Schweigen über die Verbrechen der Securitate
Nina Moica wurde 1959 als 15-Jährige von der Geheimpolizei Securitate verhaftet. Sie hatte sich im "Bund der freien Jugend" für politische Gefangene engagiert. Dafür wurde sie selbst mehrere Jahre weggesperrt. Über ihre Erfahrungen hat sie jahrzehntelang geschwiegen.
Bukarest, ein altes Gebäude im Zentrum der rumänischen Hauptstadt. Nina Moica tritt in den Vorraum. Dort hängt eine Karte der Gefängnisse und Arbeitslager. Die 71-jährige Dame tippt mit dem Finger auf einige Orte und nennt die Namen. Hier war sie jeweils inhaftiert.
Nina Moica öffnet die Bürotür der "Vereinigung ehemaliger politischer Gefangener Rumäniens“. Jeden Donnerstagvormittag kommt sie hierher. „Familientreff“ nennt sie das. Alle Mitglieder der Vereinigung haben einst die Hölle stalinistischer rumänischer Gefängnisse durch- und überlebt. Im Vereinshaus reden sie über ihre Alltagssorgen und über aktuelle Politik, manchmal auch über ihre Haft.
Selten verirrt sich ein Besucher hierher, noch seltener kommen Schulklassen oder Studentengruppen. Die ehemaligen politischen Gefangenen werden in Rumänien halb bemitleidet, halb ignoriert. Sie haben keine Lobby, ihr Leid ist kein großes öffentliches Thema – auch nicht im Jahr fünfundzwanzig nach dem Ende der nationalkommunistischen Diktatur. Umso mehr freuen sie sich, wenn jemand kommt und ihnen zuhört.
Nina Moica ist eine schöne Frau. Sie hat schulterlange, blonde Haare, hohe, geschwungene Augenbrauen und strahlt eine große Würde aus. Sie stammt aus der siebenbürgischen Kleinstadt Reghin. Dort wurde sie im Juni 1959 von der Geheimpolizei Securitate verhaftet.
"Ich wurde als Minderjährige verhaftet, zusammen mit mehreren Schülern. Ich war fünfzehn Jahre und sieben Monate alt. Sie verhörten uns drei Monate lang, dann wurden wir zu sehr hohen Strafen verurteilt. Mir gaben sie zwanzig Jahre Zwangsarbeit, weil ich Mitglied in einer Jugendorganisation gewesen war. Einen Monat nach mir wurde auch mein Vater verhaftet. Alle von uns bekamen sehr hohe Strafen."
Gefasst und verprügelt
Ihre Organisation nannte sich "Bund der freien Jugend". Die Mitglieder verteilten Flugblätter und schrieben Solidaritätsbriefe an die Familien von politischen Gefangenen. Ein Jahr lange blieben sie unentdeckt. Dann stahlen einige Jungen aus der Organisation Waffen aus einer Försterei. Sie wurden gefasst und "windelweich geprügelt", wie Nina Moica erzählt. Daraufhin hätten sie die Namen der Mitglieder verraten, dann seien alle verhaftet worden.
"Bis zur Volljährigkeit war ich in Einzelhaft, nur die letzten Monate davor war ich mit einem ebenfalls minderjährigen Mädchen zusammen. Als ich volljährig wurde, steckten sie mich zu den anderen Gefangenen, und ich musste Weidenkörbe flechten. Ab 1963 gab es schrittweise Entlassungen. Ich glaube, ich war im vorletzten Kontingent, ich kam im Juni 1964 frei. Mein Vater wurde einen Monat später freigelassen."
Fünf Jahre lang sahen sich Vater und Tochter nicht, die Mutter durfte ihre Tochter einmal besuchen. Bei ihrer Entlassung war Nina Moica 21 Jahre alt. Erwachen aus einem Albtraum.
"Nein, sie haben mich nicht geschlagen, es wäre gelogen, wenn ich das behaupten würde. Aber dafür gaben sie mir diese riesige Haftstrafe. Man fühlte sich durch die Bedingungen gedemütigt. Es war schrecklich. Die ständige Kälte, der ständige Hunger. Dann die hygienischen Bedingungen vor allem für Frauen, es war furchtbar. Und sie machten auch keinen Unterschied zwischen Minderjährigen und Erwachsenen. Sie haben mir meine Jugend gestohlen, mein ganzes Leben. Ich habe von etwas anderem geträumt. Aber - so war das eben."
