Rupert Neudeck

"Die Zivilgesellschaft muss der Politik helfen"

Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisation "Grünhelme"
Rupert Neudeck, Mitbegründer der Hilfsorganisationen "Cap Anamur" und "Grünhelme" © dpa / picture-alliance / Britta Pedersen
Moderation: Martin Steinhage |
Cap-Anamur-Gründer Rupert Neudeck kritisiert die europäische Flüchtlingspolitik als katastrophal und fordert: So kann und so darf es nicht weitergehen. Wie aber müsste ein humanerer Umgang mit Flüchtlingen aussehen?
Deutschlandradio Kultur: Mein Gast heute ist Rupert Neudeck, der Mitbegründer der Hilfsorganisation Cap Anamur und Grünhelme. Sprechen wollen wir in den kommenden gut 30 Minuten über den Umgang mit Flüchtlingen. – Guten Tag, Herr Neudeck.
Rupert Neudeck: Ja, guten Tag, Herr Steinhage.
Deutschlandradio Kultur: Herr Neudeck, was ging Ihnen spontan durch den Kopf, als sie – wie wir alle – Anfang der Woche erfahren haben, dass allein in diesem Jahr bereits über 3.000 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken sind?
Neudeck: Natürlich ist diese Zahl für mich ein Aufruf und eine Anforderung an das, was wir im humanitären Völkerrecht und in unseren Gefühlen als das Unmittelbarste und Wichtigste empfinden: Menschen, die auf dem Meere in Gefahr sind zu ertrinken, müssen gerettet werden. Das ist das, was mir bei jeder Zahl, auch bei der geringeren Zahl nicht aus dem Kopf heraus geht. Es ist nicht möglich, etwas anderes sich vorzustellen und zu fordern als, wir müssen etwas organisieren, was diese Menschen rettet.
Deutschlandradio Kultur: Herr Neudeck, auf Grundlage einer seit langem geltenden Vereinbarung innerhalb der EU müssen sich diejenigen Staaten um Flüchtlinge kümmern, in denen diese Menschen ankommen. Und da der Landweg inzwischen fast völlig versperrt ist, kommen die allermeisten auf Booten und Schiffen. Und dann landen sie naturgemäß meist in Italien, in Spanien und auf Malta. - Drücken sich da nicht die Nichtmittelmeerländer und damit auch Deutschland ein Stück weit vor der Verantwortung?
Neudeck: Eindeutig. Und ich glaube, jeder Politiker aller 28 EU-Regierungen weiß das mittlerweile. Wir stehen ja auch kurz davor, dass die EU endlich begreift, dass das eine genuine europäische Aufgabe sein muss und dass zur Erfüllung dieser Aufgabe eine EU-, eine europäische Quote her muss. Denn es kann nicht sein, dass Italien, Malta, Sizilien, Spanien, Ceuta, dass diese Staaten und Plätze am Mittelmeer so belastet sind und die anderen im Norden nicht.
Deutschlandradio Kultur: Helfen Sie uns mal an der Stelle, Herr Neudeck. Bundesinnenminister De Maiziere klagt darüber, dass zum Beispiel Italien absprachewidrig viele Flüchtlinge in den Zug nach Norden setzt und wir hier in Deutschland vergleichsweise viele Asylbewerber aufnehmen. Tatsächlich haben ja in diesem Jahr bereits rund 100.000 Menschen in Deutschland Asyl beantragt. Und weitere 100.000 werden bis Ende 2014 noch erwartet. - Würden Sie gleichwohl sagen, dass die deutsche Asylpolitik unbarmherzig und inhuman ist?
"Wir haben eine durchbürokratisierte Asylpolitik bekommen"
Neudeck: Ich würde mich vor solchen Attributen erstmal hüten. Ich glaube, dass da eine andere Qualität festzustellen ist. Wir haben im Laufe der letzten Jahrzehnte eine durchbürokratisierte Asylpolitik bekommen, die dazu führt, dass Asylbewerber, die zu uns kommen, und Flüchtlinge einen unglaublichen Haufen an Papier mit Hilfe fremder Dolmetscher und einheimischer Juristen durchforsten müssen. Das ist einfach eine Politik, die ist nicht inhuman, aber sie muss sich fragen lassen, ob sie dem Schicksal von Menschen, die unmittelbar etwas Furchtbares durchgemacht haben, gerecht wird.
