Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus
Übersetzt von Ganna-Maria Braungardt
Carl Hanser Verlag, München 2013
592 Seiten, 27,90 Euro
Die Sprache des Leidens
Anhand von Interviews zeichnet Swetlana Alexijewitsch das Leben der kleinen Leute in der Sowjetunion nach. Ihre Prosa erzählt eindrücklich über die Folgen von Krieg und gesellschaftlichen Umwälzungen.
Historiker interessieren sich nur für Fakten, die Gefühle bleiben draußen, sie aber sehe die Welt mit den Augen der Menschenforscherin, nicht einer Historikerin, sagt Swetlana Alexijewitsch über ihre Bücher. Deshalb schreibe sie keine Geschichte des Krieges, sondern eine Geschichte der Gefühle von Menschen im Krieg. Die Schriftstellerin hat eine Prosa zu ihrem Markenzeichen gemacht, die sie dokumentarisch-künstlerisch nennt. Swetlana Alexijewitsch erläutert ihre Arbeitsweise so:
"Ich mache aus dem, was auf der Straße liegt, Kunst. Jeder Mensch trägt eine Geschichte in sich, die der eines Dostojewskij würdig ist. Diese Geschichten verwerte ich. Wenn man Interesse zeigt und auf eine neue Art Fragen stellt, öffnen sich die Menschen, zumal die slawischen, die das Gespräch lieben."
Swetlana Alexijewitsch arbeitet an ihren Büchern sehr lange. Sie befragt Hunderte Personen zu ihren Erlebnissen, das ergibt Tausende von Manuskriptseiten. Manchmal bleibt nach einem langen Tag voller Worte und Fakten nur ein einziger Satz haften. Etwa dieser der Scharfschützin Klawdija Krochina, die als blutjunge Frau in den Krieg gezogen war:
"Ich war noch so klein, als ich an die Front ging, dass ich im Krieg sogar noch gewachsen bin."
Soldatin: Wir bekamen Gewehre, die waren größer als wir selbst
Oder diese Sätze von Olga Podwyschenskaja, die als Maat in einer baltischen Flotteneinheit diente:
"Wenn die Jungs mal mussten, erledigten sie das einfach über Bord. Aber ich? Ein paar Mal war es so dringend, dass ich einfach über Bord sprang. Sie schrien: 'Hauptfeldwebel über Bord!' Und zogen mich raus. Und das Gewicht der Waffe? Das ist für eine Frau auch schwer. Zu Anfang bekamen wir Gewehre, die waren größer als wir selbst."
Meist schaltet Alexijewitsch ihr Diktiergerät ein, um den Übergang nicht zu verpassen, wo normales Leben zur Literatur wird. Und die Menschen öffnen sich ihr gegenüber, denn – so drückte es ein namenloser Held ihres Buches "Secondhand-Zeit" aus –: "Nur ein Sowjetmensch kann einen Sowjetmenschen verstehen."
"Wir, die Menschen aus dem Sozialismus sind anders als andere Menschen. Wir haben unsere eigenen Begriffe, unsere eigenen Vorstellungen von Gut und Böse, von Helden und Märtyrern. Wir haben ein besonderes Verhältnis zum Tod. Wie viel kann ein Menschenleben wert sein, wenn man bedenkt, dass vor Kurzem Millionen umgekommen sind? Wir sind voller Hass und Vorurteile. Wir stammen alle von dort, wo es einen Gulag und einen schrecklichen Krieg gegeben hat, und die Kollektivierung, die Enteignung der Großbauern, die Zwangsumsiedlung ganzer Völker. Es war Sozialismus, und es war einfach unser Leben."
Das Leiden als Weg der Erkenntnis
Von diesem Leben erzählen im Buch "Secondhand-Zeit" durchschnittliche Menschen: der Parteifunktionär, der Musiker, der Schüler, der tadschikische Gastarbeiter, die Architektin, die Kellnerin, die Polizistin. Sie bleiben oft anonym, weil sie immer noch Angst haben, dass ihre offenen Worte eines Tages vielleicht gegen sie verwendet werden könnten. Die nicht aufgearbeitete stalinistische Vergangenheit, soziale Probleme wie Armut, Alkoholismus, zerrüttete Familien, häusliche Gewalt haben das Leben und den Alltag der meisten dieser Zeitzeugen geprägt. Sie sind verbittert, weil die Opfer, die sie in der Sowjetzeit gebracht haben, vergebens waren; denn heute geht es vielen Menschen in Russland schlechter als damals.
"Wir reden dauernd vom Leiden … Das ist unser Weg der Erkenntnis. Die Menschen im Westen erscheinen uns naiv, weil sie nicht so leiden wie wir, sie haben gegen jeden Pickel eine Medizin. Aber wir haben im Lager gesessen, und im Krieg war der Boden mit unseren Leichen übersät, wir haben in Tschernobyl mit bloßen Händen radioaktiven Graphit eingesammelt ... Und nun sitzen wir auf den Trümmern des Sozialismus. Wie nach dem Krieg. Wir haben Vieles durchgemacht, so viele Schläge eingesteckt. Wir haben unsere eigene Sprache, die Sprache des Leidens. ... Wir haben die Welt, in der wir bis vor Kurzem gelebt haben, noch nicht verstanden und leben schon in einer neuen. Eine ganze Zivilisation auf den Müll geworfen ...“
Diese Aussage eines Lehrers ist gleichsam das Leitmotiv des Buches "Secondhand-Zeit." Der Alltag der Menschen wird nicht selten zur Tragödie, weil viele den Zusammenbruch der Sowjetunion nicht verkraftet haben und unter die Räder des entfesselten Kapitalismus geraten sind. Viele Zeitzeugen verklären deshalb mit nostalgischer Wehmut die sowjetische Vergangenheit.
