Russische Avantgarde in Rüsselsheim

Natalja Gontscharowa zählt zu den schillerndsten Figuren der russischen Avantgarde. Nun zeigen die Rüsselsheimer Opelvillen erstmals eine monografische Retrospektive ihres Werks. Ausgestellt werden vor allem Arbeiten in Öl und einige Zeichnungen, die zwischen 1905 und 1960 entstanden sind.
Exotische Phantasiekostüme, Bühnenbilder in leuchtenden Farben - damit verbindet sich der Name Natalja Gontscharowa: Die russische Künstlerin arbeitete für die "Ballett Russes" von Sergej Djagilew. Dabei entstand - wie der französische Kritiker Guillaume Apollinaire 1915 schwärmte - eine "universelle Kunst":

"Das hat damals Paris wirklich in den Bann gezogen, das vereint alles: Das ist Musik, das ist Bildhauerei, das ist Malerei. Die Gontscharowa selbst sieht sich als Malerei. In der Malerei versucht sie natürlich, sich verschiedene Sachen auch anzueignen. Aber wenn andere Theorien entwickeln, ist sie eine, die es praktiziert hat. Und ihre Quellen sieht sie in der ursprünglichen russischen Volkskunst."

Mit diesem erstaunlichen Aufeinandertreffen von internationaler Avantgarde und bodenständiger Tradition beginnt Kuratorin Beate Kemfert ihre Gontscharowa-Retrospektive in den Rüsselsheimer Opelvillen. Blumenstillleben und Szenen aus dem bäuerlichen Leben sind noch konventionell ausgeführt, dann erinnert das Bild eines Fischers vor seinen Netzen an van Gogh, die stilisierte gelb-grüne Landschaft mit Ziegen lässt an Chagall denken - bis schließlich banale Motive wie "Fisch und Bürste" oder "Hut und Regenschirm" in der aufregend gebrochenen Malweise von Picasso oder Braque in Moskau für Aufsehen sorgen:

"Sie beschäftigt sich stark mit der französischen Avantgarde 1907, 1908. Und plötzlich entdeckt sie etwas für sich, nämlich den Stilpluralismus. Sich nicht auf einen Ismus festzulegen, auf ein Markenzeichen. Sondern: 'Ich variiere die Stile, ich habe die Freiheit – und lasse mich nicht auf etwas reduzieren'."

Mit welcher Entschiedenheit die Gontscharowa jede endgültige Entscheidung, jede Festlegung verweigerte, das lässt ein Selbstporträt von 1907 ahnen: Gelbe Lilien hält die Malerin in der auffällig großen Hand, einer regelrechten Künstler-Pranke, und schaut in bäuerlicher Tracht dem Betrachter ins Gesicht, voller Stolz auf die hinter ihr aufgereihten Bilder. Mit insgesamt 800 Arbeiten wird sie 1913 eine Einzelausstellung bestreiten.

Da umfasst das Repertoire der Gontscharowa neben dem von ihr begründeten "Rayonismus" - Abstraktionen wie der "Leere" mit blau-weißen Wellen inmitten grüner, blauer und rosafarbener Keile - auch erstaunliche Ikonen: stilisierte Engel mit kantigen Flügeln oder eine Madonna zwischen luftig-leichten Blumenornamenten. Seltsame Heilige, die von den Popen umgehend aus den Kirchen und damit aus dem Bildgedächtnis entfernt wurden. Aber auch in der Moskauer Tretjakov-Galerie, der die 1962 in Paris gestorbene Gontscharowa ihren kompletten Nachlass vermacht hatte, wurde ihr Erbe wenig beachtet.

Beate Kemfert: "Ich sehe anhand des Verzeichnisses, dass man gerade übernommen worden ist. Es ist nicht so gewesen, dass man sich über das ganze Konvolut dieser Bilder so riesig gefreut hat. Heute sieht es komplett anders aus. Die letzten Jahre zeigen, dass man begonnen hat, diesen Nachlass und auch die Bilder zu erforschen."

Im Depot der Tretjakov-Galerie förderte Beate Kemfert sogenannte "Weltraum-Bilder" zutage, in bläulichem Weiß schimmernde Abstraktionen unter einer schwarzen oder rot glühenden Sonne, entstanden 1958, im Jahr nach dem "Sputnik-Schock".

"Die Gontscharowa macht es einem schwer. Wenn man da stehen bleibt, wofür sie berühmt ist, also bei der Theaterarbeit, da haben Sie diese leuchtenden, folkloristischen Farben - und dann plötzlich Abstraktionen, Weltraumbilder. So haben wir auch das "Frühstück" ausgestellt, eine Arbeit, die sie in den 20er-Jahren in Paris ausführt: Komplett lässt sie da die Avantgarde hinter sich."

Das "Frühstück" im Grünen lassen sich drei elegant gekleidete Damen und zwei Herren von einer Dienerin servieren. Die balanciert ein impressionistisches Obst-Stillleben, wird von einem in übertrieben naiver Manier gemalten Köter angekläfft, während im Hintergrund stilisierte Bäume surrealistisch durcheinanderpurzeln. Einer der Sommergäste hält Maiglöckchen in der Hand und verdeckt mit seinem Ärmel eine Ausgabe von "L’Humanité", der kommunistischen Parteizeitung. Zeichnet sich da heimlicher Spott über die Salonbolschewisten ab, wird da die Ironie einer Künstlerin sichtbar, der es an jenem heiligen Ernst fehlte, mit dem Avantgardisten von Malewitsch bis Rodtschenko in die Nähe der totalitären Sowjet-Ideologie gerieten?

"Ihre Durchdringungs- und Experimentierfreude macht nicht bei der Malerei halt. Das geht bis zu Kleidungsstücken, die Hemdbluse ist auch eine Erfindung von ihr. Aber sie ist nicht so, dass sie den Alltag durch die Kunst verändern möchte, sondern es bleibt bei der bildnerischen Arbeit."

Also keine Inszenierung revolutionärer Straßenumzüge und auch keine Entwürfe eines konstruktivistischen Porzellan-Service für die Massen. Stattdessen Gemälde, die sich aufgrund ihrer Vielfalt allen stilkundlichen Kategorisierungen entziehen - und eben darum in dieser von Beate Kemfert mit anspielungsreichem Hintersinn gehängten Auswahl von 80 Werken ein kunst- wie kulturgeschichtlich anregendes Panorama entfalten. Und davor scheint die für das 20. Jahrhundert so typische Biografie der Natalja Gontscharowa auf:

"Bei der Gontscharowa sehe ich die russische Avantgardistin und ich sehe die Emigrantin. Und die Emigrantin sehe ich auch in verschiedenen Facetten. Also: einmal die Avantgarde hinter sich zu lassen, wieder neu zu versuchen zu starten, aber auch die Depression bis hin zu dem kreativen Neuschaffungsprozess der Sputnik-Bilder."

Service:

Die Ausstellung "Natalja Gontscharowa - Zwischen russischer Tradition und europäischer Moderne" ist bis zum 24. Januar 2010 in den Opelvillen Rüsselsheim zu sehen.