Italien hat eine andere Tradition der Aufnahme von Menschen. Die kann man so wie der Innenminister De Maiziere pflichtvergessen nennen, aber ich glaube, sie ist sehr viel menschlicher. Sie nimmt die Menschen erstmal auf. Sie nimmt sie nicht gleich in ein Verfahren, sondern sie lässt sie erstmal im Lande ruhig leben. Man kann dort auch arbeiten. Also, man hat nicht so viele Einschränkungen wie der deutsche ordentliche Asylbewerberstaat es hat.
Deutschlandradio Kultur: Würden Sie denn gleichwohl sagen: Wenn es dieses Jahr tatsächlich 200.000 Asylanträge werden, das ist zu wenig, Deutschland muss mehr tun? Oder stehen wir hier in Europa vergleichsweise gut da?
Neudeck: Wir stehen in Bezug auf humanitäre Aktionen, auf Aufnahme von Menschen in besonderen Situationen eigentlich als Bundesrepublik Deutschland und als Gesellschaft sehr gut da. Also, ich kann überhaupt keine Möglichkeit finden, meine Gesellschaft da abschätzig zu behandeln, im Gegenteil. Wir haben in der Vergangenheit bewiesen, dass bei ganz dringenden, lauten, schreienden Notsituationen die Gesellschaft der Bundesrepublik, meine Mitbürgerinnen und Mitbürger und auch die Bundesregierung und die Länderregierungen, sehr wohl bereit waren, mehr zu tun als vergleichbare europäische Nachbarländer. Ganz eindeutig muss ich das sagen.
Dennoch ist das ja ein Anspruch, den wir an uns haben, und der gilt nicht im Vergleichsmaßstab. Der Anspruch, den wir an uns haben, hat sicher auch damit zu tun, dass wir in der Welt ganz besonders uns bewähren wollen im humanitären Bereich. Der Anspruch, den wir an uns haben, ist, dass wir mehr tun wollen.
Das drückt sich nicht unbedingt in Zahlen aus, sondern es drückt sich in der Bereitschaft aus, Not wahrzunehmen, brutale Existenznot von Menschen, die wir jetzt zum Beispiel bei den Syrern, auch bei den Eritreern, bei den Jesiden aus dem Nordirak haben. Da ist uns unsere Gesellschaft in der Vergangenheit, ich erinnere nur an den Bosnienkrieg 1994, unglaublich stark gewesen und hat Leistungen gebracht, die kein europäisches Land gebracht hat.
"Die Verwaltung wird immer sagen, das Boot ist voll"
Deutschlandradio Kultur: Am vergangenen Wochenende wurde bekannt, dass in mehreren Asylbewerberheimen Flüchtlinge von Mitarbeitern privater Sicherheitsdienste misshandelt worden sind. Seitdem sind Empörung und Entsetzen natürlich groß, aber es herrscht auch eine ebenso große Hilflosigkeit angesichts einer Situation, in der sich etwa die Kommunen absolute überfordert fühlen mit der Bewältigung der Flüchtlingssituation. - Was meinen Sie: Wäre es jetzt an der Zeit, das Thema ganz neu zu denken, sozusagen eine grundlegende Wende im Umgang mit Asylsuchenden einzuleiten?
Neudeck: Ich bin sehr dafür, dass wir darüber nachdenken und das Entsprechende daraus auch schlussfolgern und machen. Das erste ist, dass ich sagen möchte, wir tun den Gemeinden Unrecht, in denen das ganz anders bisher organisiert ist. Ich war in einer Gemeinde in Westfalen, in Minden, vor ein paar Tagen und habe dort erlebt, was ich noch nie in Deutschland in so vorbildlicher Weise erlebt habe, dass dort die Asylbewerber selbst mit einbezogen werden in den Diskurs der Gemeinde – mit allen, mit den Kirchengemeinden, mit dem Bürgermeister, mit dem zuständigen Verwaltungsleiter – und diese Flüchtlinge auch möglichst in privaten Quartieren, die angemietet werden, untergebracht werden, damit sie nah bei den Menschen sind.
Das gibt es also in Deutschland. Das ist kein besonderer Fall, sondern das ist eine Gemeinde, die es bewiesen hat, dass man das anders machen kann.
