Runder Tisch Heimerziehung prüft Entschädigungsmöglichkeiten

Antje Vollmer im Gespräch mit Liane von Billerbeck |
Die Vorsitzende des Runden Tisches Heimerziehung, Antje Vollmer, hat bei der geforderten Entschädigung ehemaliger Heimkinder eine Anerkennung von Rentenjahren ins Gespräch gebracht. Vollmer sagte, beim 3. Treffen des Runden Tisches zur Heimerziehung sei begonnen worden, die rechtlichen Möglichkeiten für Entschädigungen auszuloten.
Liane von Billerbeck: 25 Milliarden Euro - das ist die Summe, die ehemalige deutsche Heimkinder fordern, um das Leid zu lindern, das ihnen in den 50er und 60er Jahren zugefügt wurde. Statt Liebe erhielten sie Schläge, statt zu lernen mussten sie unbezahlt arbeiten und es ist sogar von sexuellem Missbrauch die Rede. Die Betroffenen-Vereine gehen von 500.000 bis 800.000 Kindern in solchen Heimen aus, viele von ihnen leiden bis heute. Nach langem Schweigen und durch Veröffentlichungen ermutigt haben sich Betroffene jetzt organisiert und fordern Entschuldigung und Entschädigung. Der Bundestag hat einen Runden Tisch eingesetzt, der sich in den nächsten zwei Jahren damit befassen soll. Schirmherrin dieses Runden Tisches ist Antje Vollmer (…) und mit ihr bin ich jetzt telefonisch in Berlin verbunden. Frau Vollmer, ich grüße Sie!

Antje Vollmer: Ja, guten Tag!

Von Billerbeck: Bis gestern tagte der Runde Tisch Heimerziehung, dem Sie als Schirmherrin vorstehen, zum dritten Mal. Worum ging es?

Vollmer: Also Schirmherrin ist nicht gut als Ausdruck, das wäre eher einfach. Ich bin die Moderatorin, das heißt, ich muss zwischen sehr unterschiedlichen Beteiligten - Vertreter der Institutionen, des Bundes, der Länder, Betroffenen, Jugendämtern, Jugendrichtern - versuchen, eine gemeinsame Lösung am Ende dieses Prozesses herzustellen, die dann einen Vorschlag macht, wie die Gesellschaft der Bundesrepublik mit den Geschädigten umzugehen gedenkt. Das ist die Aufgabe.

Von Billerbeck: Und was war das Thema in der gestrigen und vorgestrigen dritten Sitzung dieses Runden Tisches?

Vollmer: Gestern haben wir erst mal geguckt, welche rechtlichen Möglichkeiten es dann gäbe, den Betroffenen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Also wir haben zum Beispiel Vertreter des Ministeriums gehabt, die uns das Rentenrecht erklärt haben und das Opferentschädigungsgesetz und auch das Jugendwohlfahrtsgesetz. Und wir haben das diskutiert auch in Bezug auf mögliche Öffnung dieser Gesetze für die betroffenen Gruppen und was es denn konkret bringen würde. Und wir haben uns mit Datenschutzproblemen beschäftigt, denn immerhin handelt es sich um sehr persönliche Daten.

Aber erstmal haben wir vorweg aufgerufen und auch schon viele Antworten bekommen, dass alle Akten, die es noch gibt - die sind ja für die Opfer sehr wichtig -, dass die gesichert werden und nicht etwa vernichtet, damit man dann im Zweifel auch Dinge belegen kann. Da haben wir weitgehend positive Reaktionen gekriegt, also von allen Institutionen, dass sie das gewährleisten wollen.

Aber es sind eben sehr persönliche Daten. Und gewünscht ist ja auch ein Zugang der Wissenschaft zu diesen Daten, auch zu den Daten der Institutionen. Und auch da werden wir Vorschläge machen müssen, dass man sich da nicht hinter dem Datenschutz versteckt, wenn es um Aufklärung geht, dass man aber trotzdem auch die sehr sensiblen Daten schützen kann. Das gehört zu dem Bereich, den wir wollen, wie man das in Zukunft dokumentieren kann und die Wissenschaft darüber auch berichten kann und wie die Einzelnen den Zugang zu ihren persönlichen Daten kriegen, um auch Forderungen stellen zu können.

Von Billerbeck: Das ist ja ein ganz schön schwieriges Feld, das sie da zu beackern haben - einerseits die juristische Arbeit, andererseits den Datenschutz, andererseits die Entschädigung und Entschuldigung. Wie kann das alles zusammengebracht werden?

Vollmer: Das frage ich mich manchmal auch. Es ist auf jeden Fall eine extrem schwierige Arbeit, aber das Besondere an diesem Versuch - es gab ja noch nicht so einen Runden Tisch in der Geschichte der Bundesrepublik -, das Besondere an diesem Versuch ist, dass alle, die auch Adressaten sein können, mit an dem Tisch sitzen und dass das tiefe Einsteigen in die Problematik, glaube ich, auch die Bereitschaft aller Seiten erhöhen wird, wirklich an einer Lösung mitzuarbeiten. Das heißt, wir adressieren uns eben nicht nur an den Gesetzgeber, sondern auch an alle, die Thema dieses Prozesses gewesen sind.

