Anti-Kriegsprotest in Riga, der lettischen Hauptstadt – an sich nichts Ungewöhnliches. Schließlich ist die überwältigende Mehrheit der zwei Millionen Lettinnen und Letten gegen den Überfall Russlands auf die Ukraine.
So wie die Frau auf der Bühne am Freiheitsdenkmal, eine bekannte Sängerin.
Russen protestieren gegen Russland
Und doch ist der Protest etwas Besonderes. Hier protestieren nämlich genau die, von denen der russische Machthaber Wladimir Putin sagt, er halte seine "schützende Hand" über sie.
„Blau-weiße russische Flagge ohne Rot, also ohne Blut“: Der russischstämmige Mediziner Andrzej Temechovski bei einer Anti-Kriegsdemonstration vor dem Freiheitsdenkmal in Riga.© Deutschlandradio / Michael Frantzen
Andrzej Temechovski ist ethnischer Russe, wie rund ein Drittel der lettischen Bevölkerung – und für Frieden, gegen Krieg.
Blau-weiße Flagge der lettischen Russen
Deshalb ist der junge Arzt an diesem sonnigen Frühlingsnachmittag in die Innenstadt gekommen, deshalb die blau-weiße Flagge in seiner Hand.
Das ist eine Flagge von lettischen Russen, die gegen den Krieg sind. Gegen Putin. So viel ich weiß, entstand die Flagge gleich zu Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine – als Zeichen des Protests. Sie ist symbolisch gemeint. Sie sieht ja aus wie die russische Flagge, nur ohne das Rot. Ohne Blut.
Andrzej Temechovski, in Lettland lebender Russe
Gut 400, 500 Leute mögen sich auf den Vorplatz des Freiheitsdenkmals versammelt haben. Frauen, Hipster, auf Bänken ältere Russinnen mit gestickten Westen und blau-weißen Fähnchen, auch sie Kriegsgegnerinnen. Der Mann mit dem Vollbart strahlt.
Andrzej ist das wichtig, dass so viele aus seiner Community da sind, schließlich heißt es in den lettischen Medien schon mal gerne, sie seien unsichere Kantonisten. Doch seit dem Krieg hat das nachgelassen.
„Gleich zu Kriegsbeginn haben Regierungsvertreter gesagt, dass die russischsprachige Minderheit in unserem Land zu uns gehört. Es sind Europäer wie wir, Lettland braucht sie“, erzählt er. „So etwas haben wir in den 30 Jahren seit der Unabhängigkeit noch nie gehört. Das ist ein starkes Symbol, dass sich der Staat zu uns bekennt.“
"Putin soll mich in Ruhe lassen"
Lettland und der übermächtige Nachbar im Osten: Das war immer schon eine komplizierte Geschichte. Das muss man Andrzej nicht zwei Mal sagen, er kennt sich da aus.
"Es ist einfach nicht mein Land": Anti-Kriegsprotest gegenüber der russischen Botschaft in Riga.© Deutschlandradio / Michael Frantzen
Nach 1945 wurden Zehntausende Lettinnen und Letten von den Sowjets ermordet beziehungsweise nach Sibirien verbannt. Machen sich russische Kampfjets seit der Unabhängigkeit des Baltenstaates 1991 einen Spaß daraus, in den lettischen Luftraum einzudringen. Der 26-jährige hat dafür kein Verständnis.
„Auf keinen Fall. Definitiv nicht. Ich bin in Riga geboren, lettischer Staatsbürger. In meinen ganzen Leben habe ich ungefähr einen Monat in Russland verbracht. Als Tourist“, sagt er. „Es ist einfach nicht mein Land. Okay, Russisch ist meine Muttersprache. Aber ich fühle mich als Europäer, als Lette. Wladimir Putin soll mich in Ruhe lassen.“
Allergisch auf den Kremlherrscher reagiert auch Wladimir Voicehovskis. Nadelstreifenanzug, Mütze, gewienerte Schuhe. Fast wirkt es, als ob der Medizinprofessor auf dem Weg zur nahe gelegenen Oper sei. Doch man sollte sich da nicht täuschen.