Das andere ist, dass ich immer dagegen bin, wenn die Gesellschaft und die Medien nur auf die Politik und die Verwaltung mit dem großen Zeigefinger zeigen und sagen, nun macht mal. Nun macht mal bessere und größere Quoten. – Das ist allein nicht ausreichend. Die Gesellschaft selbst und das, was wir vornehm mit einem Modewort „Zivilgesellschaft" nennen, zumal die Kirchen, müssen in dieser Situation der Politik und der Verwaltung helfen.
Die Verwaltung wird immer, solange sie Verwaltung ist, sagen, das Boot ist voll. Deshalb kann es gar nicht anders sein, dass das eine Aufgabe mit auch der Gesellschaft ist, für Plätze zu sorgen, für angenehme Unterkünfte, für ein Willkommen diesen Menschen gegenüber, eine Gastfreundschaft, die wir in traditionellen Ländern ja immer noch haben.
Deutschlandradio Kultur: Herr Neudeck, Sie sprechen die Gesellschaft an, was mich zu meiner nächsten Frage führt. Einer repräsentativen Umfrage zufolge, eine Umfrage, die ganz aktuell ist, ist jeder zweite Bürger hierzulande dafür, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, aber 45 Prozent haben sich explizit dagegen ausgesprochen. - Was kann man hier an Aufklärung leisten, um diese Quote möglicherweise zu ändern?
"In Europa Ausbildungsplätze für junge Afrikaner schaffen"
Neudeck: Ganz viele Kommunikation ist das geheime Mittel, mit dem wir das erreichen. Ich erlebe meine Gesellschaft immer mehr als hilfreich, wenn sie erfährt durch Kommunikation, durch Bilder, durch Medien, durch politische Aufklärung, wenn sie erfährt, dass es Menschen ganz besonderer Herkunft gibt, die unmittelbar in Lebensnot sind. Dann war meine Gesellschaft immer in der Lage zu Großtaten. Ich erinnere auch an unser Schiff damals, die Cap Anamur. Das war keine Aktion der Bundesregierung. Das war eine Aktion von 15 Millionen Spendern in der Bundesrepublik Deutschland. Die haben es geschafft, dass 11.340 Menschen hierzulande Unterkunft und eine sehr gute Integration erleben konnten.
Deutschlandradio Kultur: Wir werden im Verlauf der Sendung auf Cap Anamur selbstverständlich noch zurückkommen. Lassen Sie mich noch einen Moment bei der aktuellen Situation bleiben mit einer Frage, die natürlich auch schon vor 40 Jahren aktuell war: Eine neue Asylpolitik, ein humanerer Umgang mit Flüchtlingen, ein anderes Verständnis für die Not dieser Menschen würde sicherlich allein die Not und das Problem nicht lösen. – Was müsste denn noch geschehen zum Beispiel im Bereich der Entwicklungshilfe?
Neudeck: Die Entwicklungshilfe hat ja wahrscheinlich darin versagt, dass sie es nicht geschafft hat, den Sorgenkontinent Afrika, aus dem uns ja in den nächsten zehn Jahren noch viel mehr Menschen entgegenkommen werden – zu Wasser, zu Lande und in der Luft – in einigen wenigen Ländern Afrikas zu Verhältnissen zu kommen, die der jungen Hälfte der Gesellschaft Arbeitsplätze gibt. Das ist aber das, weshalb junge Menschen aus Afrika diesen unglaublich gefährlichen, beschwerlichen Weg über Jahre zu uns hin beanspruchen und in Kauf nehmen.
Und wir müssen sehen, dass wir auch in unserem Europa Ausbildungsplätze schaffen, die jungen Afrikanern zur Verfügung stehen, die dann in ihr Land zurückgehen. Das kann man gut organisieren mit einigen wenigen Staaten in Afrika, die schon als Staaten gut aufgestellt sind, um denen auch eine First-Class-, eine Erste-Klasse-Ausbildung zu geben besonders in Berufen, die in Afrika ganz besonders gefragt sind. Ich erwähne nur allein hier die Solarindustrie, die ist in Afrika unglaublich wichtig.
Deutschlandradio Kultur: Herr Neudeck, Sie haben es schon kurz gestreift. In Syrien und im Irak herrscht Krieg. Jeder zweite Syrer ist auf der Flucht. Im Irak ist die Situation kaum weniger dramatisch, vor allem wegen der Terrormilizen des IS, des so genannten Islamischen Staats. Im Nordirak werden die kurdischen Peschmerga-Soldaten jetzt mit deutschen Waffen ausgestattet, damit sie sich gegen den IS wehren können. Sie sind bekennender Pazifist und Sie haben sich trotzdem im August für diese ja hierzulande nun wirklich nicht unumstrittene Waffenlieferung ausgesprochen. – Warum?
