Liebe, Sex und die Diktatur in den Köpfen
Nirgendwo in Europa boomt das Kino in den letzten Jahr so stark wie in Russland. Im Westen sind die Filme jedoch kaum zu sehen. Die Organisatoren der Russischen Filmwoche in Berlin wollen das ändern.
Ein junges, verheiratetes Paar lebt sich langsam auseinander. Sie arbeitet in einem Büro zusammen mit hippen Designern und mag Partys. Er fährt in Moskau schwarz Taxi, ist ein Muffel und will nie etwas unternehmen. Irgendwann lassen sich beide scheiden. Die junge Regisseurin Oksana Bychkova hat mit vorzüglichen Darstellern einen überzeugenden Film über den Alltag junger Menschen in Moskau gedreht. Da stehen die angepassten und doch unbekümmerten Designer für die Generation Putin und bilden so einen Kostrast zum Alltag in einem Neubaugebiet am Stadtrand Moskaus. "Noch ein Jahr", so lautet der Titel dieses sehr vitalen Films, der für die Organisatorin der Filmwoche Julia Kuniss exemplarisch für einen neuen Trend im russischen Kino steht:
"'Noch ein Jahr' wird in Russland gut laufen. Das sind ja Filme, die ein junges Publikum ansprechen und Oksana Bychkova hat ja schon Filme gemacht wie 'Peter FM' und 'Plus 1'. Das sind Filme, die junge Leute ins Kino ziehen. Wenn es noch mehr solche Filme gibt, dann finde ich das wirklich Super."
Ein weiterer Höhepunkt im Programm ist "Die Korrekturklasse", der Siegerfilm des Filmfestival Cottbus. Dort erhält man einen Einblick in das veraltete postsowjetische Schulsystem. Die 16-jährige Lena sitzt im Rollstuhl und soll sich nach Jahren des Lernens zu Hause nun in einer sogenannten "Korrekturklasse" beweisen. Das hübsche und intelligente Mädchen eckt bei den autoritären Lehrerinnen an, und wird zunächst schnell von den Mitschülern akzeptiert, die entweder körperliche oder geistige Defizite haben. So besteht Lena eine Mutprobe und legt sich auf die Schienen, auf denen kurz darauf ein Zug über sie hinwegrast.
In der Kunst herrscht mehr Freiheit als angenommen
Aber dann kommen Liebe und Sex ins Spiel und die Situation eskaliert dramatisch. Der Film ist ebenso Jugenddrama wie Sozialstudie und entlarvt das rigide Denken, altmodische Moralvorstellungen und die Diktatur in den Köpfen. Aber wie sieht es die Darstellerin der Mutter von Lena, die Schauspielerin Natalja Pawlenkowa? Fängt der Film sehr treffend eine gewisse Mentalität ein, das sehr traditionelle und konservative Denken einer noch von der Sowjetunion geprägten Generation?
"Ich persönlich sehe das vielleicht noch härter als Sie gefragt haben. Wir sind nicht zärtlich. Wir sind verschlossen. In einer kritischen Situation werden wir uns natürlich, sofort zu Hilfe eilen, aber im Alltag ist es schwierig."
Filme wie "Die Korrekturklasse" beweisen, dass in Russland in der Kunst sehr viel mehr Freiheit herrscht als allgemein bei uns angenommen. Russland ist weit mehr als nur eine Putinsche Diktatur in der alle gleichgeschaltet sind. Zumindest im Theater und Film gibt es Freiräume, bestätigt Natalja Pawlenkowa:
"Film und Theater sind noch frei von Zensur. Ich arbeite ja auch im Theater und dort machen wir alles, was wir wollen."
"Wir kommen einander näher, wenn wir unsere Länder aus dem Blickwinkel der Filmkunst betrachten und nicht aus dem Blickwinkel der Politik-Propaganda", sagte zur Eröffnung der russische Produzent und Regisseur Renat Dawljetarow. Dabei sind einige der Beiträge alles andere als unpolitisch. "Test" von Alexander Kott, der in Cottbus ebenfalls ausgezeichnet, wurde, setzt sich auch mit der sowjetischen Vergangenheit kritisch auseinander.
Deutsche Verleiher wollen einige Filme nicht zeigen
Mitten in der Steppe Kasachstans lebt ein Vater mit seiner 16-jährigen Tochter. In "Test" fällt kein einziges Wort. Zunächst feiert Regisseur Alexander Kott die Einfachheit des abgeschiedenen Lebens. In wunderschön komponierten Bildern nimmt die Landschaft eine große Rolle ein. Nur langsam drängen sich Indizien sowjetischen Lebens in diesen scheinbar zeitlosen Film. Doch die Idylle trügt, denn "Test" beleuchtet ein dunkles Kapitel der sowjetischen Militärgeschichte kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Es sind Filme wie "Test", "Noch ein Jahr" oder "Die Korrekturklasse", die man gerne regulär in den deutschen Kinos sehen möchte. Sie brechen mit den klischeehaften Russlandbildern, die vor allem in den letzten Monaten wieder auf Reflexe aus dem kalten Krieg setzen.
Der wohl bedeutendste Film des Jahres, "Leviathan" von Andrej Swjaginzew, der die Korruption und Kirche stark kritisiert, durfte in Berlin nicht gezeigt werden. Schuld daran sind jedoch nicht die Russen, sondern der deutsche Verleiher. So zog man die Aufführungsrechte für den zu einem Oscar vorgeschlagenen Werk wieder zurück. Der angebliche Grund ist absurd: Der Film startet in Russland erst im nächsten Jahr, daher soll er nun lieber doch nicht vorab in Deutschland gezeigt werden.