"Ich fühle mich jetzt noch mehr als Lette"
Der Mittfünfziger ist Mitglied von Lettlands einziger russischen Burschenschaft, deshalb sein gestriegeltes Outfit. Er und die anderen „Burschen“ mögen zwar miteinander Russisch reden, doch Russland zugehörig fühlt sich keiner so richtig, schon gar nicht Wladimir.
Ich hasse das. Ich will nicht zur Russischen Föderation gehören. Da gibt es keinerlei Bindung. Erst recht nicht seit dieser Aggression. Im Gegenteil, ich fühle mich jetzt noch mehr als Lette. Meine ethnischen Wurzeln, meine Muttersprache mögen Russisch sein, doch das heißt nicht, dass ich diesen Krieg und Putin unterstütze. Meine Herkunft und dieser Krieg – das sind zwei ganz verschiedene Dinge.
Wladimir Voicehovskis, Medizinprofessor
Meint der Mediziner, ehe er anfängt, in seiner Jackentasche zu kramen. Er holt einen kleinen Zettel hervor: Notizen für seine Rede gleich auf der Bühne.
Alle in der Familie sind gegen den Krieg
In seiner Familie sind alle gegen den Krieg. Seine Frau, die Kinder, seine neue Untermieterin.
„Wir unterstützen eine geflüchtete ukrainische Medizinerin. Sie kommt aus Charkiw. Sie und ihre zwei kleinen Kinder sind in meiner Zweitwohnung untergekommen“, erzählt er. „An meiner Universität kenne ich inzwischen mindestens drei ukrainische Kollegen, die seit Kriegsbeginn bei uns arbeiten.“
„Natürlich ist der Krieg ein großes Thema bei uns“: Die russische Buchhändlerin Arina Lindenen (l.) und ihre Mitarbeiterin Aija in ihrer Buchhandlung in Riga.© Deutschlandradio / Michael Frantzen
Auch Arina Lindenen unterstützt die Ukraine. Auf dem Boden ihrer Buchhandlung im Gründerzeitviertel von Riga steht ein Karton, darin gespendete Medikamente. Zwei Freunde von ihr fahren einmal die Woche beladen mit Hilfsgütern nach Charkiw.
Sanktionen treffen auch den Buchhandel
Seit neun Jahren lebt die 36-jährige Russin in Riga, ihr Mann ist Lette. Und fast genauso lang gehört ihr „Vilki Books“, ihre kunterbunte, russischsprachige Kinderbuchhandlung.
„Natürlich ist der Krieg ein großes Thema bei uns. Wir spüren das täglich: geschäftlich, im Alltag, beim Kontakt mit unseren Freundinnen und Freunden und unserer Verwandtschaft in Russland“, sagt sie. „Allein der wirtschaftliche Aspekt. Es wird für uns immer schwieriger, Literatur aus Russland zu importieren – wegen der Sanktionen. Also ja, es ist ein großes Thema.“
Arinas Kundschaft sind vor allem russischstämmige Lettinnen. Früher – vor dem Krieg – kamen auch russische Touristinnen ins Geschäft, doch das passiert nur noch selten.
"Der Krieg ist eine Schande"
Die Kundin gerade sucht etwas für ihre achtjährige Tochter. Etwas zum Aufmuntern. Schließlich hat die Kleine neuerdings Angst vor Krieg.
Hier in Lettland sind wir uns alle einig. Der Krieg ist eine Schande. Aber in Russland sieht das anders aus. Ein Großteil meiner Familie lebt dort, hauptsächlich in Moskau. Meine Mutter, meine Schwester, meine Großmutter. Wir reden nicht mehr über den Krieg. Es führt zu nichts. Wir streiten uns sonst nur. Es ist hart für mich, sehr hart.
