Russisches Kulturportal "Colta"

Sehnsucht nach Sinn und Verstand

Von Gesine Dornblüth |
Das Kulturportal "Colta" setzt der Meinungsarmut der russischen Medien etwas entgegen. Die Chefredakteurin Maria Stepanowa berichtet von der Sehnsucht vieler Russen nach einer Debattenkultur und erzählt, dass besonders philosophische Vorträge über Gut und Böse gut besucht sind.
Es scheint paradox. Verbote und Repressionen gegen kritische Künstler in Russland nehmen zu, und von Bühnen, Kino-Leinwänden und aus dem Staatsfernsehen erklingt weitgehend einheitlich das Hohelied vom starken und geeinten Russland, das von Feinden umzingelt sei. Aber Maria Stepanowa sagt:
"In Wirklichkeit ist das kulturelle und künstlerische Leben in Russland unheimlich interessant und intensiv. Das gehört auch zum Bild von Russland."
Vor knapp sechs Jahren hat die 45-Jährige Colta gegründet, ein Internet-Portal für Kultur und Zeitgeist. Colta berichtet über Film, Theater, Musik, Literatur, Wissenschaft, Medien, Gesellschaft, in Russland und im Ausland, in der Vergangenheit und heute. Eine Ausstellung der Konzeptualisten in einer Moskauer Banja in den 80er Jahren erhält ebenso viel Raum wie die bevorstehende Theaterpremiere am Moskauer Meierhold Zentrum, in der es um das Geschlechterverhältnis geht.
"Und Geschichten in den Regionen werden jetzt sehr wichtig. Jekaterinburg zum Beispiel hat eine gänzlich unabhängige Theaterschule. Das Interessanteste tut sich aber in der Poesie. Und es gibt interessante experimentelle Prosa."

1500 Zuhörer bei einem Vortrag über Ethik

Was sie am meisten beeindrucke, sagt Stepanowa, sei, dass in Russland auch noch so spezielle Kulturveranstaltungen ihr Publikum finden.
"Es gibt ein schreckliches Defizit an Sinn, ein schreckliches Defizit an Inhalten und an Gehalt, einen schrecklichen Hunger nach intensivem intellektuellem Leben. Zu einem Poesie-Abend in Moskau kommen 200 Leute, manchmal sogar 500 und mehr. Das gleiche passiert bei öffentlichen Vorträgen, egal, ob über Atomphysik oder über die Geschichte des Mittelalters. Die Leute sind bereit, alles Mögliche anzuhören. Kürzlich gab es einen Vortragszyklus über Ethik, über Gut und Böse. Da kamen sogar 1500 Zuhörer zu jedem Vortrag!"
Das alles spielt sich fast ausschließlich jenseits des Staates ab, frei von staatlicher Finanzierung und deshalb auch begleitet von ständigen Geldsorgen der Organisatoren. So auch bei Colta. Das Portal finanziert sich über Crowdfunding und über Spenden seiner Kuratoriumsmitglieder. Unter ihnen sind auch einige Geschäftsleute. Bei Colta schreiben viele freie Autoren, die Honorare sind gering.

"Das System fordert Vertrauensbeweise"

Colta erreicht etwa 500.000 Nutzer im Monat, zum Teil leben sie in den hintersten Winkeln Russlands. Wegen der finanziellen Unsicherheit könnten sie zwar nicht langfristig planen und auch nicht wachsen, doch nur die Unabhängigkeit von staatlichem Geld biete die nötige Freiheit, betont Stepanowa. Wie weit die Zwänge im staatlichen Kulturbetrieb gehen, wird vor der russischen Präsidentenwahl besonders deutlich. Wladimir Putin hat mehrere hundert sogenannte "Vertrauenspersonen" aus Kultur und Gesellschaft benannt, die für ihn Wahlkampf machen. Darunter auch Michail Piotrowskij, Direktor der Eremitage in St. Petersburg, und Wladimir Urin, Intendant des Bolschoi-Theaters.
"Sie bewegen sich in einem System von Verabredungen. Urin und Piotrowskij sind natürlich Leute des Systems, andernfalls hätten sie solche Posten nie bekommen. Und das System fordert Vertrauensbeweise."
Auch wenn diese möglicherweise nicht mit den politischen Ansichten der Betroffenen übereinstimmen. Wladimir Urin hat sich zum Beispiel öffentlich für Kirill Serebrennikow eingesetzt, er hatte Serebrennikow mit dessen Oper "Nurijew" ans Bolschoi geholt. Serebrennikow steht seit einem halben Jahr unter Hausarrest, die Behörden werfen ihm Betrug vor. Maria Stepanowa von Colta nennt das Verfahren gegen Serebrennikow "eine Katastrophe".
"Da geht es um Einschüchterung. Wir alle sollen Angst haben. Mir scheint, wir müssen dem widerstehen. Wir vermeiden keine Themen. Das Verbot des Films 'Der Tod Stalins', die Konflikte rund um den Film 'Matilda', das Verfahren gegen Serebrennikow – über all das schreiben wir. Unseren Lesern die Information darüber, was passiert, vorzuenthalten, hieße, unser Existenzrecht in Frage zu stellen."

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