"Von außen gesteuerte und finanzierte Bewegungen"
Neudeck: Weil ich gesehen habe, dass der Pazifismus ja nicht dadurch entsteht, dass ich meine Seele frei halte, rein halte, indem ich weiter meine pazifistische Überzeugung wie eine Monstranz vor mir her führe, sondern indem ich eine konkrete Situation wahrnehme.
Ich habe zweimal in meinem Leben für Waffen plädiert, weil ich Menschen gesehen habe, die zugrunde gehen, wenn wir das nicht getan hätten. Das erste war 1993/94 in einer europäischen Großstadt, die hieß Sarajewo. Dort war eine Großstadtbevölkerung meiner Herkunft in Gefahr ermordet zu werden von den Geschützen der serbischen Soldaten auf den Bergen drum herum. Da war ich sehr für Waffen für die bosnische Verteidigung.
Jetzt sehe ich, dass wir wahrscheinlich überhaupt nicht in der Lage sind, etwas anderes zu tun, als die einzige wirklich gute disziplinierte Formation, die gegen den ISIS bisher standgehalten hat, nämlich die Peschmergas der kurdischen Entität im Nordirak, dass wir die mit Waffen ausrüsten.
Dass das ein Risiko ist, das ist in der Politik immer so, mit jeder polischen Entscheidung trifft man Risiken, ganz klar. Dass sich da Schwierigkeiten auftun, das ist auch ganz klar. Aber ich bin sehr dafür, dass wir das Einzige tun, was diesen Menschen unmittelbar jetzt zum Schutz verhilft.
Deutschlandradio Kultur: Herr Neudeck, Sie sind in den vergangenen Jahrzehnten nun wirklich rumgekommen in der Welt, waren an vielen Orten, haben vieles erlebt. – Haben Sie schon mal etwas so Monströses erlebt wie diesen so genannten Islamischen Staat?
Neudeck: Nein, ich habe so etwas Verbrecherisches, so etwas Grundkriminelles als Organisation, das sich einsetzt für Entführung und für Enthauptungen, für Gewaltigungen, für Massenkonversionen - das hat es jedenfalls in meinem Erfahrungsbereich in den letzten 35 Jahren noch nicht gegeben. Und ich bin darüber entsetzt, weil ich das Heraufkommen dieser ISIS in Syrien miterlebt habe. Ich glaube, dass man klar sagen muss, dass dieses unmittelbar auch von Saudi Arabien mit finanziert wurde und Saudi Arabien jetzt selbst Angst hat vor den Kindern, die es da gezeugt hat. Aber wir müssen sehen, dass wir auf Dauer unsere freundschaftliche Politik, unsere partnerschaftliche Politik mit Saudi-Arabien beenden in Europa.
Überall, wo ich diese Al-Qaida in Maghreb oder Boko Haram in Nigeria oder in Ägypten erlebt habe, sind das von außen gesteuerte und finanzierte Bewegungen, so wie die ISIS das auch ist. Ich habe dort auch Deutsche erlebt. Ich habe dort auch Bosnier erlebt und Tschetschenen. Die sind alle von außen geholt worden, verdienen unglaublich viel Geld. Und ich denke, wir müssen unmittelbar eine Konsequenz ziehen, dass wir mit Saudi Arabien diese guten Beziehungen nicht weiterführen.
"Wir müssen um die Hälfte der Bevölkerung besorgt sein"
Deutschlandradio Kultur: Gehen wir zurück unmittelbar in die Region Syrian und Irak. Sie haben bereits Ende Juni gesagt: "Wir erleben vor unseren Augen die wahrscheinlich größte humanitäre Katastrophe seit den Völkermorden in Kambodscha und Ruanda." - Die humanitäre Hilfe, die der Westen und damit auch Deutschland leistet, reicht offenkundig vorn und hinten nicht. Und nun steht der nächste Winter vor der Tür. Und auch der ist dort kalt. Wie könnte man den Menschen dort jetzt am besten helfen?
