Bücher sind für die Mehrheit der Rumänen Luxusartikel - Der Literaturmarkt in Rumänien ist der kleinste in ganz Europa: Rund 60 Millionen Euro werden jährlich umgesetzt, das entspricht nicht einmal dem Gewinn eines mittelgroßen europäischen Verlages. Die Bücher zu kaufen ist zu teuer – im Vergleich zu den geringen Lebenshaltungskosten. Außerdem gibt es außerhalb der großen Städte wie Bukarest oder Tameswar keine Möglichkeit, an Bücher zu kommen. Gleichzeitig kann auch niemand allein vom Schreiben leben – alle haben mehrere Jobs. Da es auch keine staatliche Förderung gibt, sind die meisten von ihnen auf ausländische Stipendien angewiesen. Ein Gespräch mit unserem Korrespondenten Clemens Verenkotte:
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Wo die unabhängige Justiz wackelt
Eine umstrittene Justizreform, die die Unabhängigkeit der Rechtsprechung abzuschaffen versucht. Ein sogenannter "Parteipräsident", der fürchtet, hinter Gitter zu wandern. Aber auch Massenproteste gegen Korruption, Populismus und Homophobie. Rumänien im März 2018.
Eine Kneippe in der westrumänischen Großstadt Temeswar: viele junge Leute in teuren Designerkleidern sitzen vor ihren Smartphones, nippen an Bier oder Cola. An einem Tisch haben zwei Männer Platz genommen, die sich schon lange kennen: Beide Journalisten, gehören sie der rumäniendeutschen Minderheit an und arbeiten für die "Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien": Werner Kremm, Mitte 60, und sein publizistischer Ziehsohn Dan Caramidariu, Mitte 30.
Werner Kremm hat nicht viel Zeit für das Treffen mitgebracht. Denn ihm sitzt die Leipziger Buchmesse im Nacken. Die Übersetzung eines Buches muss rechtzeitig fertig werden.
"Der Kurzroman, den ich da übersetze, ist von einer der pittoresken Gestalten aus den Reihen der Rumäniendeutschen geschrieben worden, ein gewisser Franz Xaver Kappus, in Temeswar geboren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ist dann nach Berlin umgezogen. Was ich übersetzt habe, ist ein Kurzroman mit dem Titel ‚Die Peitsche im Antlitz. Geschichte eines Gezeichneten."
"Wir müssen den Mund aufmachen"
Doch eigentlich steht ihm gerade nicht so sehr der Sinn nach Belletristik – dazu ist die aktuelle politische Situation in Rumänien zu ernst. Das kritisiert er jede Woche in seinen Kommentaren, ebenso wie Dan Caramidariu, der ihm gegenüber sitzt.
"Denn wenn wir nicht den Mund aufmachen, dann wird’s schlimm in diesem Land."
"Ich habe jetzt, indem ich Ihnen zugehört habe, an etwas anderes gedacht: Und zwar an das viele Geschwätz, das in der rumänischen Politik und in der rumänischen Öffentlichkeit zu hören ist."
Den Mund aufmachen, das "Geschwätz" in der rumänischen Politik anprangern – das, was die beiden gerade ansprechen, hat seinen Grund: Erst kürzlich hat das rumänische Parlament eine Justizreform beschlossen – beantragt von der Regierungskoalition aus postkommunistisch gewendeten Sozialdemokraten, der sogenannten Allianz der Liberalen und Demokraten und dem Verband der ungarischen Minderheit in Rumänien. Eine Justizreform, die nach Ansicht von Dan Caramidariu an den Grundfesten der Rechtsstaatlichkeit rüttelt:
"Am allerschlimmsten, und das hat auch das Verfassungsgericht gerügt, sind die Änderungen, die den Status der Richter und der Staatsanwälte betrifft, vor allem das Problem der materiellen Haftung. So etwas hat es bisher nicht gegeben."
Materielle Haftung für Richter und Staatsanwälte bedeutet: Richter und Staatsanwälte sollen künftig mit ihrem persönlichen Vermögen zur Haftung verpflichtet werden, wenn sich ihre Vorwürfe oder Urteile nicht erhärten lassen – was dazu führen würde, dass Richter und Staatsanwälte von vornherein davon absehen, Verdächtige in Untersuchungshaft zu nehmen. Oder, wie es Dan Caramidariu formuliert:
"Im Grunde will die jetzige Regierung die Bedingungen für die Haftung der Richter erleichtern, damit Richter dadurch auch erpressbar werden, dass ist ohne Zweifel so, dass sie eben irgendwann einmal zur Rechenschaft gezogen werden. Das wird dann zu einem bewährten Druckmittel."
