Rumänien

Die Facebook-Generation geht auf die Straße

Proteste im rumänischen Bukarest
Proteste in der rumänischen Hauptstadt Bukarest © picture-alliance / dpa / Robert Ghement
Von Thomas Wagner |
Die Mehrheit der rumänischen Protestbewegung ist jung, nutzt soziale Medien, richtet sich gegen die Eliten und will mehr Europa. Es geht um Freiheit, Rechtsstaat, Anstand und Bürgersinn. Eine Spurensuche im Westen des Landes: Wer sind die jungen Demonstranten?
Ein asiatisches Restaurant in Temeswar. Hier treffe ich Werner Kremm, Anfang 60, und Dan Caramidariu, Mitte 30. Der Rumäniendeutsche Kremm arbeitet seit Jahrzehnten als Journalist; Caramidariu ist Jurist, Hochschuldozent und Kolumnist. Auch mit den zurückliegenden Massenprotesten hat er sich beschäftigt:
"Ich war auch dabei, weil ich der Meinung war, dass die Regierung zurückrudern muss. Das hat sie dann auch gemacht. Und ich wollte mir diese Leute ansehen. Ich wollte sehen, wie sie ticken. Und mein Eindruck ist der: Sie waren sich alle einig, dass sie für die richtige Sache protestieren. Aber wie das Ganze funktioniert, das wissen sie nicht."
Dan Caramidariu lehnt sich zurück, wird nachdenklich. Eines beschäftigt ihn unentwegt: Da ist einerseits das Wahlergebnis der jüngsten Parlamentswahl vor zweieinhalb Monaten. Diese hat der sozialdemokratisch geführten Regierung eine satte Mehrheit beschert. Und andererseits sind da jene Hunderttausende, die kurze Zeit später genau gegen die mit großer Mehrheit gewählte Regierung auf die Straße gegangen sind:
"Es stellt sich folgende Frage, nämlich ob diese junge, urbane, etwas wohlhabendere Schicht überhaupt an den Wahlen vom Dezember teilgenommen hat. Ich bin überzeugt, dass viele von den jungen Leuten, die Anfang Februar auf die Straße gegangen sind, eigentlich bei den Wahlen nicht dabei waren. Dass sie nicht gewählt haben. Dass die Leute auf die Straße gegangen sind, finde ich gut. Besser wäre es, wenn sie auch wählen gehen würden."
Die Wahlbeteiligung bei den jüngsten Parlamentswahlen lag bei unter 40 Prozent. Wählen gehen, sich politisch engagieren − das ist bei der Mehrheit der jungen Erwachsenen nicht gerade sexy.
"Das ist eine Facebook-Generation. Das sind Leute, die sich auf Facebook herumtreiben, die Fotos auf Instagram hochladen, ja. Und die ständig twittern und so. Was ihnen aber fehlt, ist die politische Bildung. Sie haben sich wahrscheinlich in den letzten Jahren geärgert über so manche Unzulänglichkeit der rumänischen Gesellschaft. Und sie haben inzwischen Erwartungen an die Regierung entwickelt, ohne überhaupt politisch aktiv zu sein und ohne überhaupt wählen zu gehen. Politisch würde ich sie, und das mag vielleicht arrogant klingen, als eher unbedarft einschätzen."

Politische Bildung ist ein Manko

Das bereitet dem jungen Juristen und Publizisten Unbehagen. Politische Ideale wie Demokratie und Meinungsfreiheit, davon ist Dan Caramidariu überzeugt, sind die Grundlagen für eine funktionierende Demokratie, auch und gerade in Rumänien. Dafür müssten sich aber viel mehr junge Menschen als bisher engagieren − und zwar nicht nur auf der Straße.
"Schön wäre es, wenn die Leute, die jetzt auf die Straße gegangen sind, verstehen, dass sich die Dinge zum Guten wenden, wenn sich eben Leute wie sie aus dieser etwas gehobeneren Schicht politisch engagieren. Und dass sie verstehen, wenn sie sich politisch engagieren, dass sie sich dann auch politisch bilden müssen. Denn die politische Bildung ist ein großes Manko in der rumänischen Bevölkerung, an den Schulen, an den Universitäten. Ich stelle das selber fest als einer, der an der Hochschule unterrichtet, dass die rumänische Jugend politisch sehr ungebildet ist."
Für Werner Kremm – mit Carmidariu schon lange befreundet – ist der Mittdreißiger ein Hoffnungszeichen für das zukünftige Rumänien:
"Denn immerhin, es gibt noch denkende Menschen. Und wo einer denkt, da kann es auch Resultate geben. Ich kenne eine ganze Reihe solcher Leute, die mehr oder weniger denken im Sinne eines besseren Vaterlandes, in dem sie leben, und das ist eine Situation, die begrüßenswert ist."