Neudeck: Also, man muss zu den äußersten Notmaßnahmen, die die Weltgemeinschaft hat, Zuflucht nehmen. Man muss auch Zuflucht nehmen zum Abwurf von Nahrungsmitteln in Syrien und von Medizin. Ich habe das bisher nur im Südsudan seinerzeit vor 25 Jahren erlebt, dass das notwendig war. Hier wird es auch notwendig sein. Syrien ist das Land, in das wir kaum reingucken können gegenwärtig, aber wir hören von Beobachtern, von Leuten, die an der türkischen Grenze ankommen und unseren Leuten das berichten, dass es sogar Hunger jetzt in Syrien gibt. Also, wir müssen um die Hälfte der Bevölkerung besorgt sein.
Das andere ist, dass wir im Wettlauf mit der Zeit jetzt sind, was den Nordirak angeht. Ich hoffe, dass wir ihn gewinnen können. Wir haben dort eine Situation mit allein in der Provinz Dohuk im Nordirak einer Bevölkerung von 1,3 Milllionen, die mit 700.000 Flüchtlingen umgehen muss. Und ich denke, der Wettlauf mit der Zeit ist deshalb so dringlich, weil die Zeltstädte, die dort entstanden sind, jetzt winterfest gemacht werden müssen. Das ist technisch möglich, aber es ist eine Frage der Zeit, ob wir das noch schaffen. Und es müssen sanitäre Einrichtungen geschaffen werden, damit in vier Wochen diese Menschen so leben können, dass uns nicht Bilder von erfrierenden Kindern über die Fernsehmattscheibe oder über das Radio ins Haus kommen.
Deutschlandradio Kultur: Herr Neudeck, als wäre das Elend der Welt nicht schon groß genug, wird nun auch noch Westafrika von einer Ebola-Epedemie heimgesucht. Mehr als 3.000 Menschen, vor allem in Liberia, Guinea und Sierra Leone, sind bereits ums Leben gekommen und es können noch Zigtausende mehr werden. - Hat die Welt diese Krise nach Ihrem Eindruck verschlafen und bemerkt erst jetzt so richtig, was dort in Westafrika seit vielen Wochen vor sich geht? Oder ist das eher Gleichgültigkeit statt Schläfrigkeit?
Neudeck: Ich denke, Verschlafenheit müsste man, wenn es ein Vorwurf ist, der Pharmaindustrie vorwerfen, die ja immer dann ganz kregel ist in dem Erfinden von Impfstoffen und von Medikamenten, wenn es einen Markt gibt, der profitabel genug ist. Aber das ist Afrika leider immer noch nicht. Deshalb haben wir dort auch eine ganz andere furchtbare Krankheit, die bis heute auch nicht besiegt worden ist, nämlich die Malaria, die weitaus mehr Opfer pro Jahr hat als die von Ihnen erwähnte Zahl der Ebola-Opfer. Also, wir haben eine Situation, in der wir weiter in dieser Welt so leben, als ob wir die Wertvollen sind und die anderen nicht so wertvoll sind. Das, wünschte ich mir, müsste sich zu Zeiten meiner Generation ändern.
"Das macht keinen Sinn"
Deutschlandradio Kultur: Ist Ihre Hilfsorganisation Cap Anamur derzeit noch immer in Sierra Leone aktiv?
Neudeck: Ja. Sie ist weiter aktiv. Aber das Aktive ist eben begrenzt. Das ist ja auch das, was wir jetzt bei dem Einsatz der Bundeswehr und mit dem Personal der Bundeswehr, der Freiwilligen, erleben können. Es ist eine sehr eingeschränkte Aktivität, weil sie sich auf die Isolation der Fälle beschränken muss, die mit der äußersten Sicherheitsvorausnahme für die eigenen Mediziner vor sich gehen muss. Also, die Arbeit für Ebola-Kranke und gegen die Ebola-Krankheit ist weiterhin medizinisch sehr, sehr begrenzt.
Deutschlandradio Kultur: Und was sagen Ihre Mitarbeiter vor Ort? Man hört ja jetzt auch, dass direkt infolge der Ebola-Epidemien nun auch noch eine Versorgungskatastrophe droht. Deutet sich das bereits konkret an?
Neudeck: Ja. Das macht nochmal deutlich, dass das, was wir vollmundig mit der Entwicklungspolitik – und damit meine ich alle europäischen Länder bis nach Skandinavien – erreichen wollten, in vielen afrikanischen Ländern nicht erreicht haben. Wir haben es nicht erreicht, dass dort diese beiden großen Schwerpunkte der Versorgung, die Medizin- und die Nahrungsmittelversorgung, in einem Maße staatlicherseits garantiert werden können, wie wir das von unseren Ländern gewohnt sind.
