Multikulti an der "Nordflanke der Nato"
Die norwegische Kleinstadt Kirkenes liegt 1800 Kilometer entfernt von Oslo und unweit der russischen Grenze. Inmitten von Fjorden und Rentierherden leben hier auch zehn Prozent Russen. Die Straßenschilder sind zweisprachig, die Probleme auch.
Er ist ganz in seinem Element: Rune Rafaelsen, der Bürgermeister von Kirkenes, der Kleinstadt im hohen Norden an der norwegisch-russischen Grenze. Auf der Bühne stehen, ein Küsschen hier, ein Küsschen da: Der 64-Jährige mag das. Erst recht, wenn der internationale Radsport-Zirkus Station macht in seiner 3400-Seelen-Gemeinde am Ufer der Barentssee.
International ist auch das Show-Programm. Die Breakdance-Truppe auf der Bühne kommt aus der russischen Nachbarstadt Sopoljarny. Die fünf Jugendlichen im Military-Look waren in den letzten Jahren häufiger hier – trotz der Eiszeit in den norwegisch-russischen Beziehungen, infolge der EU-Sanktionen gegen Russland.
Der Löwe ist Norwegen, der Bär Russland
Der Bürgermeister muss los. Zurück zur Arbeit. Barents-Rune – so sein Spitzname – zieht seinen Jackenkragen hoch. Kalt ist es. Kalt und windig. Eilig hastet der Mann mit dem weißen Bart am russischen Generalskonsulat vorbei – hin zum Rathaus mit der braunen Holzskulptur am Eingang. Sie symbolisiert den "Freundschaftstanz" eines Löwen und Bären. Der Löwe: Das ist Norwegen. Der Bär: Russland.
"Kirkenes ist eine russische Stadt in Norwegen. Zehn Prozent unserer Bevölkerung sind Russen. Der wichtigste Kunde von Kimek, unserer Werft, ist die russische Fischerei-Flotte. Auf sie entfallen 70 Prozent des Umsatzes. Wir haben immer noch regen Austausch mit Russland – trotz der Sanktionen. Für unsere einheimische Wirtschaft ist das sehr wichtig."
Wie zum Beweis geht der Bürgermeister im Rathaus ans Fenster seines Büros, das von viel Arbeit kündet und einem Faible für russisch-orthodoxe Ikonen: Da drüben das Straßenschild ist zweisprachig: Norwegisch und Russisch. Genau wie das Riesen-Werbebanner am Einkaufszentrum am Hafen. 260.000 russische Tagestouristen kamen letztes Jahr nach Kirkenes.
Kirkenes war schon immer ein multiethnischer Ort
"Diese Stadt war immer schon international. Als ich aufwuchs, in den 50ern und 60ern, wimmelte es von deutschen und US-amerikanischen Technikern. Krupp-Ingenieure hatten den Hut auf beim Bau der Verladestation für Eisenerz. So lernte ich Deutsch. Mein erster Satz hieß: 'Haben Sie Schnaps zu verkaufen?'
Wir fuhren mit dem Boot raus zu den deutschen Schiffen, die im Hafen ankerten, um Alkohol zu kaufen. Eine Flasche Schnaps für zwanzig Kronen. An Land verkauften wir sie dann für vierzig Kronen. Historisch betrachtet ist Kirkenes immer schon ein multiethnischer Ort gewesen. Hier leben schon seit jeher Norweger und Finnen, Russen und verschiedene Völker der Sami, der Urbevölkerung."
Rune schaut auf den Bildschirm seines Computers: Immer noch keine Antwort aus Oslo. Vor ein paar Tagen hat er Norwegens Premierministerin Erna Solberg vorgeschlagen, sie solle doch nächstes Jahr nach Kirkenes kommen, zusammen mit dem russischen Präsidenten und der deutschen Kanzlerin – zum 75. Jahrestag der Befreiung der von der Wehrmacht besetzten Stadt durch die Rote Armee.