Industriebrachen und schrumpfende Stadt

Unterwegs im Rathaus der westrumänischen Industriestadt Resita, gut 150 Kilometer von Temeswar entfernt. Auf einer der Anhöhen des Banater Berglandes, die die Stadt umgeben, zeugt ein metallisches großes Zahnrad von der einstigen Größe dieser Stadt: Bis Anfang der 1990er-Jahre waren die zahlreichen Fabriken hier noch intakt. Knapp drei Jahrzehnte später prägen Industriebrachen das Stadtbild. Im Rathaus sitzt aber jemand, der als Hoffnungsträger für ein besseres, moderneres, demokratischeres Rumänien gilt:
"Also mein Name ist Ion Popa. Ich bin der Bürgermeister in Resita seit acht Monaten."
Die westrumänische Industriestadt Resita, gut 150 Kilometer von Temeswar entfernt
Die westrumänische Industriestadt Resita, gut 150 Kilometer von Temeswar entfernt© Foto: Gerhard Richter
Ion Popa, Mitte 50, offenes dunkelblaues Hemd, Jeans, weder Krawatte noch Sakko. Der Mann sieht eher aus wie der Manager eines Start-Up-Unternehmens als wie der Bürgermeister einer kränkelnden Industriestadt. Grinsend zeigt er auf eine ungewöhnliche Vase auf seinem Schreibtisch. Statt Blumen stehen darin ...abgepackte Nudeln.
"Ich soll ja nicht vergessen, woher ich komme. Ich komme von einer Nudelfabrik, also aus der Nudelbranche."
Popa hatte es nach der rumänischen Revolution im Dezember 1989 vom Geldwechsler in den staubigen Straßen Resitas bis zum Inhaber einer der größten Nudelfabrikanten Rumäniens gebracht. Man nennt ihn auch den Nudel-Millionär.
"Dann habe ich bemerkt: Diese Stadt sieht nicht sehr gut aus. Ich habe ja noch zwei Kinder, vier Jahre und acht Jahre alt. Seit ich die Kinder habe, bin ich schon mehr auf die Straßen gegangen. Und am Ende habe ich gesagt: Eh, ich probiere die Stadt zu verändern, zu wechseln...weil, ich glaube, in den 27 Jahren ist es eher nach unten gegangen. Von ehemals 120.000 Einwohnern haben wir jetzt noch 73.000. Wir haben mehr als 50.000 Leute verloren. Die Industrie ist kaputt gegangen. Und wir haben einen Haufen Industrie, die nicht mehr funktioniert."
Hinzu kommt: Viele frühere Bürgermeister von Resita hatten nur eines im Sinn: Sich die eigenen Taschen füllen:
"Der frühere Bürgermeister ist im Gefängnis für drei Jahre. Derjenige, der vor ihm dran war, ist auch im Gefängnis. Da kann man sehen, wie gut es der Stadt gegangen ist."
... meint er leicht ironisch. Fakt ist: Genau solche Vergehen sollten nach der umstrittenen Eilverordnung der neuen Regierung aus dem Strafgesetzbuch getilgt oder abgemildert werden. Geht gar nicht, fand Ion Popa und beteiligte sich auf seine Weise an den Protesten − durch einen in ganz Rumänien einzigartigen "Bürgermeister-Streik".
"Und dann habe ich gesagt: Stopp, ich arbeite von diesem Moment nicht mehr. Dann habe ich einen Streik gemacht. Und mit mir zusammen gekommen sind ein paar hundert Leute in Resita. Das ist nicht mehr passiert seit 1989. An einem Tag haben wir 1500 Leute gehabt. Jeden Abend waren wir zusammen."
Ein Bürgermeister, der zusammen mit seinen Bürgern auf die Straße geht, gegen die Zentralregierung im fernen Bukarest: Das ist einzigartig in Rumänien. Und Ion Popa ist unangreifbar – durch den Verkauf seiner Nudelfabrik an italienische Investoren ist er finanziell unabhängig. Alle wissen: Gegenüber Bestechungsversuchen jedweder Art ist Popa immun. Nun fühlt er sich in der Pflicht, etwas für seine Stadt zu tun:
"Zum Beispiel machen wir eine neue Tram-Linie von elf Kilometern. Das alleine kostet 25 Millionen Euro für Mobilität. Dann haben wir verschiedene Projekte zum Energiesparen. Da geht es um Privathäuser, diese großen Blöcke. Und wir haben diese Schulen: sieben theoretische Schulen. Das machen wir alles neu mit europäischem Geld. Und wir haben einen 15 Hektar großen Industriepark eingerichtet."
Was motiviert den Mittfünfziger? Immerhin ist der personelle Filz auch in "seinem" Rathaus immer noch groß. Täglich stößt er auf Widerstände, wenn er versucht, die Verwaltung effizienter und bürgernäher zu machen:
"Ich bin so. Ich habe das immer so in meinem Leben gehalten. Da habe ich ein schwieriges Projekt gemacht. Und da habe ich am Ende gesagt: Ich starte niemals mehr ein neues Projekt - fertig, das war das letzte. Und dann, nach ein paar Monaten, starte ich dann doch wieder ein anderes Projekt und denke mir: Das macht ja sonst niemand. Und jetzt habe ich mit diesem Projekt zum Wechseln, zur Verbesserung der Stadt begonnen. Und ich denke, ich werde das machen."
Der harte Kern lässt nicht locker
Andreea Oance (links) und Raluca Nelepku, Redakteurinnen der deutschsprachigen "Banater Zeitung" in Temeswar
Andreea Oance (links) und Raluca Nelepku, Redakteurinnen der deutschsprachigen "Banater Zeitung" in Temeswar© Foto: Zoltan Pazmany
Zurück in Temeswar: Raluca Nelepku, Mitte 30, ist Redakteurin der deutschsprachigen "Banater Zeitung". Sie schaut gerade die aktuellen Meldungen der Nachrichtenagenturen durch. Zwar gehen in diesen Tagen deutlich weniger Menschen auf die Straße als noch vor einem Monat. Dafür aber werden die Aktionen immer kreativer:
"Sie lassen nicht locker, auch wenn es wenige sind. Es gibt den harten Kern der Protestler, der nicht locker lassen will. Und wenn wieder so etwas wie die Eilverordnung 13 möglich gemacht wird, dann kommen sie bestimmt wieder in einer viel größeren Zahl."
Dennoch macht sich Raluca Nelepku Gedanken, weshalb die Mehrzahl der rumänischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen sich nicht politisch engagiert, außer auf der Straße zu demonstrieren:
"Ich habe so das Gefühl, dass man so enttäuscht ist von der Politik – man denkt: Egal, wen man wählt, man hat eine schlechte Wahl getroffen. Man geht aus Enttäuschung lieber überhaupt nicht wählen. Ich bin wählen gegangen, auch wenn ich vielleicht nur das kleinere Übel gewählt habe. Ich war auch nicht hundertprozentig überzeugt. Aber ich bin wählen gegangen, denn das ist mein hart gewonnenes Recht, in einer Demokratie wählen zu gehen – und das habe ich ausgeübt."
Für das kleinere Übel stimmen müssen − das trifft das Grundproblem der rumänischen Politik. Denn fast täglich wird etwas Neues über korrupte Politiker in den Regierungsparteien veröffentlicht – und nicht nur bei ihnen, sondern auch bei der Opposition. Das aber stößt gerade jungen Rumäninnen und Rumänen bitter auf. Andreea Oance, die auch als Redakteurin der "Banater Zeitung arbeitet:
"Wir sind alle total entsetzt. Denn man hat den Eindruck: Egal, was man macht oder was man sagt oder was man glaubt, wäre alles fast umsonst. Die Proteste waren dann auch Proteste gegen das politische System im Allgemeinen in Rumänien. Die Korruption ist überall verbreitet. Und vor allem derzeit erfährt man irgendwie jeden Tag, dass neue Korruptionsfälle aufkommen und dass mehr politische Leute involviert sind. Die Jugend, die jungen Leute in Rumänien, die sind eben total entsetzt, wenn sie sehen, dass sich wirklich nichts ändert. Dass die Politiker immer die gleichen sind, die pendeln von einer Partei zur andern. Ich weiß nicht, wie man das politische Leben in Rumänien wieder beleben kann."
Hunderttausende gingen, wie hier in Temeswar, in Rumänien gegen die Regierung und gegen Korruption auf die Straße.
Hunderttausende gingen, wie hier in Temeswar, in Rumänien gegen die Regierung und gegen Korruption auf die Straße. © Zoltan Pazmany
Einen kleinen Hoffnungsschimmer gibt es: Zwar wurden bei den Parlamentswahlen im Dezember die Sozialdemokraten mit post-kommunistischem Anstrich stärkste Partei. Die meisten Stimmen bekam sie aber von der politisch eher unbedarften Landbevölkerung, denen sie Rentenerhöhungen, Gebührensenkungen und allerlei Vergünstigungen versprochen hatte. Gleichzeitig kam jedoch erstmals eine neue Partei ins Parlament, getragen von einer jüngeren, bisher unverbrauchten Politiker-Generation:
"Vor kurzem ist in Rumänien 'Union Salvats Romania', also eine neue Partei, gegründet worden. Das heißt auf Deutsch: Zusammen retten wir Rumänien! Diese jungen Leute haben keinen politischen Hintergrund..."
Will heißen: Die vornehmlich jüngeren Abgeordneten der "Union Salvats Romania" haben zwar kaum politische Erfahrung. Dass sie aber bei den Wahlen im Dezember überhaupt den Einzug ins Parlament geschafft haben, wertet Andreea Oance bereits als Hoffnungszeichen.