Der Gesundheitsbereich ist auch zusammengebrochen in Liberia, Sierra Leone, in Guinea sowieso. Und deshalb muss man wirklich sich überlegen, ob nicht die Entwicklungspolitik aus europäischen Ländern, solange sie noch keine europäische Entwicklungspolitik ist, ganz anders läuft. Wir müssten uns als Deutschland auf zwei afrikanische Länder beschränken, mit denen wir dann auch wirklich große Beziehungen haben – bis hin zu dem Austausch von Kabinettssitzungen, die wir mit solch einem Land in Afrika machen.
Dass das bisher immer noch ein Ding fast der Unmöglichkeit ist, halte ich für verkehrt.
Deutschlandradio Kultur: Also eine Art Patenschaftsmodell, wenn man so will.
Neudeck: Genau, eine Art Patenschaftsmodell aus der Einsicht heraus, dass es nicht sinnvoll ist, 53 Länder Afrikas – bildlich gesprochen – aus der Luft mit dem Manna der Entwicklungsgelder zu bestreuen. Das macht keinen Sinn. Sinn macht es aber, wenn wir uns mit einem oder zwei Ländern richtig ganz Freund machen und dort auch Beziehungen entstehen, die von unserer Bevölkerung und von der dortigen Bevölkerung als privilegierte Freundschafts- und Partnerschaftsbeziehungen erkannt werden.
"Die beiden Organisationen in gewisser Weise spezialisiert"
Deutschlandradio Kultur: Herr Neudeck, Cap Anamur und Grünhelme, wie unterscheiden sich eigentlich diese beiden humanitären Hilfsorganisationen - oder sind beide absolut das Gleiche?
Neudeck: Nein, das Gleiche nicht. Sie haben ein gemeinsames Korsett, weil sie beide darauf bestehen, weiter ganz reine, Nichtregierungs-Organisationen zu sein. Damit meine ich, wir verweigern in gewisser Weise staatliche Subventionen, damit auch Subventionen von der Europäischen Union, die man vergleichsweise leicht bekommen kann, die einem aber das Entscheidende und Schönste bei dieser Arbeit verlustig gehen lässt, nämlich die Unabhängigkeit.
Wir haben Cap Anamur nur machen können, wir haben die Bootsflüchtlinge nur retten können, weil es eine Aktion der Bevölkerung war. Das ist die gemeinsame Grundlage.
Ansonsten haben sich diese beiden Organisationen zu meiner großen Freude in gewisser Weise spezialisiert und arbeiten mittlerweile auch nebeneinander an bestimmten Orten. Cap Anamur hat sich mehr und mehr zu einer medizinischen Großorganisation entwickelt. Die Grünhelme machen mehr Arbeit mit Bauhandwerkern jeglicher Couleur und bauen Schulen, zum Beispiel 30 Schulen in West-Afghanistan oder jetzt auch im Kongo, oder Solaranlagen in Ruanda und in Mauretanien auch.
Deutschlandradio Kultur: Und völlige staatliche Unabhängigkeit heißt, Sie leben ausschließlich von Spendengeldern?
Neudeck: Genau.
Deutschlandradio Kultur: Cap Anamur ist inzwischen 35 Jahre alt, entstand seinerzeit, um – Sie sagten es – vietnamesische Flüchtlinge, die so genannten boat people zu retten. Inzwischen war Cap Anamur, hab ich gelesen, in fast 60 Ländern aktiv. – Wo sind Sie denn zurzeit aktiv, außer in Sierra Leone, was wir schon ansprachen?
Neudeck: Hauptsächlich in afrikanischen Ländern, dazu kommen einige asiatische Länder wie Bangladesch und Pakistan. Es hat sich weiter so bewahrheitet, was wir schon vor zehn Jahren gefühlt haben. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat die Welt eigentlich nicht mehr die Dritte Welt, von der wir früher gesprochen haben, sondern wir haben eigentlich den einzigen Sorgenkontinent Afrika. In dem entscheidet sich das Schicksal der Armutsbekämpfung.
