Russischer Angriffskrieg

Existenzielle Bedrohung für den Westen

Auf einem Smartphone-Bildschirm ist der russische Präsident Wladimir Putin bei ein TV-Rede zu sehen. Er deklariert die Teilmobilisierung in Russland am 21. September 2022.
Putin deklariert die Teilmobilisierung in Russland bei einer TV-Rede am 21. September. © Getty Images / Anadolu Agency / Sefa Karacan
Ein Kommentar von Jörg Himmelreich · 30.09.2022
Annexionen, Energiekrieg, Atomkriegsdrohungen – der russische Angriff ist ein Angriff auf das westliche Lebensmodell, meint der Historiker Jörg Himmelreich. Doch die deutsche Regierung werde dem Ernst der Lage bislang nicht gerecht.
Nach Putins brutaler Einverleibung weiterer ukrainischer Regionen durch fingierte Referenden muss die Bundesregierung jetzt noch unmissverständlicher die Ukraine bei der Rückeroberung der ihr geraubten Gebiete unterstützen. Dazu bedarf es vor allem einer neuen Kommunikation dieser Unmissverständlichkeit durch die Bundesregierung, innenpolitisch wie auch gegenüber Putin.

Die von Scholz brav vorgetragenen Sonntagsreden zur Zeitenwende, zur deutschen Führungsverantwortung und zur geopolitischen Verantwortung Europas enthalten vieles, und lassen doch das Entscheidende missen: Was ist eigentlich das für Deutschland erklärte Endziel dieses Krieges, das die Bundesregierung mit allen Mitteln erreichen will?

Putin führt einen Krieg gegen die Freiheit

Dazu muss der Bundeskanzler endlich einmal das ganze historische Ausmaß dessen aufspannen, um das es in diesem epochalen Kriegsdrama eigentlich geht: Nicht um ostukrainische Regionen oder um die Ukraine oder gar nur um Europa, sondern es geht hier existenziell um das, was Europa und den Westen ausmachen, nämlich deren humanistische und demokratische Werte der Freiheit.

Längst schon ist es ein Weltkonflikt, der weltweit aufmerksam verfolgt wird. Er entscheidet darüber, ob die Welt in Zukunft nach den vereinbarten Regeln der freiheitlichen Demokratie und des prinzipiellen Gewaltverzichts gestaltet wird oder nach denen des autokratischen Nihilismus. Dieser folgt alleine dem Recht des Stärkeren und vernichtet, annektiert oder zerstückelt andere Staaten, je nach imperialer Stimmungslage.

Wie kostbar unsere westlichen Regeln sind, wird deutlich, wenn man sie Putins Politik gegenüber der eigenen Bevölkerung und Unterworfenen gegenüberstellt: hier Freiheit und Menschenrechte, da die grausame Gewalt einer korrupten Herrschaftsclique, die alle Widerstände aus dem Weg räumt.

Ein mörderisches System

Wer eine andere Meinung als der Autokrat hat, wird ermordet oder fällt aus dem Fenster. Und in seiner imperialen Hybris strebt Putin an, durch Annektion all das auch seinen geografischen Nachbarn anzutun, wenn sie sich dem nicht mit allen verfügbaren militärischen Mitteln widersetzen.
Im antiken Athen pries der Staatsmann Perikles 431 vor Christus im Krieg gegen das autokratische Sparta das Ethos der Soldaten, für die athenische Freiheit mit ihrem Leben einzustehen. Das mache Athen gegenüber Sparta so überlegen. Genau ein solches Ethos macht heute die Ukraine mit ihren so tapfer die Freiheit verteidigenden Kämpferinnen und Kämpfern der viel größeren russischen Armee überlegen. Und es ist dieses demokratische Ethos, das die westliche Demokratie gegenüber der russischen Autokratie auszeichnet.

Nukleare Eskalaton soll Deutschen Angst einjagen

Nüchtern betrachtet, ist eine weitere nukleare Eskalation Putins nicht ausgeschlossen. Vor allem aber ist sie eine psychologische Waffe, um besonders uns Deutschen Angst einzujagen. Derjenige, der nuklear als Erster schießt, stirbt als Zweiter, das ist das Prinzip der nuklearen Abschreckung. Ihre Gültigkeit hat die US-Administration jüngst noch einmal unterstrichen. Putin mag in einer anderen Realität denken, aber ein Selbstmörder ist er nicht.
Deutschland und der Westen dürfen sich nicht erpressen lassen! Bundeskanzler Scholz muss die existenzielle Bedeutung dieses Krieges auch für uns unmittelbar in diesem epochalen Kontext aufzeigen und endlich sagen, worum es eigentlich geht: Russland muss diesen Krieg verlieren! Es ist ein Krieg gegen uns, an dem wir faktisch schon selbst längst teilnehmen.

Abonnieren Sie unseren Weekender-Newsletter!

Die wichtigsten Kulturdebatten und Empfehlungen der Woche, jeden Freitag direkt in Ihr E-Mail-Postfach.

Vielen Dank für Ihre Anmeldung!

Wir haben Ihnen eine E-Mail mit einem Bestätigungslink zugeschickt.

Falls Sie keine Bestätigungs-Mail für Ihre Registrierung in Ihrem Posteingang sehen, prüfen Sie bitte Ihren Spam-Ordner.

Willkommen zurück!

Sie sind bereits zu diesem Newsletter angemeldet.

Bitte überprüfen Sie Ihre E-Mail Adresse.
Bitte akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung.
Zu der von Scholz gerne reklamierten deutschen Führungsverantwortung gehört es, gemeinsam mit Europa und den USA alles zu tun, dieses Ziel eher früher als später zu erreichen. Heute ist dazu die in Europa abgestimmte Lieferung des Leopard-2 erforderlich. Morgen sind es weitere, andere Waffensysteme. Nur so ist die Abschreckung gegen Putin herbeizuführen, die alleine ihn drängt, irgendwann Friedensverhandlungen aufzunehmen.
Erst dann würde Deutschland dem Ernst der Lage wirklich Rechnung tragen.

Jörg Himmelreich ist Jurist und Historiker. Als Professeur Affilié lehrt er an der der École Supérieure de Commerce à Paris (ESCP), Campus Berlin und publiziert regelmäßig zu kulturgeschichtlichen und außenpolitischen Themen. Zuvor war er Mitglied des Planungsstabes des Auswärtigen Amtes, Berlin, und Fellow des German Marshall Funds der USA in Washington und Berlin.

© Peter Ptassek
Mehr zum Thema