Russischstämmige Lettin in Riga
Aija ist dazugekommen, Arinas 31 Jahre alte Mitarbeiterin. Auch sie hat es wegen der Liebe vor fünf Jahren nach Lettland verschlagen, auch sie ist überzeugte Kriegsgegnerin. Wie zum Beweis geht die Frau aus Sankt Petersburg zum Regal neben der Kasse.
„Das sind Kinderbücher über Krieg. Zum Teil stammen sie von russischen Autorinnen und Autoren. Aber wir haben auch internationale Bücher. Die Maus-Geschichten – die Comics über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust – verkaufen sich besonders gut“, erzählt sie.
„Seit Kriegsbeginn ist die Nachfrage größer geworden, aber wir hatten solche Bücher schon vorher im Sortiment. Es ist wichtig, den Kindern zu erklären, was Krieg bedeutet.“
Was bedeutet Krieg für Kinder?
Szenenwechsel ins Medizinhistorische Museum von Riga: eine Villa mit Sowjetflair – und einem Seminarraum, in dem in der Ecke ein Skelett steht. Vielleicht nicht 100 Prozent kindergerecht.
Doch die rund 20 Kinder und ihre Eltern stört das nicht weiter. Gebannt lauschen sie Arinas Worten. Zum zweiten Mal findet der Leseworkshop an diesem Samstag statt, eingeladen sind vor allem Kinder ukrainischer Geflüchteter, erzählt Aija, die mitgekommen ist ins Museum.
„Die ukrainischen Kinder und ihre Familien können umsonst ins Museum, zu unserer Veranstaltung. Aber du siehst ja, es sind auch zwei, drei russische und lettische Kinder da“, sagt sie.
„Am liebsten sähen wir es, wenn sich die Familien und Kinder untereinander austauschen und sich gegenseitig helfen. Damit wäre den ukrainischen Kids sehr geholfen. Es würde ihre Integration erleichtern. Aber vor allem machen wir das, damit die Kinder Gelegenheit haben, über den Krieg zu reden. Was das für sie bedeutet.“
"Ich bin früh morgens von der ersten Bombe aufgewacht": Die Ukrainerin Ernita Ronsale ist aus Odessa nach Riga geflohen. Ihr Mann ist noch im Kriegsgebiet.© Deutschlandradio / Michael Frantzen
Seit zwei Jahren leitet Kaspars Vanags das Medizinhistorische Museum. Vorher war er Kunstkurator. Und davor – Anfang der 90er-Jahre – an der Freien Universität in Berlin. „Medizin ist ja politisch“, sagt er.
Gegründet wurde das Museum im Kalten Krieg, als Lettland noch Sowjetrepublik war. Mit dem Auftrag zu beweisen, dass die Sowjetunion dem „Klassenfeind“ auch medizinisch überlegen war.
"Wir wollten unsere Position zeigen"
Kaspars läuft los – durch das Kuriositätenkabinett. Das grüne Monstrum rechts ist eine Eiserne Lunge. Das ausgestopfte Artefakt links in der Vitrine ist Chernuschka, die Hündin, die 1961 ins Weltall geschossen wurde, kurz vor dem Astronauten Juri Gagarin. Zu Forschungszwecken. Lauter museale Alleinstellungsmerkmale.
Seit Anfang März ist ein weiteres dazugekommen. Seitdem sich der Anfang 50-jährige entschloss, ein zehn Meter großes Porträt von Wladimir Putin an die Fassade zu hängen – mit einem stilisierten Totenkopf im Gesicht. Um seinem Nachbarn eins auszuwischen.
Ich sehe ja die russische Botschaft ständig von meinem Arbeitszimmer durch das Fenster. Und es gibt da so viel Frustration und Wut in mir und meinen Kollegen, dass wir erstens nicht still bleiben können. Wir brauchen ein Kommunikationsmittel. Und zweitens liegt das Museum zwischen zwei Botschaften. Zwei Häusern weiter ist die ukrainische Botschaft. Wir wollten in dieser Konstellation auch unsere Position zeigen.