Das entscheidet sich nicht mehr in Südostasien. Dort haben wir mittlerweile, wie wir alle lebhaft von unserem Einkaufsverhalten wissen, die Tiger der Weltwirtschaft, die uns auch Konkurrenz machen. Das Gleiche gilt für Brasilien und Südamerika. Nein, die Zukunft dessen, was wir früher Entwicklungspolitik genannt haben, die Zukunft der globalisierten Weltwirtschaft entscheidet sich an dem einen Kontinent, der immer noch herausgefallen ist aus der globalisierten Weltwirtschaft. Und das ist Afrika. Und dort haben wir die meisten Projekte.
"Wir brauchen keine Aussteiger"
Deutschlandradio Kultur: Herr Neudeck, wie rekrutieren Sie eigentlich die Helfer für Cap Anamur und Grünhelme, und welche Fähigkeiten bzw. beruflichen Fertigkeiten sollten oder müssten diese Leute mitbringen?
Neudeck: Ich sage immer scherzhaft: Besser nicht das studieren, was ich gemacht habe, also nicht Philosophie, Theologie, Germanistik und das – wie Tucholsky sagen würde – det Jeistige.
Deutschlandradio Kultur: Dann wird man am Ende Journalist, denn das waren Sie auch...
Neudeck: Aber wir brauchen eigentlich die Mitarbeiter aus zwei großen Berufszweigen. Das eine ist die Medizin in jeder nur denkbaren Variation, manchmal sogar nicht immer die arbeitsteilige Medizin. Wir sind zum Beispiel sehr angewiesen auf Krankenschwestern und Krankenpfleger, weil die in Deutschland sehr viel lernen und eigentlich das alles, was sie schon können, in Afrika oder in den Projekten sehr viel besser ausnutzen können – also Mediziner in jeder Weise.
Dann brauchen wir für die Arbeit beim Aufbau von Ambulanzen, von Flüchtlingscamps, von Hospitälern und Schulen unbedingt alle Bautechniker, Bauingenieure, Architekten, Zimmermänner, Zimmerleute, Maurer, aber eben auch Elektroingenieure. Solaringenieure sind für unsere Arbeit von ganz, ganz großer Wichtigkeit geworden. Das sind die Leute, die wir eigentlich über die Medien suchen, indem wir Veranstaltungen machen und werben. Und zu unserer großen Freude können wir eigentlich immer wieder davon ausgehen, dass die Menschen, die wir brauchen für diese Arbeit, dass die zu uns kommen und sich verpflichten.
Deutschlandradio Kultur: Womit Sie meine nächste Frage beantwortet haben, nämlich der nach ausreichend geeignetem Personal. Das ist ja insofern auch besonders interessant, weil, es sind ja schwierige Umstände und vermutlich ja auch wenig Geld, für das man da arbeitet.
Neudeck: So gut wie gar kein Geld, wenn ich das sagen darf. Also: Aber es gibt zwei negative Kriterien, die ganz wichtig sind und die man gut anlegen kann: Was wir nicht brauchen, sind Leute, die sagen, dieses Europa gibt mir nichts mehr und ich kann in meinem Beruf hier eigentlich gar nicht mehr zur Vollblüte kommen, sondern ich muss da in diese Welt der Habenichtse und der Schmuddelkinder. So jemand ist bei uns verkehrt. Er muss hier in Deutschland oder in Europa seinen Beruf gerne tun. Dann kann er das auch vor Ort in Afrika oder Asien oder auf dem Balkan gut tun.
Das Zweite ist, wir brauchen keine Aussteiger. Wir brauchen nicht die Leute, die sagen, dieses Europa ist zu schal oder zu langweilig, sondern wir brauchen Leute, die in der Lage sind, das, was sie gelernt haben, unter total anderen Bedingungen, die man auch durch lange Vorbereitungskurse nicht so erkennt, wie man das möchte - weil, der Zusammenprall mit den Bedingungen vor Ort ist das Entscheidende. Und diese Menschen findet man eigentlich immer, sowohl in der jüngeren Generation wie auch bei denen, die mittlerweile pensioniert sind und gerne noch einmal ihre Arbeitskraft, ihre Erfahrung, ihre professionelle Erfahrung ausnutzen möchten.
"Ich bin ein Flüchtlingskind"
Deutschlandradio Kultur: Sie sagten schon, es geht vor allen Dingen auch bei Cap Anamur um die medizinische Versorgung und Verbesserung der medizinischen Lage. Geht es denn Ihren Mitarbeitern bei Projekten auch um Infrastruktur, um Bildung? Oder ist das immer situationsabhängig?
