Russische Schüler erforschen dunkle Seiten ihrer Geschichte
In Russland ist Geschichtsschreibung oft holzschnittartig. Die Regierung stellt vor allem Heldentaten der Sowjetunion in den Vordergrund. Die Organisation Memorial animiert Schüler zur Recherche von Einzelschicksalen. Und die finden das spannend.
Dmitrij Tolstolutskij geht in die elfte Klasse. Mehrere Wochen hat er sich mit dem Schicksal von Kapiton Melnikow beschäftigt, hat dessen Tagebuch gelesen und ausgewertet:
"Mich hat die Lektüre sehr bewegt. Einmal beschreibt er, wie er im Winter 1933 aus seinem Dorf in die Stadt geht, um Brot zu kaufen. Er steht mehr als zwei Tage an und bekommt dann vier Kilo Brot. Und geht damit nach Hause, immer mit der Angst, unterwegs zu erfrieren."
Dmitrij kommt aus einem 200-Seelen-Dorf in Südrussland. Er ist einer von mehreren tausend Teilnehmern eines russlandweiten Schülerwettbewerbs, den die Menschenrechtsorganisation Memorial veranstaltet. Mit Hilfe ihrer Lehrer forschen die jungen Leute nach Lebensläufen in ihrer Region. Meist geht es um den Zweiten Weltkrieg, aber auch um Enteignung und Verbannung unter Stalin. Individuelle Schicksale sind in Russland nicht sehr populär, Geschichte ist hier of holzschnittartig und offiziös. Dmitrij haben die Schilderungen Kapiton Melnikows regelrecht erschüttert:
"Ich hatte vorher in den Geschichtsbüchern über den Hunger gelesen. Aber dort werden diese Dinge beschönigt: Ja, es gab diese Zeiten, aber sie waren nötig. Und es war alles nicht so schlimm."
Aleksandr Scheschukov und Anna Zaborskaja leben in Kotlas im Norden Russlands. In der Nachbarschaft gab es früher ein Straflager. Dort lebten Russlanddeutsche, die von Stalin von der Wolga in den Norden deportiert wurden.
"Wenn die Insassen die Arbeitsnorm nicht erfüllt haben, bekamen sie nur 300 Gramm Brot am Tag. Deshalb haben alle versucht, die Norm überzuerfüllen."
"Für uns war die Hauptsache, zu erfahren, dass die Deutschen, obwohl sie zu Feinden erklärt und aus dem Zentrum Russlands in entlegene Gebiete verschleppt wurden, zum Wohl eben dieses Landes arbeiten mussten. Das ist ein großes Verdienst, und diese Leute verdienen unseren Respekt."
In der Schule erführen sie nichts von diesen Geschichten, sagen die beiden. Der Schülerwettbewerb ist bereits der 14. in Folge. Irina Scherbakowa von Memorial begleitet sie von Anfang an. Sie hat Entwicklungen beobachtet:
"In den 90er Jahren sind die Schüler sehr kritisch mit der Vergangenheit umgegangen. Etwa 2005 dann haben wir auf einmal patriotische Töne gehört, die absolut nicht mit den Inhalten ihrer Arbeiten zusammenpassten. Da hieß es in den Vorworten, Russland sei das tollste Land überhaupt, und dann wurden ganz schreckliche Schicksale geschildert. Mir scheint, dieser verlogene Patriotismus hat nachgelassen. Die jungen Leute sind heute wieder sehr kritisch. Und das ist uns wichtig."
Gerade in diesen Tagen zeigt das russische Staatsfernsehen verstärkt patriotische Filme über den Krieg. Die russische Führung unter Staatspräsident Putin setzt auf vergangene Größe. Dabei stehen Sieg und Heldentaten des Sowjetvolkes im Vordergrund. Selbst Stalin wird dabei als militärischer Führer verherrlicht, der den Faschismus besiegt hat. Doch das bewirke das Gegenteil, meint Irina Scherbakowa:
"Je stärker die Propaganda, desto mehr halten kluge Kinder dagegen. Das kenne ich von mir selbst. Und außerdem sehen die Jugendlichen doch, wie Wirklichkeit und Propaganda auseinanderdriften."
Scherbakova noch aus einem anderen Grund froh: Die Vorbereitungen für die Präsentation der Arbeiten war dies Mal sehr schwierig. Memorial wird als Organisation ausländischer Agenten verunglimpft und muss sich deshalb zur Zeit mit der Staatsanwaltschaft herumschlagen. Sie habe befürchtet, dass Lehrer oder Eltern die Kinder gar nicht nach Moskau fahren lassen würden, sagt Scherbakowa. Es kam anders. Gerade in den Regionen haben hunderte Lehrer und Archivare die Nachwuchshistoriker unterstützt. Und die hatten Spaß. Sofia Karabortschewa und Darja Galtsowa aus dem Dorf Staryj Kurlak in Südrussland haben sich mit der Geschichte eines ehemaligen Großgrundbesitzers beschäftigt. Er wurde erst enteignet, dann verbannt. Obwohl er einst der reichste Mann in dem Dorf war, kannten nur zwei Leute dort überhaupt seinen Namen, erzählen die beiden Mädchen:
"Diese Dinge sind nun mal passiert. Und man muss das wissen. Es gab Gutes und Schlechtes in unserer Geschichte. Wir lieben unser Land trotzdem."