So wie Nina Moica könnten noch tausende ehemaliger politischer Gefangener Zeugnis ablegen. Doch in diesem Jubiläumsjahr sind sie in der Öffentlichkeit kaum präsent. Dabei hatte Rumänien bis Mitte der 1960er-Jahre das wohl brutalste stalinistische Regime unter allen Satellitenstaaten der Sowjetunion. Die bürgerliche Vorkriegselite wurde in Gefängnissen systematisch vernichtet, es gab nur sehr wenig zu essen, im Fall von Krankheiten selten Medikamente, die Arbeit war äußerst schwer, dazu kamen Prügelstrafen und häufige Einzelhaft mit Essensentzug.
Das überlebten nur wenige. Mehr noch: Im Rahmen eines 3-Jährigen Umerziehungsexperimentes in mehreren Gefängnissen mussten sich Häftlinge sogar gegenseitig foltern und zu so genannten "neuen Menschen" umerziehen. Standrechtliche Exekutionen durch die Securitate waren in den 1950er-Jahren an der Tagesordnung, um den Widerstand der bewaffneten Partisanen in den Karpaten zu brechen. Zugleich kamen auch tausende rumänische Bauern ins Gefängnis, weil sie sich der Kollektivierung widersetzten.
All das sei einer Mehrheit der Rumänen heutzutage nur wenig bekannt, sagt der Historiker und Geschichtslehrer Mihai Stămătescu. Vor allem werde es an Schulen kaum gelehrt.
"Leider möchten wir in Rumänien das Thema der kommunistischen Diktatur eher beiseiteschieben oder es vergessen. Es scheint, als wollten wir nicht mehr darüber sprechen, weil wir denken, wir seien schon andere Menschen, nicht diejenigen, die damals geboren wurden und viele Traumata aus dieser Zeit in uns haben. Natürlich, die politische Elite kommt aus dem Kommunismus, das ist ja auch normal - die Leute sind damals geboren, und sie akzeptieren nur schwer sich zu ändern. In der Schule versuchen wir, diesem Vergessen entgegenzuwirken. Leider jedoch wird die kommunistische Diktatur nur ungenügend behandelt. Die Lehrpläne sind alt. Wir bräuchten Material, dass dieses Zeit viel gründlicher behandelt. Denn es ist ja so, dass vieles, was heute geschieht, seine Wurzeln in dieser Zeit hat."
Das erste postkommunistische Schulbuch
Mihai Stămătescu ist 50 Jahre alt, er arbeitet als Geschichtslehrer und Direktor einer privaten Bukarester Schule. Im Jahr 2008 war er Mitautor des ersten postkommunistischen Schulbuches zur Geschichte des Kommunismus in Rumänien. Das Buch war ein Meilenstein für das Bildungswesen des Landes. Doch bis heute ist es das einzige derartige Lehrbuch geblieben, zudem wird es nicht im regulären Geschichtsunterricht verwendet.
"Das Buch ist Grundlage eines optionalen Oberstufenkurses. Aus den Statistiken des Bildungsministeriums geht hervor, dass seit 2008 vier- bis fünftausend Schüler diesen Kurs gewählt haben. Leider ist das keine große Zahl, denn der Kurs ist, wie gesagt, optional. Zudem kann er nur in theoretischen Gymnasien gewählt werden, nicht in solchen mit technisch-industriellem Profil, wo die Berufsausbildung im Vordergrund steht. Ich denke jedoch, dass so ein Kurs zur Geschichte des Kommunismus auch deshalb notwendig ist, weil er einen tiefgehenden zivilen Ansatz hat. So etwas brauchen wir in Rumänien, und das interessiert die Schüler auch."
Das Dimitrie-Gusti-Gymnasium in Bukarest. Die Schüler einer 11. Klasse kommen in die Bibliothek, ihre Rumänisch-Lehrerin hat heute etwas Besonderes für sie vorbereitet, sie hat Nina Moica als Zeitzeugin eingeladen.
Es wird sehr still im Raum, als Nina Moica von ihrer Zeit im Gefängnis erzählt. Die meisten der Schüler sind 17 Jahre alt, einige auch schon etwas älter. Die Zeit der kommunistischen Diktatur haben sie im Unterricht bisher nur oberflächlich behandelt, auch Zeitzeugen haben sie noch nicht getroffen. Ungläubig hören sie der alten Dame zu, die in ihrem Alter schon fast zwei Jahre in Einzelhaft verbracht hatte. Es scheint für sie unvorstellbar. Nina Moica schließt mit eindringlichen Worten:
"Ich sage euch das alles nicht, weil ich so gerne mit meiner Geschichte hausieren gehe. Ich möchte, dass ihr wisst, was geschehen ist, damit ihr später nicht sagt, ihr habt nichts gewusst, und ich möchte, dass es nicht noch einmal geschieht. Es wäre wichtig, wenn es euch ein wenig interessieren würde, auch wenn ihr euch sonst vielleicht weniger für Geschichte interessiert. Es ist einfach wichtig zu wissen."