Neudeck: Ja. Es geht immer auch um Ausbildung, auch wenn das keine formierte Ausbildung ist. Wir suchen diese Leute. Deshalb können wir, im Äußersten gesagt, niemanden aufnehmen, der gerade sein Examen gemacht hat, weil, der hat noch keine Berufspraxis. Denn wir brauchen jemanden, der seine Arbeitsfähigkeit weitergeben kann dadurch, dass er Ausbildung macht bei denen, mit denen er am Schulbau zusammenarbeitet oder im Hospital zusammen die Diagnose und die Therapie macht. Wir brauchen Leute, die im Beruf schon Erfahrung haben, also nicht die, die das gerade eben abgeschlossen haben an einer Schule oder Universität.
Deutschlandradio Kultur: Ist hier eigentlich pari pari Männlein, Weiblein oder gibt's mehr Männer oder mehr Frauen, die bei Ihnen mitmachen?
Neudeck: Nicht unbedingt pari pari, sondern gesellschaftlich repräsentativ, sage ich mal. Aber es ist immer wieder interessant zu beobachten, dass wir selbst in islamischen Ländern wie Afghanistan Baustellen gehabt haben, auf denen ein weiblicher Bauingenieur in der Lage war, die Baustelle zu schmeißen und zu leiten. Das wird akzeptiert.
Deutschlandradio Kultur: Herr Neudeck, seit mehr als vier Jahrzehnten helfen Sie. Sie sind studierter Theologe, Doktor der Philosophie und ehemaliger Hörfunkredakteur. Sie helfen seit vier Jahrzehnten Menschen in Not. – Was treibt Sie eigentlich an? Woher rührt dieses nimmermüde Engagement?
Neudeck: Das ist die schwierigste Frage, weil ich das selbst wahrscheinlich nicht so genau oder kompakt weiß, wie Sie das jetzt fragen. Es hat gewiss mit meiner Kindheit zu tun. Ich bin ein Flüchtlingskind. Wir haben auf einem unglaublich glücklichen Wege am 30. Januar 1945 um eine Stunde die Wilhelm Gustloff verpasst, die dann später mit 9.700 meiner Landsleute untergegangen ist durch Torpedobeschuss. Das hat mich sehr geprägt, die Flucht, die Erfahrungen der unglaublichen Anstrengungen der Mütter damals, meiner Mutter.
Das hat mich geprägt bis heute. Ich habe manchmal in Flüchtlingslagern noch die Situation, dass ich Bilder abrufen kann aus dieser ziemlich furchtbaren Zeit, die wir erlebt haben. Das hat mich dann wahrscheinlich dazu gebracht, als wir in so guter Weise in der neuen Gesellschaft durch Wohlstand wieder geprägt waren und durch Verhältnisse von Rechtsstaat und Sozialstaat, dass ich gemeint hatte, wir müssen davon was abgeben den Menschen, die aufgrund ihrer Geburt eben nicht in solchen Verhältnissen aufwachsen. Ich denke, das ist eine entscheidende wichtige Motivation.
Das andere ist ganz sicher das Evangelium, das mich von Kindheit an sehr geprägt hat, also die Vorstellung, wenn jemand in Not ist, muss man ihm helfen, ganz gleich, ob man sich dafür zuständig hält oder nicht.
Deutschlandradio Kultur: Herr Neudeck, eine allerletzte Frage habe ich noch. Vor einigen Monaten sind Sie 75 Jahre alt geworden. Und auf die Frage, was Sie sich zum runden Geburtstag wünschen, haben Sie unter anderem gesagt: "Wenigstens in Ansätzen eine dieser wunderbaren arabischen Sprachen lernen". – Haben Sie schon die Zeit gefunden, damit zu beginnen?
Neudeck: Ich habe mein Buch schon dabei, mit dem ich zumindest die arabischen Lettern, die ja eine ganz wunderbare Kalligraphie schon darstellen, mir vorgenommen habe. Ich möchte eigentlich noch warten, bis Syrien wieder frei wird, weil dann, habe ich die Vorstellung, könnte ich mit Bekannten, die ich während der Arbeit in Syrien 2012/13 gewonnen habe, dass ich dort mit denen in einem Dorf bin und vielleicht die Anfangsgründe des Arabischen lernen kann.
Deutschlandradio Kultur: Dann wünsche ich Ihnen viel Spaß beim Lernen und vor allen Dingen viel Erfolg weiterhin bei Ihrer Arbeit.
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