Von Billerbeck: Also an die ehemaligen Heimkinder. Allerdings wurden einige Stimmen laut, die gerade Sie als Schirmherrin oder Moderatorin dieses Runden Tisches für nicht ganz unbefangen halten. Der zweite Vorsitzende des Vereins ehemaliger Heimkinder, Heinz-Jürgen Overfeld, der hat bei uns im Deutschlandradio Kultur Folgendes gesagt:

Overfeld: "Dieses Gremium unter Leitung der Antje Vollmer, die ich als Politikerin immer sehr geschätzt habe - sie ist nicht in der Lage, diesen Runden Tisch zu führen. Erstens ist sie nicht unvoreingenommen, so wie der Deutsche Bundestag es beschlossen hat, es muss eine unvoreingenommene, neutrale Person diesen Tisch leiten. Frau Antje Vollmer ist Pastorin, Frau Antje Vollmer hat in Bethel erzieherische Aufgaben gehabt und sie ist nicht frei."

Von Billerbeck: Das ist der Vorwurf, Sie seien nicht unbefangen, Frau Vollmer. Was antworten Sie?

Vollmer: Also ich versuche, gerade nicht Adresse von solchen Forderungen zu sein, sondern zu moderieren, und nehme das zur Kenntnis, aber ich glaube, ob ich unbefangen bin oder nicht, das können die Beteiligten am Runden Tisch sagen und das ist Herr Overfeld ja nicht. Meine frühere Tätigkeit, ich war Vikarin und habe dann den Beruf an den Nagel gehängt, und ich war in Bethel Dozentin an einer ländlichen Heimvolksschule, die gar keinen Heimbetrieb hatte, sondern die mit Landjugendlichen gearbeitet hat. Das ist meine Verbindung.

Von Billerbeck: Der Vorwurf geht ja nur an die Pastorin, dass Sie also zu nah an den Kirchen seien, die ja Betreiber dieser Heime gewesen sind. Das ist wahrscheinlich die Richtung.

Vollmer: Das vermute ich dann auch, aber dagegen steht, dass ich das Votum aller Fraktionen des Deutschen Bundestages habe, die mich gebeten haben, dieses Thema zu behandeln. Und ich denke, dass sie es mir zugetraut haben, das zu tun. Die Probleme liegen in der Schwierigkeit der Aufgabe, ich glaube, nicht in der Frage, ob man sich nach allen Kräften bemüht, eine gerechte Lösung zu finden.

Von Billerbeck: Sie haben sich in einem Gespräch auch mal dahingehend geäußert, dass man das Geschehen in den Heimen damals - also Schläge, unbezahlte Arbeit, sexuellen Missbrauch - in Beziehung setzen müsse zu den damaligen Erziehungsvorstellungen. Da erweckt man ja möglicherweise den Eindruck, da soll etwas verharmlost werden nach dem Motto, war damals gang und gäbe zu prügeln, also war es in den Heimen nicht schlimmer.

Vollmer: Na ja, ich bin ja auch Historikerin, und als Historikerin haben Sie verschiedene Quellen, mit denen Sie arbeiten können. Das eine sind die Berichte von Zeitzeugen, und die sind gerade in diesem Fall außerordentlich wichtig. Aber das andere sind natürlich auch Quellen, wo Sie verstehen müssen, um welche Zeit es sich handelt. Und es handelte sich um eine der wirklich autoritären und dunklen Phasen der frühen Bundesrepublik, das war die unmittelbare Nachkriegszeit. Da waren auf jeder Seite, auch unter den Erziehern, schwer geschädigte Menschen und Menschen, die häufig mit einer Aufgabe ziemlich allein gelassen wurden und die so etwas wie eine gesellschaftliche Zustimmung im Hintergrund fühlten, dass man mit Kindern, mit denen man nicht so richtig klar kam, in geschlossenen Einrichtungen umgehen könne und dass sich auch die Gesellschaft nicht weiter darum kümmern wolle.

Das gerade ist ja der Skandal und das schwer zu Erforschende, welche Gesellschaft es damals gab, die solche Praktiken toleriert hat. Denn auch da gilt, dass es natürlich viele wissen konnten. Und da arbeiten wir uns gerade durch. Und das Merkwürdige ist, dass so viele da kooperiert haben. Also Richter, die Jugendliche da hingeschickt haben, Kommunen, die solche Heime nicht weiter kontrolliert haben, Beteiligte in den Institutionen, sogar Eltern, die freiwillig solcher Erziehung zugestimmt haben. Also da gibt es eine ganz große Verantwortungskette. Und wir hoffen, dass jeder sein Stück Verantwortung mit übernimmt, wenn es darum geht, den Geschädigten am Ende ein Stückchen Genugtuung widerfahren zu lassen.

Von Billerbeck: Genugtuung ist das eine, eine Forderung, die aber ganz deutlich ist, ist auch die Nachentschädigung in finanzieller Art. Und Sie haben es ja eben schon geschildert, dass so viele in der Gesellschaft damals mitgemacht haben. Das hört sich für mich so an, als sei es ganz schwer, da überhaupt Entschädigung für diese geprügelten, sexuell missbrauchten Heimkinder zu bekommen, wenn es denn ein gesellschaftliches Klima gab, das so etwas ja durchaus gutgeheißen hat?

Vollmer: Aber den Schluss würde ich nicht ziehen. Gerade wenn viele beteiligt sind, sollten sich auch viele an der Lösung beteiligen, und das sowohl inhaltlich in Form von Entschuldigen und Erkenntnis und Aufklärung als auch möglicherweise materiell. Wie aber dieses möglicherweise Materielle auszusehen hat, ob in Form eines Fonds oder ob es gesetzliche Möglichkeiten gibt, dass man zum Beispiel Rentenjahre nachträglich anerkennt für in den Heimen geleistete Arbeit, das gehört genau zu den Punkten, die wir klären müssen und wo wir am Ende einen Vorschlag machen sollten. Und dem kann ich jetzt noch nicht vorgreifen, aber ich vermute, dass wir verschiedene, sehr unterschiedliche Forderungen machen.
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