"Wir brauchen frischen Wind"

Ein Café am Temeswarer Opernplatz, nur einen Steinwurf von den abendlichen Protesten entfernt: Diejenigen, die hier an einem Latte Macchiato oder Bitter Lemmon nippen, sind zwischen 20 und 30; die meisten elegant gekleidet. Auch Andi Buftea kommt gerne hierher: Lederjacke, gepflegter Bart, das Smartphone in der Hand – der 27-jährige Innenarchitekt ist einer von denen, die was bewegen wollen – geschäftlich, aber auch politisch:
"Was ich von der politischen Klasse erwarte? Zunächst mal, dass sich viel mehr als bisher in der Politik engagiert. Und wir brauchen frischen Wind, neue Richtungen, eine Alternative zu allem Etablierten. Die politischen Parteien, die wir haben, dienen doch nur dazu, dass die Funktionäre ihre persönlichen Interessen verfolgen können. Die Liberalen haben doch eigentlich sehr wenig mit liberalen Werten gemein. Genauso wie die Sozialdemokraten, die wenig mit den Ideen der Sozialdemokratie am Hut haben."
Bei dem Thema redet sich Andi Buftea in Fahrt: Eine Art politischer Neustart müsse her. Am liebsten würde er die "Polit-Reset-Taste" drücken:
"Wir brauchen eine neue Sozialdemokratische Partei, eine neue rechtskonservative Partei. Das erwarte ich eigentlich. Reformen, Bürger, die sich mehr als bisher einbringen – das wünsche ich mir."
Und dafür ist Andi Buftea in den vergangenen Wochen auch regelmäßig auf die Straße gegangen – so wie seine Eltern damals, im Dezember '89, kurz nach seiner Geburt, um den verhassten kommunistischen Diktator Nicolae Ceausescu zu stürzen.
"Meine Eltern haben sich damals spontan entschlossen, auf die Straße zu gehen. Dabei haben sie ihr Leben riskiert. Aber sie haben einen Traum gehabt – den Traum von einem demokratischen Rumänien. Und deshalb sind sie auf die Straße gegangen. Und genau das setze ich jetzt fort: Ich will die Ideale, die meine Eltern damals hatten, weiter hochhalten, endlich für die Verwirklichung eintreten. Ich will demonstrieren für ein Rumänien, in dem die Leute nicht mehr davonlaufen, für ein Rumänien, das wirklich demokratisch ist, einfach für Normalität in unserem Land."
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