Russische Schriftstellerin

Die Entzauberung der Alja Rachmanowa

Die russische Schriftstellerin Alja Rachmanowa (1898 - 1991)
Die russische Schriftstellerin Alja Rachmanowa (1898 - 1991) © dpa / picture alliance
Von Florian Felix Weyh |
Mit ihrem Tagebuch hat Alja Rachmanowa für ganze Generationen das Bild der blutigen Bolschewiken-Revolution geprägt. Nun aber hat der Slavist Heinrich Riggenbach spätere Texte der Russin übersetzt und diagnostiziert bei Rachmanowa einen "kreativen Umgang" mit der Realität.
"Es waren vierzehn sehr große Kartonschachteln, voll mit Papier. Es ist ein sehr großer Nachlass. Und da waren diese vielen Tagebücher. Wobei: Trotz dieser Masse an Material, an Papier, gibt es eine Frage, die noch nicht ganz geklärt ist: Dass die Originaltagebücher in einem bestimmten Zeitraum nicht mehr da sind", erzählt Heinrich Riggenbach. Er spricht vom Nachlass der 1898 im Ural geborenen Schriftstellerin Alja Rachmanowa. Im Themenfeld unserer heutigen Lesart, dem Schreiben zwischen Fakten, Fiktionen und Fakes, nimmt sie einen besonderen Rang ein:
"Wenn man das jetzt hart ausdrücken wollte, könnte man vielleicht sagen, die von Alja Rachmanowa selbst veröffentlichten Tagebücher sind Pseudo-Tagebücher. Sie sind Literatur."
Rachmanowas Aufzeichnungen wurden stets für bare Münze genommen
Heinrich Riggenbach nun hat Aufzeichnungen der Russin übersetzt und mit einem kenntnisreichen Nachwort versehen. Sie schildern die Jahre von 1942 bis Kriegsende, als Alja Rachmanowa zusammen mit ihrem Mann Arnulf von Hoyer in Salzburg lebte. Sie ist mithin eine besondere Zeitzeugin der Nazi-Diktatur, denn weltberühmt geworden war sie für die Schilderung einer anderen Gewaltherrschaft: die der Bolschewiki in Russland.
"Der erste Band der Trilogie, 'Studenten, Liebe, Tscheka und Tod', fängt an mit ihrem Geburtstag im September. Ich weiß jetzt nicht mehr auswendig, welcher September. Und weil die Leute eben das so aufgenommen haben, dass das authentisch ist, haben sie ihr gratuliert."
Obwohl sie gar nicht im September geboren ist. Doch Rachmanowas Aufzeichnungen wurden stets für bare Münze genommen, vor allem der aufwühlende erste Band "Studenten, Liebe, Tscheka und Tod" über die Oktoberrevolution und die anschließende Deportation der Familie nach Sibirien. Mit der Publikation 1931 landete Rachmanowa dann einen Weltbestseller. Zahllose Wiederauflagen berührten auch nach dem Krieg noch Millionen Leser, denn hier wurde unverfälscht die Gewalt und Unterdrückung durch die russischen Revolutionäre beschrieben. Wirklich unverfälscht? Schon in den 30er Jahren regten sich erste Zweifel:
"Da wollte ein Herausgeber einer amerikanischen Ausgabe das genau wissen: Sind das wirklich echte Tagebücher? Und da ist dann jemand nach Salzburg gekommen. Das war so eine de-visu-Prüfung. Der hat gesehen: Da sind russisch geschriebene Tagebücher, da kommen diese Taten vor. Aber ich denke, damit hatte es sich. Und dann hat der amerikanische Verlag ein sogenanntes 'Affidavit' verlangt. Das ist eine Bezeugung, dass da ein Original vorliegt. Und dieses Affidavit habe ich gefunden im Nachlass, und ich bin dann auf die Idee gekommen: Es könnte ja sein, dass die von Hoyers bei diesem Prozedere gemerkt haben, dass es vielleicht Schwierigkeiten geben könnte." Weswegen sie die handschriftlichen Originale offenbar verschwinden ließen.
Literarische Potenz ist in demRohmaterial selten zu entdecken
Im Irrgarten zwischen Fakten und Fiktionen lässt sich nun aber eindeutig schlussfolgern, dass die Aufzeichnungen über die Oktoberrevolution literarisch stark bearbeitet wurden, denn was Alja Rachmanowa in ihrem Nachlass an Unveröffentlichtem hinterließ und was jetzt teilweise übersetzt vorliegt, hat sprachlich und in seiner Machart wenig mit den perfekt gebauten Tagebuchbestsellern zu tun. Herausgeber Heinrich Riggenbach:
"Vor allem diese etwa 150 Tagebücher aus der Schweizer Zeit, die sind alle so wie jetzt diese übersetzten Tagebücher: vieles so Kleinklein, Alltägliches auch, was die Leute so reden."
Dementsprechend banal heißt der jetzt veröffentlichte Band der letzten Kriegsjahre: "Auch im Schnee und Nebel ist Salzburg schön". Literarische Potenz ist in diesem Rohmaterial selten zu entdecken, und die Art der Zeitzeugenschaft erschreckt eher, denn die Exil-Russin und ihr Mann sind angepasste Existenzen. Alja Rachmanowa durchschaut intellektuell kaum, welches Doppelspiel die Nazis mit ihr treiben. Einerseits setzt man zunächst ihre Bücher auf den Index, andererseits benutzt man sie:
"Sie wird vereinnahmt im Bereich des Antibolschewismus, da hat man ja auch Broschüren herausgegeben und diese verbreitet an die Botschaften der Länder, die von den Nazis kontrolliert waren. Und die russischen Tagebücher, die hat man ja übersetzt und dort in Russland verbreitet."
Wenn Geschichte gut erzählt wird, ist es meistens mehr Erzählung als Geschichte
Keineswegs schönen lässt sich aber, dass die wache Kritikerin der bolschewistischen Gewaltherrschaft auf dem anderen Auge blind geblieben ist und die strukturelle Verwandtschaft beider Systeme nicht sehen wollte. Denn zur Propagandistin der Nazis gegen die Sowjets wurde sie durchaus nicht nur unfreiwillig:
"Die zwei Broschüren, die sie gemacht hat für das Auswärtige Amt, das waren Aufträge. Sie ist sogar dafür bezahlt worden, und zwar anständig. Ich habe eine Quittung gefunden, was sie bekommen hat für eine dieser Schriften."
Von den russischen Aufzeichnungen Alja Rachmanowas aus der Revolutionszeit ergriffen zu werden, ist immer noch leicht; wer sie sich antiquarisch besorgt, hat ein hoch emotionales Leseerlebnis vor sich. Doch wenn Geschichte gut erzählt wird, ist es meistens mehr Erzählung als Geschichte. Dieser kreative Umgang mit der Realität verzückte vor allem weibliche Leser. In den Salzburger Tagebüchern tauchen sie regelmäßig unangemeldet als Groupies auf:
"Das ist übrigens doch erstaunlich, wie man damals einfach zu einer Schriftstellerin gegangen ist, ohne Ankündigung, und geläutet hat und gesagt hat: 'Ich muss Sie sehen, sonst kann ich die nächste schwere Zeit gar nicht durchstehen!' Das wäre heute ja kaum mehr möglich."

Alja Rachmanowa: Auch im Schnee und Nebel ist Salzburg schön
Übersetzt und herausgegeben von Heinrich Riggenbach
Otto Müller Verlag
320 Seiten, 21 Euro

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