Der Bürgermeister mag alle Russen außer Putin
Arktische Entspannungspolitik: Der Bürgermeister findet das eine prima Idee, die norwegische Regierung weniger. Runes Augen funkeln: So schnell lässt sich jemand wie er nicht abwimmeln. Putin, den möge er nicht, meint er. Dafür aber die Russen. Nach dem Ende des Kalten Krieges organisierte er in Russland Heißluftballon-Festivals, mit der Gouverneurin des keine 220 Kilometer entfernten Murmansk duzt er sich.
"Die Angst vor Russland ist in Oslo größer als bei uns. Ich sage immer: Je weiter du von der Grenze weg bist, desto mehr fürchtest du dich vor den Russen. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Als Bürgermeister halte ich mich an die offiziellen Vorgaben der norwegischen Regierung, die Sanktionen und alles. Ich habe auch kein Problem mit der militärischen Präsenz unserer Armee und der Nato hier. Nur: Die in Oslo haben keinen blassen Schimmer, was es heißt, in einer Grenzregion zu leben. Das hier ist immer schon das geopolitische Zentrum unseres Landes gewesen. In Kirkenes stößt Norwegen auf eine heikle politische Situation – nicht in Oslo. Was passiert schon in der Hauptstadt?! Da sind sie völlig aus dem Häuschen, wenn der Friedensnobelpreis verliehen wird. Wir dagegen sind konfrontiert mit dem komplexen Nachbarn namens Russland."
Wie komplex Russland ist, davon kann auch – einmal den Hügel hoch – Thomas Nilsen ein Lied singen.
"We are multi task, I would say."
Multitaskfähig sind sie tatsächlich beim "Independent Barents Observer", der Nachrichtenplattform. Artikel schreiben, redigieren, Fotos und Videos machen: Thomas ist Mädchen für alles. Zwei kleine Zimmer unterm Dach – plus fünf bunte Retro-Telefone als Deko: "The only one missing is the red one that could give us direct access to Kremlin."
Nur das rote Telefon mit Direktzugang zum Kreml fehlt. Norwegischer Sinn für Humor.
"Eine Gefahr für die nationale Sicherheit"
Fast täglich tauscht sich Thomas mit seinen Kooperationspartnern in Nord-Russland aus – unabhängigen Medienhäusern und Bloggern. Neben Englisch erscheinen alle Artikel im Barents Observer auf Russisch. Kritische Artikel. Über die miserable Trinkwasserqualität in Murmansk, die russische Annexion der Krim. Thomas verdreht die Augen. Seit letztem Jahr darf er nicht mehr nach Russland reisen.
"Mir ist bis heute nicht gesagt worden, warum. Es heißt, ich sei eine Gefahr für die nationale Sicherheit. Ich würde gerne wissen, was genau das bedeuten soll. Ich habe mir in Russland nie etwas zu Schulden kommen lassen. Ich bin dort zwanzig Jahre lang Auto gefahren – ohne ein einziges Knöllchen zu bekommen. Ich bin kein Spion. Ausgerechnet ich soll eine Gefahr für die nationale Sicherheit sein? Das ist doch lächerlich. Ich bin Journalist. Wenn der russische Geheimdienst damit ein Problem hat, soll er es sagen. Aber bislang hüllt er sich in Schweigen."
Russlandkritik unerwünscht?
Bis vor den Obersten Gerichtshof in Moskau ist Thomas' russischer Anwalt gezogen – vergeblich. Sein Fall wurde abgeschmettert. Gedankenversunken schaut der schlaksige Typ aus dem Fenster: Hinter den Hügeln, keine zehn Kilometer entfernt, ist schon Russland. Thomas ist Ärger gewöhnt. Bis vor drei Jahren erschien seine Website noch unter der Schirmherrschaft des "norwegischen Barents Sekretariats" – bis Thomas einen russlandkritischen Kommentar schrieb und es aus dem Sekretariat hieß, er solle so etwas in Zukunft lieber lassen.
"Das war total inakzeptabel. Mir blieb als Herausgeber nichts anderes übrig als zu sagen: Daran werden wir uns nicht halten. Es gab einen Mordsärger. Ich wurde als Herausgeber entlassen, meine Kollegen kündigten aus Solidarität. Wir haben uns dann relativ schnell entschlossen: Okay, dann machen wir unser eigenes Ding. Innerhalb von 48 Stunden war der Barents Observer wieder online. Der 'unabhängige Barents Observer'. Das Wort 'unabhängig' ist uns sehr wichtig."