"Mich hat die Lektüre sehr bewegt. Einmal beschreibt er, wie er im Winter 1933 aus seinem Dorf in die Stadt geht, um Brot zu kaufen. Er steht mehr als zwei Tage an und bekommt dann vier Kilo Brot. Und geht damit nach Hause, immer mit der Angst, unterwegs zu erfrieren."
Dmitrij kommt aus einem 200-Seelen-Dorf in Südrussland. Er ist einer von mehreren tausend Teilnehmern eines russlandweiten Schülerwettbewerbs, den die Menschenrechtsorganisation Memorial veranstaltet. Mit Hilfe ihrer Lehrer forschen die jungen Leute nach Lebensläufen in ihrer Region. Meist geht es um den Zweiten Weltkrieg, aber auch um Enteignung und Verbannung unter Stalin. Individuelle Schicksale sind in Russland nicht sehr populär, Geschichte ist hier of holzschnittartig und offiziös. Dmitrij haben die Schilderungen Kapiton Melnikows regelrecht erschüttert:
"Ich hatte vorher in den Geschichtsbüchern über den Hunger gelesen. Aber dort werden diese Dinge beschönigt: Ja, es gab diese Zeiten, aber sie waren nötig. Und es war alles nicht so schlimm."
Aleksandr Scheschukov und Anna Zaborskaja leben in Kotlas im Norden Russlands. In der Nachbarschaft gab es früher ein Straflager. Dort lebten Russlanddeutsche, die von Stalin von der Wolga in den Norden deportiert wurden.
"Wenn die Insassen die Arbeitsnorm nicht erfüllt haben, bekamen sie nur 300 Gramm Brot am Tag. Deshalb haben alle versucht, die Norm überzuerfüllen."
"Für uns war die Hauptsache, zu erfahren, dass die Deutschen, obwohl sie zu Feinden erklärt und aus dem Zentrum Russlands in entlegene Gebiete verschleppt wurden, zum Wohl eben dieses Landes arbeiten mussten. Das ist ein großes Verdienst, und diese Leute verdienen unseren Respekt."
In der Schule erführen sie nichts von diesen Geschichten, sagen die beiden. Der Schülerwettbewerb ist bereits der 14. in Folge. Irina Scherbakowa von Memorial begleitet sie von Anfang an. Sie hat Entwicklungen beobachtet:
"In den 90er Jahren sind die Schüler sehr kritisch mit der Vergangenheit umgegangen. Etwa 2005 dann haben wir auf einmal patriotische Töne gehört, die absolut nicht mit den Inhalten ihrer Arbeiten zusammenpassten. Da hieß es in den Vorworten, Russland sei das tollste Land überhaupt, und dann wurden ganz schreckliche Schicksale geschildert. Mir scheint, dieser verlogene Patriotismus hat nachgelassen. Die jungen Leute sind heute wieder sehr kritisch. Und das ist uns wichtig."
Gerade in diesen Tagen zeigt das russische Staatsfernsehen verstärkt patriotische Filme über den Krieg. Die russische Führung unter Staatspräsident Putin setzt auf vergangene Größe. Dabei stehen Sieg und Heldentaten des Sowjetvolkes im Vordergrund. Selbst Stalin wird dabei als militärischer Führer verherrlicht, der den Faschismus besiegt hat. Doch das bewirke das Gegenteil, meint Irina Scherbakowa:
"Je stärker die Propaganda, desto mehr halten kluge Kinder dagegen. Das kenne ich von mir selbst. Und außerdem sehen die Jugendlichen doch, wie Wirklichkeit und Propaganda auseinanderdriften."
Scherbakova noch aus einem anderen Grund froh: Die Vorbereitungen für die Präsentation der Arbeiten war dies Mal sehr schwierig. Memorial wird als Organisation ausländischer Agenten verunglimpft und muss sich deshalb zur Zeit mit der Staatsanwaltschaft herumschlagen. Sie habe befürchtet, dass Lehrer oder Eltern die Kinder gar nicht nach Moskau fahren lassen würden, sagt Scherbakowa. Es kam anders. Gerade in den Regionen haben hunderte Lehrer und Archivare die Nachwuchshistoriker unterstützt. Und die hatten Spaß. Sofia Karabortschewa und Darja Galtsowa aus dem Dorf Staryj Kurlak in Südrussland haben sich mit der Geschichte eines ehemaligen Großgrundbesitzers beschäftigt. Er wurde erst enteignet, dann verbannt. Obwohl er einst der reichste Mann in dem Dorf war, kannten nur zwei Leute dort überhaupt seinen Namen, erzählen die beiden Mädchen:
"Diese Dinge sind nun mal passiert. Und man muss das wissen. Es gab Gutes und Schlechtes in unserer Geschichte. Wir lieben unser Land trotzdem."