Kaspars Vanags, Leiter des Medizinhistorischen Museums in Riga
Lettland als wichtigster Fürsprecher der Ukraine
Die russische Botschaft war „not amused“ über den Putin’schen Totenkopf. Kaspars ist froh, dass das lettische Außenministerin die russische Protestnote abschmetterte.
Das kommt nicht von ungefähr: Neben Estland und Litauen – den beiden anderen Baltenstaaten – gilt Lettland international als wichtigster Fürsprecher der Ukraine, liefert Waffen, drängt innerhalb der NATO darauf, über der Ukraine eine Flugverbotszone auszurufen – bislang vergeblich.
"Der Krieg gegen die Ukraine bricht mir das Herz": Die russischstämmige Klavierlehrerin Tamara Rinkewitscha mit ihren Töchtern im Friedenscamp gegenüber der russischen Botschaft in Riga.© Deutschlandradio / Michael Frantzen
Um Freiheit und Frieden geht es bei dem Klavierstück auf dem Protestcamp gegenüber der russischen Botschaft.
"Der Krieg ist ganz, ganz schlecht"
Jeden Tag ist hier etwas los. Vor drei Tagen waren lettische und estnische Feministinnen da, um in einer Performance mit blutbeschmierter Unterwäsche gegen sexuelle Gewalt als Kriegswaffe zu demonstrieren. Musiklehrerin Tamara Rinkewitscha hat auch davon gehört. Von ihr stammt die musikalische Friedensbotschaft.
Die Musik drückt aus, was ich gerade empfinde. Ich bin eigentlich kein sonderlich politischer Mensch, aber der russische Krieg gegen die Ukraine bricht mir das Herz. Denk nur an die ganzen Kinder. Ich habe selbst drei. Nein, der Krieg ist schlecht. Ganz, ganz schlecht. Ich sage das als ethnische Russin, mit Freunden und Freundinnen in Russland und der Ukraine. Soll ich mich jetzt für eine Seite entscheiden? Das geht doch nicht. Menschen sind Menschen.
Musiklehrerin Tamara Rinkewitscha aus Riga
Polizeischutz ist Standard im Friedenscamp. Wegen der Putin-Anhänger und Anhängerinnen, die ab und zu hier vorbeischauen, um zu pöbeln. Heute aber bleibt alles friedlich. Ernita Ronsale kann sich mit ihrer ukrainischen Fahne sicher fühlen.
"Flieh, solange es noch geht"
Ernitas ukrainischer Mann ist noch in Odessa. Deshalb ihre Sorge, die Schreckminuten, wenn er nicht sofort ans Handy geht. Sie selbst hat es nach einer wahren Odyssee durch halb Osteuropa zu ihren lettischen Eltern nach Riga geschafft.
Eigentlich wollte die Zirkusakrobatin bei ihrem Mann am Schwarzen Meer bleiben, doch der meinte nur: „Flieh, solange es noch geht.“
Es ging sofort am ersten Tag los. Ich bin früh morgens um 5 Uhr 20 aufgewacht, von der ersten Bombe. Wir sind alle sofort ins Internet um zu schauen, was los ist. Anfangs dachte ich, da hat sich jemand einen Spaß bereitet und Feuerwerkskörper knallen lassen. Aber nein, das war Krieg. Wahnsinn. Die folgenden Tage waren auch schlimm. Auf der Straße konntest du die russischen Bomber beobachten, wie sie über die Häuser hinwegflogen. Es war wirklich beängstigend.
Ernita Ronsale aus Odessa
Ernita schaut auf ihr Handy. Eine Nachricht von ihrem Mann. Ihm geht es gut, den Umständen entsprechend. Ein Lächeln huscht über ihre Lippen. Heute Abend wollen sie telefonieren. Zehn, 15 Minuten den Krieg vergessen, den unsäglichen.