Umstrittene Justizreform gefährdet den Rechtsstaat
Diese Regelung der umstrittenen Justizreform hat das Verfassungsgericht zwar vorerst gekippt, andere nicht minder strittige Regelungen dagegen nicht:
"Es geht während der Strafverfolgung auch darum, dass Ton- und Filmaufnahmen zur Beweissicherung nicht mehr verwendet werden dürfen, was sehr bedenklich ist. Immer wieder hat das eine Rolle gespielt: In sehr vielen Fällen waren diese Abhörprotokolle eigentlich dann auch die einzigen Beweismittel, die es gegeben hat."
Hinzu kommt: Führende Richter und Staatsanwälte sollen zukünftig ausschließlich vom Justizminister ernannt und abberufen werden. Kommt die rumänische Regierung mit diesem Vorhaben durch, würde damit die Unabhängigkeit der Justiz abgeschafft werden. Vorerst wurde die Justizreform durch das rumänische Verfassungsgericht in Teilen gestoppt. Und dennoch: Zehntausende Rumäninnen und Rumänen gingen in den vergangenen Wochen auf die Straße.
Demonstrationen gegen rumänische Regierung
Bukarest, Piata Vicotrei, ein zentraler Platz, auf dem, so berichtet es das öffentlich-rechtliche Fernsehen TVR, an diesem Abend, gut eingemummt in Mützen, Schals und dicken Mänteln, 40.000 Menschen auf die Straße gehen: Sie protestieren nicht nur gegen die Justizreform. Sie protestieren auch generell gegen die rumänische Regierung – vor allem protestieren sie gegen den einen, der als Strippenzieher Nummer Eins in Rumänien gilt, der aber der Regierung gar nicht angehören darf: Liviu Dragnea, ein wegen Wahlfälschung vorbestrafter Präsident der PSD, wie sich die postkommunistisch gewendeten Sozialdemokraten in Rumänien nennen:
"Ich habe nichts übrig für diese Art der politischen Auseinandersetzung. Ich will über unser Regierungsprogramm reden, über die Zukunft Rumäniens und nicht über diesen…verzeihen Sie….Quatsch wie Korruption und solche Sachen…"
...sagte Dragnea noch vor der letzten Parlamentswahl gegenüber dem Schweizer Radio srf.
Dass gerade er nicht über Korruption reden will, hat einen naheliegenden Grund: Nachdem er bereits wegen Wahlfälschung zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe verurteilt worden ist, läuft gegen ihn ein weiteres Strafverfahren wegen Korruption. Deshalb kann er nicht das Amt des Regierungschefs bekleiden, sehr wohl aber das des Präsidenten im Abgeordnetenhaus, was ihm parlamentarische Immunität gewährt – und was ihm, sollte die Justizreform verabschiedet werden, ein Verfahren plus Gefängnisstrafe ersparen könnte. Liviu Dragnea werden nicht nur deshalb immer häufiger autokratische Züge zugeschrieben.
Liviu Dragnea – das Väterchen für seine Untertanen
Werner Kremm, der rumäniendeutsche Journalist, nennt ihn gern den "Daddy" der Nation:"Daddy, ja, der Parteivorsitzende der Sozialdemokraten heißt in ihren Reihen Daddy. Er ist das Väterchen für seine Untertanen, denn er behandelt sie ja auch wie Untertanen."
Bei Dragnea gilt der Grundsatz: Wer nicht gehorcht, fliegt. In knapp eineinhalb Jahren Regierungszeit der sogenannten Sozialdemokraten Rumäniens ist Vasilica Viorica Dancila die dritte Ministerpräsidentin in Folge. Ihre beiden Vorgänger hatten sich nach jeweils nur wenigen Monaten Amtszeit mit dem "Daddy Dragnea überworfen und mussten gehen. Ganz so wie zu Zeiten des früheren kommunistischen Diktators Ceausescu, meint Journalist Werner Kremm.