In der Zeit des Aufbruchs unter Gorbatschow und zu Beginn der 1990er-Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion seien die Menschen zunächst noch Romantiker und Träumer gewesen, sagt Swetlana Alexijewitsch:
"Warum waren wir Romantiker? Wie haben wir uns damals die Freiheit vorgestellt? Wir dachten, man darf alles lesen, was man will, darf alles sagen, was man will. Weiter haben wir nicht gedacht, nicht daran, dass man anders arbeiten und sich sein Leben anders einrichten muss. Wir träumten von einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz."
Swetlana Alexijewitsch wurde 1948 in der Ukraine geboren. Später studierte sie Journalistik in der weißrussischen Hauptstadt Minsk, wo sie nach längeren Auslandsaufenthalten heute wieder lebt. International mit vielen Preisen geehrt, ist sie in ihrer Heimat Weißrussland Persona non grata: Ihre Bücher dürfen dort nicht erscheinen.
Alexijewitsch bricht das Schweigen der Frauen
Ihr Werk "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht" über Fronteinsätze junger Frauen im Zweiten Weltkrieg ist erstmals in der Gorbatschow-Zeit mit hoher Auflage erschienen, doch es wurde zensiert. Die damals von der Zensur gestrichenen Passagen hat Alexijewitsch am Anfang des Buches zusammengestellt. Sie betreffen etwa Schilderungen von Kriegsverbrechen und Vergewaltigungen auch innerhalb der Roten Armee. Alexijewitsch fügt dem Bild vom Krieg, das in Russland bisher ausschließlich von Männern gezeichnet wurde, die weibliche Komponente hinzu. Es gelingt ihr, das jahrzehntelange Schweigen der Frauen zu brechen, das die Männer ihnen verordnet hatten, befürchteten sie doch, die Frauen könnten von einem "falschen Krieg" erzählen.
"Wir waren mit achtzehn, zwanzig an die Front gegangen und kamen mit zwanzig, vierundzwanzig zurück. Erst herrschte große Freude, dann kam die Angst. Was sollten wir im Zivilleben tun? ... Wo war unsere Zeit? Unsere Zeit hatte der Krieg vernichtet. Wir hatten von nichts eine Ahnung, keinen Beruf. Alles was wir kannten, war der Krieg. Wir wollten den Krieg so schnell wie möglich loswerden. ... Wir waren stumm wie die Fische, erzählten niemandem, dass wir an der Front gewesen waren. Wir trugen nicht einmal unsere Auszeichnungen. Die Männer waren die Sieger, waren Helden und Bräutigame, der Krieg gehörte ihnen, aber wir wurden mit ganz anderen Augen angesehen. Ich sage Ihnen, man hat uns den Sieg gestohlen."
Man schätzt, dass rund eine Millionen sowjetische Frauen und Mädchen in der Roten Armee Dienst taten: als Scharfschützinnen, MG-Schützinnen, Flak-Geschützführerinnen, als Krankenschwestern, Köchinnen, Wäscherinnen. Nach dem Krieg arbeiteten sie als Buchhalterinnen, Laborantinnen, Stadtführerinnen, Lehrerinnen. Und sie redeten nicht mehr über den Krieg. Doch wenn sie schließlich redeten, hatten sie hinterher oft Angst vor der eigenen Courage und rieten der Autorin, sie solle nicht über die Kleinigkeiten schreiben, sondern über den Sieg. Doch Alexijewitsch befolgte diese Ratschläge nicht und begründet das in ihrem Buch "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht" so:
"Seit dem Krieg hasse ich Rot"
"Gerade die 'Kleinigkeiten' sind für mich das Wichtigste – das Menschliche: der Haarschopf, der vom Zopf übrig blieb, der Kessel voll Grütze, die niemand aß, weil von hundert Leuten nur sieben aus dem Gefecht zurückkehrten, oder dass eine Frau nach dem Krieg die Fleischstände auf dem Markt nicht ertragen konnte ... Nichts Rotes ... nicht einmal roten Batist. 'Ach meine Gute, das ist schon 40 Jahre her, aber in meinem Haus findest Du nichts Rotes. Seit dem Krieg hasse ich Rot!'"
"Secondhand-Zeit" ist von einer großen Moskauer Buchhandlung im September zum Buch des Monats gewählt worden. Damit hat Swetlana Alexijewitsch, die als Anwältin der kleinen Leute in der Tradition eines Gogol und Dostojewskij steht, auch in Russland endlich die Anerkennung erfahren, die ihr lange schon zusteht. In ihren Büchern gibt sie all denen eine Stimme, auf die sonst niemand hört und, die die Last zu tragen haben all jener Katastrophen, Tragödien und Unglücke, unter denen Russland so endlos zu leiden hat. Deshalb sind die Bücher von Alexijewitsch für all jene wichtig, die sich bemühen, Russland zu verstehen.
Swetlana Alexijewitsch: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht
Übersetzt von Ganna-Maria Braungardt
Carl Hanser Verlag, München 2013
368 Seiten, 21,90 Euro