Luftlinie sind es keine fünfzig Meter von Thomas' Büro bis zum "Norwegischen Barents Sekretariat." Die Wege in Kirkenes sind kurz. Das muss man Lars Fordal nicht zwei Mal sagen.
"It's kind of consensus that: This is not a forum where we discuss geopolitics."
Beim Leiter des Sekretariats weiß man gleich, woran man ist. Zur Geopolitik, nein, dazu möchte er nichts sagen. Und zur Sache mit dem Barents Observer noch weniger. Das läge vor seiner Zeit, wiegelt der Rotschopf ab.
Drei Millionen Euro für die Zusammenarbeit
Seit zwei Jahren hat der Karriere-Diplomat in der Rathausgasse Nummer Acht das Sagen. Vorher war Fordal Wirtschafts-Attaché an der norwegischen Botschaft in Moskau. Rund 300 Projekte unterstützt das Sekretariat jährlich im Rahmen der norwegisch-russischen Zusammenarbeit. Etwas mehr als umgerechnet drei Millionen Euro lässt sich das norwegische Außenministerium das kosten. Norwegische Unternehmer, die Zollprobleme haben, Chöre von hüben und drüben, russische Schulklassen auf Klassenfahrt: Alle bekommen sie etwas ab.
"Ich glaube, wir sollten weiterhin irgendeine Form von Dialog und Kooperation haben. Und uns darauf konzentrieren, was uns verbindet, nicht, was uns trennt. Es gibt genug Themen, die uns alle in der Barents-Region betreffen: Norweger, Russen, Finnen und Schweden gleichermaßen. Wie können wir Anreize schaffen, dass unsere jungen Leute hier bleiben? Das ist überall im Norden ein großes Thema. Aus Nord-Norwegen wandern viel zu viele Junge in den Süden ab, meist nach Oslo. Wir beobachten denselben Trend in Russland, Finnland und Schweden."
Interesse an Kooperation - trotz aller Spannungen
Die "Nordflanke der Nato" – so bezeichnete unlängst eine norwegische Zeitung die Gegend um Kirkenes mit ihren Fjorden und Rentierherden. Fordal zieht die Augenbrauen hoch. Flanke – das klingt so, als ob jeden Augenblick Krieg ausbrechen könnte. Soweit ist es nicht. Noch nicht. Natürlich weiß auch der Sekretariatsleiter, dass Moskau Waffen und Soldaten ins nahe Murmansk schickt – Russlands einzigen eisfreien Hafen – und Norwegens Regierung ihrerseits aufrüstet und neue Kampfflugzeuge bestellt hat.
"Ständig ist die Rede von Sanktionen, Problemen und Herausforderungen. Natürlich gibt es viele offene Fragen. Aber auf lokaler Ebene beobachten wir: Durch Kooperation können alle nur gewinnen. Unser Sekretariat wird vom norwegischen Außenministerium finanziert. Wenn Oslo nicht weiter an uns glauben würde, hätten sie uns schon längst den Finanzhahn zugedreht. Auch auf russischer Seite sind die regionalen Autoritäten weiter daran interessiert, mit uns zu kooperieren. Das täten sie kaum, wenn sie nicht das Okay aus der Hauptstadt hätten."
Hier sind wir viel weniger Menschen
Deutsche Töne im hintersten Zipfel Norwegens. Darüber wundern sich viele Besucher des Barents-Sekretariats. Jenni Spreng lacht:
"Ich bin in der Schweiz geboren. Aber wir sind hierhergezogen, als ich nur vier Jahre alt war. Ich bin hier aufgewachsen. Ich könnte nie wieder nach der Schweiz ziehen. Ich war jetzt im Urlaub meine Familie besuchen. Aber: Das wird mir viel zu eng in der Schweiz. So viele Menschen und so klein. Finnmark hier in Nordnorwegen hat die genau dieselbe Größe wie die Schweiz. Und hier sind wir viel, viel weniger Menschen."