"In 14 Monaten hat dieser Mann praktisch die gesamte Regierungsstruktur unterwandert mit Leuten aus seinem Umfeld. Beispiel: Von 135 Staatssekretären in der rumänischen Regierung stammen nach verschiedenen Angaben zwischen 35 und 55 aus dem Verwaltungskreis, den er früher geleitet hat und der der am meisten heruntergewirtschaftete Verwaltungskreis in Rumänien ist. In der intellektuellen Presse Rumäniens heißt es: Diese Leute sind jetzt auf Rumänien angesetzt, um Rumänien dasselbe anzutun, was sie ihrem eigenen Verwaltungskreis vorher angetan haben."
Nur in einem Bereich konnte Dragnea die Spitzenpositionen noch nicht komplett mit seinen Vertrauensleuten besetzen – ausgerechnet in jenem Bereich, der ihm mit am gefährlichsten werden könnte: Der Justiz.
Pressekonferenz in den Räumen der Directie Nationale Anticoruptie, kurz DNA – so heißt die Anti-Korruptions-Staatsanwaltschaft in Rumänien. DNA-Chefin Laura Kövesi gilt mit als wichtigste Gegenspielerin von "Daddy" Liviu Dragnea und als Chefin einer in Rumänien gefürchteten Institution. Denn die Anti-Korruptions-Staatsanwaltschaft bringt durch ihre Ermittlungen Monat für Monat Dutzende von Politikern jeglicher parteipolitischer Couleur wegen Korruptionsvorwürfen hinter Gitter – Korruptionsvorwürfe, die sich in den darauf folgenden Gerichtsverfahren meistens als zutreffend erweisen.
"Wir werden angegriffen, weil wir unsere Arbeit tun"
Dass die Mittvierzigerin vor die Presse tritt, hat einen Grund: Tudorel Toader, parteiloser Justizminister von Dragneas Gnaden, hat zuvor unter fadenscheinigen Begründungen Kövesis Ablösung gefordert. Ihre öffentliche Reaktion:
"Dieser Angriff ist auch ein Angriff auf den rumänischen Staat, ein Angriff auf unsere Gesellschaft, ein Angriff auf die rumänischen Bürgerinnen und Bürger. Und warum werden wir angegriffen? Doch nur, weil wir unsere Arbeit gemacht haben. Weil wir gegen die Korruption vorgegangen sind. Nur deswegen werden wir angegriffen."
"Finger weg von der DNA! Finger weg von der Anti-Korruptions-Staatsanwaltschaft" skandierten dann auch viele tausend Demonstranten in Bukarest – ein Protest gegen jene Regierung, die bei den letzten Parlamentswahlen im Herbst 2016 eine überwältigende Mehrheit eingefahren hat. Auf der einen Seite also Hunderttausende, die gegen eine Regierung unter der Führung der PSD protestieren – auf der anderen Seite die Partei PSD, die bei der letzten Parlamentswahl als haushoher Sieger hervorging. Eigentlich geht das nicht zusammen.
"Doch, es geht zusammen."
Meint der rumäniendeutsche Publizist Werner Kremm.
"Man darf nicht vergessen, diese riesige Mehrheit ist dadurch entstanden, dass unterm Strich 18 Prozent der Wahlberechtigten an die Urne gingen. Und die, die jetzt protestieren, sind fast durchweg solche, die sich dem Wahlrecht nicht gestellt haben, und denen es jetzt leid tut, dass sie zugelassen haben, dass die, die zur Wahl gingen, das Schicksal des Landes bestimmen."
Politikmüdigkeit lässt sich in Rumänien vor allem bei jüngeren Wählerinnen und Wählern sowie in den Großstädten aufmachen: Für viele der 20- bis 30-Jährigen stehen Studium, gute Jobs und Karriere höher als politisches Engagement. Erst das Wahlergebnis weckte sie auf – zu spät. Wirklich zu spät?
