: "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, sie sind nicht erst jetzt und nicht nur von außen bedroht. Sondern sie sind schon lange und auch durch eigenes Versagen zu Worthülsen verkommen."
"Es braucht Übersetzungen der Begriffe und Werte, die ausgehöhlt und verstümmelt worden sind"
Carolin Emcke beschrieb ihr Entsetzen und ihre Hilflosigkeit angesichts der zunehmenden Verrohung und Brutalität, in westlichen Wahlkämpfen wie bei Terroranschlägen oder Bürgerkriegen. Die Medien, die uns informieren, machen uns auch zu Mitwissern. Wenn Politiker dann die westlichen Werte beschwören, klingt das nicht besonders überzeugend. "Es braucht Übersetzungen der Begriffe und Werte, die ausgehöhlt und verstümmelt worden sind", sagte Emcke. "Es braucht eine Übersetzung von Normen in Anwendungen. Es müssen Begriffe in Erfahrungen übersetzt werden, damit sie vorstellbar werden in ihrer Substanz."
Dann erzählte die Autorin eine Geschichte: Als 16-Jährige fuhr sie auf eine Klassenfahrt. Ihre Mutter bemerkte, sie habe einen Flecken auf der Hose. Das sei doch egal, sagte die junge Carolin Emcke, sie führe ja NUR nach Ungarn. Die Mutter war entsetzt, es kam zu einem dicken Streit. Der ethische Grundsatz der Gleichheit war verletzt. Emckes Plädoyer für Sensibilität im Detail ist sympathisch –und auch ein bisschen gefällig. Aber es führt direkt zu den Wirkungsmöglichkeiten der Kunst. Sie kann aufmerksam machen für kleine Dinge, für die menschliche Dimension. Das ist Johan Simons mit seiner wunderbaren Inszenierung von Glucks Oper "Alceste" gelungen.