Kennengelernt haben sich Jennis Schweizer Mutter und ihr norwegischer Vater auf einem Kreuzfahrtschiff. Hat sich vererbt – die Reiselust. Bis vor einem Jahr arbeitete die Frau mit dem schwarzen Pferdeschwanz bei der Hurtigruten – der norwegischen Kreuzfahrtlinie. Bergen-Kirkenes, Norwegens spektakuläre Küste rauf und runter: Eine Traumroute, doch irgendwann hatte Jenni genug vom Leben aus dem Koffer, fing im Sekretariat an, als Wirtschaftsberaterin.
Zum Tanken nach Russland fahren
Sie mag es hier. Dass es im Sommer nicht dunkel wird und sie als Bewohnerin des Grenzgebietes spontan nach Russland fahren kann. Ohne Visum.
"Mit diesem Kleingrenz-Verkehr-Ausweis kann man zum Beispiel Nikel oder Sapoljarny besuchen. Das sind unsere Nachbarstädte in Russland. Jeden Monat fahre ich nach Russland, um mein Auto zu tanken. Weil Benzin und Diesel sind in Russland sehr günstig. Im Vergleich mit Norwegen."
Regelmäßig nach Russland fährt auch Jennis Kollegin Liza Vasileva.
"This is an amazing job actually."
Auf ihren Job als Jugend-Koordinatorin im Sekretariat lässt die 29-Jährige nichts kommen. Ständig ist Liza unterwegs. In der Finnmark, in Schweden, Russland. Immer auf der Suche nach engagierten Leuten, die mitmachen wollen im "Barents-Jugendrat".
"Wir sind verschieden, aber wir kennen uns"
Die Website des Jugendrats. Liza schüttelt den Kopf: Ganz schön old-school. Bald, wenn es in Kirkenes Winter wird und die Tage kürzer, will sie die Seite überarbeiten. Geboren ist die Frau mit der unbändigen Energie in Russland, doch schon als Kleinkind zog sie mit ihren Eltern nach Kirkenes.
"Die Leute, die hier aufgewachsen sind, wissen mehr über das Leben jenseits der Grenze. Viele von uns sind von klein an nach Russland und Finnland gereist. Deshalb verstehen wir die anderen besser. Darum geht es auch beim Jahrestreffen des Barents-Jugendrats. Wir wollen über die Vielfalt der Jugendkulturen in der Barents-Region reden. Und darüber, was uns verbindet. Wir sind verschieden, aber wir kennen uns. Wir können sogar befreundet sein. Das ist vielleicht etwas, was Leute in Oslo nicht immer verstehen."
Liza schaut verdattert hoch. Der Besuch: Den hätte sie jetzt fast vergessen.
"I’m from Russia. From Archangelsk."
Aus dem russischen Archangelsk sind sie angereist – Katja und ihre Mitschüler. Fast einen ganzen Tag hat der Trip nach Kirkenes gedauert. Die Busfahrt, Unterkunft, Verpflegung: Zahlt alles das Barents-Sekretariat. Katjas Geschichtslehrer Mischa strahlt. Er hat lange darum kämpfen müssen, dass er für sein Schulprojekt eine Woche frei bekam.
Die gemeinsame Barents-Identität
"Yes, we have Barents identity."
Da ist sie wieder, die gemeinsame Identität. Die Barents-Identität. Auch Mischa ist das wichtig. Allein schon wegen der gemeinsamen Geschichte. Deshalb auch sein Schulprojekt: Der 35-Jährige will sich mit Katja und den anderen auf Spurensuche begeben.
"Wir besuchen einen Stalag - also ein Lager, in dem die Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs in Norwegen russische Kriegsgefangene internierte. Es liegt an der Küste. Ich will meinen Schülern das näherbringen. Wie schlimm die Stalags waren. Wie sehr unsere Männer litten."
Morgen wollen Mischa und seine Klasse los. Jemand hat erzählt, dass Barents-Rune vielleicht mitkommen könnte. Wenn es sein Terminkalender zulässt. Der Bürgermeister hat noch einen anderen Termin, mit Vertretern der norwegischen Ölindustrie. In der Barentssee schlummern riesige Öl- und Gasvorkommen. Grenzüberschreitend.