Eine Schülerin fragt mit leiser, zitternder Stimme, warum die Aufseher in den Gefängnissen die Insassen mit so viel Niedertracht und Brutalität behandelt hätten. Ihre Mitschüler spotten über sie, weil sie die Frage für naiv halten. Aber Nina Moica erklärt ihr, dass für die Arbeit in Gefängnissen damals gezielt ungebildete, meistens aus armen Verhältnissen stammende Personen ausgesucht wurden.
Später fragen die Schüler, wie ihr Leben nach dem Gefängnis aussah, und Nina Moica erzählt: Sie wollte studieren, durfte dies aber wegen ihrer Verurteilung nicht. So wurde sie Buchhalterin. Sie heiratete einen Mann, der ebenfalls politischer Gefangener gewesen war, und brachte eine Tochter zur Welt. Über ihre Haftzeit sprach sie außer mit ihrem Mann mit niemandem. Auch die Tochter erfuhr erst als Jugendliche vom Schicksal ihrer Mutter. Je mehr Fragen die alte Dame beantwortet, desto lebendiger und zugleich unwirklicher erscheint den Schülern alles. Am Ende sagt die 17-jährige Cătălina:
"Es wäre gut für unsere Allgemeinbildung, wenn wir mehr über die kommunistische Diktatur sprechen würden. Es ist ja die Vergangenheit unserer Familien, und man kann sich schwer vorstellen, was sie durchgemacht haben. Leider gibt es nicht wirklich viele Unterrichtskurse dazu. Angst, dass der Kommunismus zurückkommt, habe ich aber nicht. Ich vertraue unserer Generation, mit ihr kann so etwas nicht nochmal passieren. Wir kennen unsere Rechte, wir haben Meinungsfreiheit und wir können uns Gehör verschaffen."
Protest gegen Altkommunisten
Bukarest am späten Abend des 16. November. Cătălinas Generation ist auf die Straße gegangen, in Sprechchören bezeichnen die jungen Leute die Regierungspartei als "rote Pest". Es ist der Abend, an dem Klaus Johannis zum rumänischen Staatspräsidenten gewählt wird, ein Mann, der für ein neues, anderes Rumänien steht.
Ausgerechnet im Jubiläumsjahr, ein Vierteljahrhundert nach dem Sturz der Diktatur, erlebt das Land diese historische Präsidentenwahl – und sagt sich damit scheinbar endgültig vom Erbe der kommunistischen Diktatur los. An diesem Abend verlangen zehntausende Demonstranten, fast ausschließlich junge Leute, dass die Regierung der wendekommunistischen Sozialdemokratischen Partei gleich mit abtritt. Denn es ist eine Partei einstiger kommunistischer Funktionäre, ehemaliger Securitate-Offizere und korrupter Lokalfürsten.
Nina Moica demonstriert nicht mit am 16. November, sie wohnt weit außerhalb des Bukarester Stadtzentrums. Aber sie hat den Wahlabend bis spät in die Nacht aufgeregt am Fernseher verfolgt. Sie ist voller Hoffnung, aber auch voller Skepsis.
Nina Moica: "Ich wünsche mir, dass Johannis sich nicht von dieser Mafia umzingeln lässt, die es immer noch bei uns gibt und von der wir uns nicht befreien können. Jemand muss doch endlich einmal den Mut haben, sich gegen diese Mafia durchzusetzen! Damals, bei der so genannten Revolution, war ich sehr naiv, wie so viele andere. Ich dachte, es würde sich etwas ändern und freute mich. Aber dann sind die Jahre vergangen. Was soll ich sagen?! Es ist nicht das eingetreten, was ich mir erhofft habe."
Offiziell hat Rumänien schon vor Jahren mit dem Kommunismus abgerechnet: 2006 arbeitete eine Historikerkommission auf Initiative des damaligen Staatspräsidenten Traian Băsescu einen großen Bericht zur kommunistischen Diktatur in Rumänien aus. Doch viele seiner Empfehlungen, etwa ein verbesserter Geschichtsunterricht, wurden bisher kaum umgesetzt. Deshalb, weil so vieles nur Lippenbekenntnis blieb, hat Nina Moica vor einigen Jahren angefangen, als Zeitzeugin vor Schülern zu sprechen.
"Es gibt Leute meinen Alters, die behaupten, sie hätten nichts gewusst. Wie kann das sein?! Dass die jungen Leute nichts wissen, gut, aber damals?! Leugnen sie es, wollten sie nicht hinschauen? Es ist gut, wenn wir erzählen und man weiß, was geschehen ist, denn sonst kann es sich wiederholen. Dann müssen andere erleiden, was wir erlitten haben, dass sie einem alles wegnehmen, die Jugend, die Gesundheit und die Träume."