Ljudmila Ulitzkaja: Die Kehrseite des Himmels
Aus dem Russischen von Gana-Maria Braungardt
Carl Hanser Verlag, München 2015
224 Seiten, 19,90 Euro
Porträts, Essays und ein Krebstagebuch
Indem Ljudmila Ulitzkaja ihr Land hinterfragt, schreibt sie über sich selbst. Und wenn sie von sich erzählt, wird ihre tiefe Verwurzelung in der russischen Kultur anschaulich. Der Band "Die Kehrseite des Himmels" sammelt großartige Texte und Geschichten von ihr.
Zuletzt hat Ljudmilla Ulitzkaja ihre Leser mit Das grüne Zelt in ihren Bann gezogen, einem großen Gesellschaftsroman über die sowjetische Intelligentsja, über eine Zeit also, in der die Politik jeden Tag in ein Leben eingreifen konnte und noch das Persönlichste rasch eine politische Dimension bekam. Das scheint in Russland heute noch – oder wieder – so zu sein. Wenn Ulitzkaja von Russland und, vorsichtig, von sich erzählt, schwingt das Ineinander von Öffentlichem und Privatem immer mit.
Man darf ihr neues Buch Die Kehrseite des Himmels nicht mit falschen Erwartungen aufschlagen. Es ist keine Autobiografie, auch kein Essay, gar kein geschlossener Text, vielmehr eine Sammlung unterschiedlicher Beiträge, unterschiedlich auch in Tonlage und Qualität. Manchen sind Erscheinungsort und -jahr angefügt, einem Essay etwa, den Ulitzkaja im August 2014 für den SPIEGEL schrieb. Darin resümiert sie bitter: "Leb wohl, Europa, ich fürchte, wir werden nie zur europäischen Völkerfamilie gehören."
Ein zersplittertes Buch also über Russland – und über Ljudmilla Ulitzkaja. Darin liegt der Reiz: Indem sie ihr Land hinterfragt, gibt sie sich zu erkennen, und umgekehrt: Indem sie von sich erzählt, wird anschaulich, wie tief sie in der russischen Kultur wurzelt.
Ein Kind, das von einem Bücherschrank erzogen wird
Am schönsten sind einige kurze Texte gleich zu Beginn. Da glänzen Figuren aus der Vergangenheit wie am Anfang eines Romans – der Urgroßvater, ein jüdischer Uhrmacher; die Großeltern; das Kind, zu dessen wichtigstem Erzieher ein Bücherschrank wird. Da bereitet sich eine große Erzählerin darauf vor, Ich zu sagen. Das Buch hebt an: "Meine große Anhänglichkeit an Dinge – an ihre Geschichte, ihre Herkunft, und ihren Tod – ließ mich in einem Karton sammeln, wovon ich mich schwer trennen konnte."
Bei einer Schriftstellerin sammeln sich in einem solchen Karton Geschichten. Manche von ihnen haben Eingang in Romane gefunden, manche werden es vielleicht noch tun. Für die anderen gibt es jetzt dieses Buch. Es ist auch ein Buch über das Lesen. So erzählt es davon, wie der Großvater der Großmutter in Briefen aus der Verbannung beibringt, wie man richtig liest. Und in klugen Lektüreprotokollen zeichnet Ulitzkaja ihre Begegnung mit verehrten Autoren nach: Pasternak, Mandelstam, Nabokov. Letzterer, erklärt sie, sei so besonders, weil er beides war: Wissenschaftler und Schriftsteller. Das gilt auch für Ulitzkaja, die als Genetikerin arbeitete, bevor sie zu schreiben begann.
Zwischen disparaten Beschreibungen leuchten große Momente – groß im Schönen, wie in dem intimen Porträt des Künstlers Andrej Krassulin, mit dem die Autorin verheiratet ist, aber auch im Schrecklichen: beim Besuch eines Kinderheims, angesichts des Alltags von Flüchtlingen oder im Tagebuch von Ulitzkajas Krebserkrankung, das voller Trost und Zuversicht ist. Während der Chemotherapie vollendet sie Das grüne Zelt. So nah kommen sich Öffentliches und Privates, Literatur und Leben, aber auch Leben und Tod, den Ulitzkaja einen "Geschmacksverstärker" nennt, wenn eine Große anfängt zu erzählen.