Antonio Ruiz-Camacho: Denn sie sterben jung
Aus dem Englischen von Johann Christoph Maass
Verlag C.H. Beck, München 2018
205 Seiten, 19,95 Euro.
Ein Mord als Urknall vieler Erzählungen
Die Leichenteile eines mexikanischen Unternehmers landen per Post bei seiner Familie. Die ergreift die Flucht. Der Anfangspunkt von acht Erzählungen. Doch trotz des vielfältigen Könnens des Autors wirkt der Zusammenhang nachträglich konstruiert.
Hoch gelobt wurde das literarische Debüt des Journalisten Antonio Ruiz-Camacho, das 2015 in den USA erschien. Acht Erzählungen, von denen einige schon in Zeitschriften veröffentlicht worden waren, sind in diesem Buch zu einem Zyklus zusammengefasst, der das Schicksal der Protagonisten mit dem eines Mannes verknüpft, der im Frühling 2004 plötzlich verschwunden ist: José Victoriano Arteaga, reicher Unternehmer, Witwer und Patriarch einer großen Familie in Mexiko City, steigt eines Mittags in ein Taxi und wird nie wieder gesehen. Nur Teile seines Körpers tauchen wieder auf – in Paketen an die Familie, die daraufhin panisch aus dem Land flieht.
Dieses Geschehen ist gewissermaßen der Urknall, der die sehr unterschiedlichen Erzählungen über Heimatlosigkeit, Entwurzelung und Fremdheit lose verbindet.
Drogenschwangeres Slangdialoge
Damit die Leserschaft sich in diesen familiären und chronologischen Zusammenhängen auch zurechtfindet, ist dem Buch ein Stammbaum vorangestellt, mit dessen Hilfe die einzelnen Geschichten bestimmten Familienmitgliedern zugeordnet werden können: Der Enkelin Fernanda, deren sorgloses Leben einer Tochter aus begütertem Hause samt dem zugehörigen Snobismus, den Reisen und üblichen Vergnügungen plötzlich unterbrochen wird. Der Tochter Laura, die fünf Jahre später in Austin, Texas, in einer amour fou mit einem viel jüngeren Mann die Leere ihres amputierten Lebens zu vergessen versucht. Der jungen Geliebten des verschwundenen Patriarchen, der erst spät klar wird, was geschehen ist und dass nun auch der gemeinsame kleine Sohn in Gefahr schwebt. Oder der Hausangestellten Conchita, die in die USA geflohen ist und nun das prekäre Leben einer illegalen Migrantin führt.
In jeder dieser insgesamt acht Erzählungen schlägt Ruiz-Camacho einen anderen Ton an. Und er beherrscht die Kunst des authentischen Sprechens, das wird auch in der deutschen Übersetzung von Johann Christoph Maass sehr deutlich – etwa wenn er zwei Arteaga-Enkel im Teenageralter in einem für ihre Verhältnisse recht unkomfortablen Apartment in Manhattan einen paranoiden und drogenschwangeren Dialog voller Slang und flapsig aufgesetzter Coolness führen lässt.
Künstlich konstruiert
Aber das ist gleichzeitig auch Problem dieser Erzählungen: Sie lesen sich, als seien sie völlig unabhängig voneinander entstanden, aus sehr unterschiedlichen Impulsen heraus. Ein Zusammenhang ergibt sich nur aus dem Urknall-Ereignis, auf das sie mehr oder weniger Bezug nehmen. Man hat den Verdacht, dass diese Gemeinsamkeit erst im Nachhinein hinzugefügt wurde um dem Ganzen die Gestalt eines Zyklus zu geben: Damit die eigentlich eher disparaten Zeugnisse eines vielfältigen Könnens, das viel amerikanische Schreibschule verrät, sich irgendwie zusammenfügen.
So liest man gekonnte, machmal auch berührende Texte, die mal nach Salinger klingen können und mal nach Juan Rulfo. Oder nach Philip Roth. Oder sonstwem. Man darf gespannt sein, ob dieser Autor irgendwann einen eigenen Ton finden wird.
So liest man gekonnte, machmal auch berührende Texte, die mal nach Salinger klingen können und mal nach Juan Rulfo. Oder nach Philip Roth. Oder sonstwem. Man darf gespannt sein, ob dieser Autor irgendwann einen eigenen Ton finden wird.