Auch deutsche Minderheit in der Opposition
"Ich habe gegen all diese Gesetze gestimmt, auch gegen andere wie zum Beispiel unverantwortliche Erhöhung der Gehälter, wo das Geld nicht vorhanden ist – also man kann sagen, dass sich zum ersten Mal der Vertreter der deutschen Minderheit in der Opposition befindet"
Ovideo Gant vom Demokratischen Forum der Deutschen in Rumänien ist Abgeordneter im Parlament. In dieser Position war es für ihn während der vergangenen Jahre stets gute Tradition, sich gut zu stellen mit der jeweiligen Regierung, von der die Gemeinschaft der Rumäniendeutschen Zuschüsse für zahlreiche Projekte erwartet. Doch für eine Justizreform stimmen, die einer Abschaffung rechtstaatlicher Grundsätze gleichkommt – das war für Ovideo Gant ein No Go. Und eigentlich seien diese ganzen Pläne der Regierungsparteien ein Stück weit auch Wahlbetrug, findet Gant:
"Man hat letztendlich etwas anderes versprochen als das, was tatsächlich geschieht. Also im Wahlkampf war keine Rede, dass man durch Gesetze die Grundlagen des Justizsystems in Rumänien ändert, damit irgendwelche korrupte Politiker der Justiz entkommen, und auch nicht, dass man irgendwelche Amnestie oder sonstige Maßnahmen trifft, damit die schon Genannten davon profitieren."
Staatspräsident lobt Antikorruptions-Staatsanwaltschaft
Gant hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass die zurückliegenden Massenproteste doch etwas nützen – dass sich nämlich auch bei manchen Politikern in der zweiten und dritten Reihe der Regierungskoalition ein Sinneswandel vollzieht.
"Das wird sich zeigen, wie schlecht sie weiterhandeln, wie sehr die Bevölkerung aufgebracht sein wird nach diesen Maßnahmen. Ansonsten hoffe ich, dass auch innerhalb der sozialistischen Partei, der ALDE, aber auch im Ungarnverband, der das Ganze unterstützt, verantwortungsvolle Leute gibt, die sagen: Jetzt müssen wir erst mal die Sache ganz genau anschauen und den Kurs ändern, weil es so nicht mehr weitergeht. Also meine Hoffnung ist, dass auch innerhalb dieser Parteien etwas geschehen wird, um eben einen anderen Kurs einzunehmen."
Daneben setzen Gant und viele weitere regierungskritische Politiker auf einen Mann, der ebenfalls als großer Gegenspieler von "Daddy" Dragnea und seiner sozialdemokratischen Partei gilt: Klaus Johannis, rumänischer Staatspräsident mit ebenfalls rumäniendeutschen Wurzeln:
"Hier wird gerade der verzweifelte Versuch unternommen, die Antikorruptions-Staatsanwaltschaft und deren Führung in Misskredit zu bringen."
"Nach meiner Meinung machen die Antikorruptions-Staatsanwaltschaft und ihre Führungsspitze einen tollen Job."
Johannis hat sich dann auch schützend vor deren Chefin Laura Kövesi gestellt und die Gesetze zur umstrittenen Justizreform ans Verfassungsgericht weitergeleitet, das das Regelwerk zum Teil für verfassungswidrig erklärt hat. Allerdings: Stimmt das Parlament darüber ein zweites Mal ab und kommt es erneut zur Zustimmung, müsste Johannis die Gesetze unterschreiben, was sich aber derzeit keiner so recht vorstellen kann. Bahnt sich eine Verfassungskrise an?
Die rumänische Literatur im Ausland
Zurück zu den beiden rumäniendeutschen Journalisten Werner Kremm und Dan Caramidariu: Ihren Kaffee haben sie ausgetrunken. Werner Kremm muss zurück ins Büro. Die Übersetzung des Buches wartet, das auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt werden soll. Denn abseits aller politischen Kapriolen hält er es für wichtig, dass rumänische Literatur im Ausland besser bekannt wird.
"Es wäre für Rumänien sehr wichtig, sich von seiner kulturellen Seite stärker und professioneller im Ausland zu zeigen. Dieses Mal scheint Rumänien seine Rolle als Zielland der Leipziger Buchmesse ernst zu nehmen."
Dass sich die aktuelle politische Situation in den Werken der rumänischen Autoren widerspiegeln wird, ist zwar nicht zu erwarten. Doch die Korruption wird durchaus in dem einen oder anderen Band reflektiert werden.
"Es gibt Bücher, neuere Bücher, die das aufnehmen, Mircea Catarescu und so. Ich weiß aber nicht, ob die Rumänen ein Interesse haben, das zu thematisieren auf der Leipziger Buchmesse. Eher nicht. Es gehört ein hoher Grad an Selbstreflektion dazu, um zu solchen Themen zu kommen. Ich würde es eher bezweifeln, dass sie solche Themen ansprechen, es sei denn, sie werden darauf angesprochen und provoziert. Ich wäre sogar sehr neugierig, was sie für Antworten dann geben."