"Eine Ideologie, aber keine Künstler dafür"
Der russische Komponist Sergej Newski hat nach dem Besuch in seiner alten Heimat von zwiespältigen Eindrücken berichtet. Wenn man in Moskau eintreffe, sei das eine reiche, schöne und sehr entspannte Stadt, sagte Newski, der seit 20 Jahren in Berlin lebt, im Deutschlandradio Kultur. Aber sobald man das russische Fernsehen einschalte, sehe man Hysterie.
Joachim Scholl: Sergej Newski wurde 1972 in Moskau geboren, dort hat er Musik studiert, dann in Dresden und Berlin und ist inzwischen ein sehr anerkannter, erfolgreicher, mehrfach mit Preisen ausgezeichneter Komponist. Seine Werke werden überall in der Welt aufgeführt, auch in seiner Heimat Russland, wo Sergej Newski immer wieder in verschiedenen künstlerischen Zusammenhängen arbeitet. Herr Newski, willkommen im Deutschlandradio Kultur!
Sergej Newski: Guten Morgen!
Scholl: Sie leben seit 20 Jahren in Berlin, sind jetzt gerade von einer dreiwöchigen Reise nach Russland zurückgekehrt. Erzählen Sie uns, wie haben Sie die Stimmung dort erlebt, wie haben Menschen, die ihnen begegnet sind, über die aktuelle Situation gesprochen?
Newski: Sie wissen, dass die Stimmung sich jetzt rapide verändert hat. Also, ich hatte zuerst so ein etwas beklommenes Gefühl über – ich habe nur das über die Veränderungen, also diese Steigerung des Nationalismus nur über Facebook oder über die Medien beobachtet. Und dann kommt man nach Moskau, und Moskau ist wirklich eine sehr reiche und sehr schöne und eine sehr entspannte Stadt, obwohl es eine riesige Metropole ist. Und man versucht zuerst, das Bild aus der Presse oder aus dem Facebook, mit dem, was man sieht, zusammenzubringen, und das klappt nicht. Natürlich, man sieht die Entspannung, und wenn man das Fernsehen einschaltet, sieht man nur Hysterie. Also, es ist sehr schwer zu koordinieren. Und man beobachtet auch, wie die Leute sich verändern.
Es gab gestern einen unglaublichen Fall: Es gibt eine Komponistin, eine Kollegin von mir, und die lebt seit 20 Jahren in Woronesch, das ist tiefste Provinz, also nicht tiefste Provinz, aber so eine Industriestadt. Sie ist keine Reaktionärin, aber irgendwie hat sie gestern hat sie gestern in einer russischen Zeitung einen Liebesbrief an Putin geschrieben, dass sie den gerne heiraten möchte. Und das war also für alle ein bisschen eine Überraschung, man hat sich ein bisschen an den Kopf gefasst und dachte, was passiert gerade mit der Frau, und solche Stimmungsschwankungen gehören zur Tagesordnung, aber es gibt auch die Möglichkeit natürlich, die irgendwie zu ignorieren oder zu – also mit normalen Freunden zu bleiben.
Scholl: Sie haben vor einiger Zeit, Herr Newski, in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" einen viel beachteten Artikel über das heutige Russland veröffentlicht, in dem Sie von einem regelrechten Aufstand sprechen, einem Aufstand des Archaischen, einer Antimoderne, die sich in den letzten Jahren formiert hätte, seitdem Wladimir Putin wieder Präsident ist. Und unter der Regierung Medwedjew haben Sie, Herr Newski, noch einen ganz anderen Geist erlebt, schreiben Sie. Erzählen Sie uns –
"Nicht nur ein russisches Problem"
Newski: Ich würde das nicht so polarisieren. Also erstens würde ich sagen, dass dieser Aufstand, dieser archaische, nicht nur Russland betrifft, sondern viele, viele andere Städte. Ich habe gestern mich zur Vorbereitung einen Artikel in der "Zeit" von Slavoj Zizek gelesen, dem slowenischen Philosophen. Der überträgt diese Idee des Archaischen, diese Anziehungskraft aufs ganze Europa. Also in Bezug auf die Europawahl und die rechten Parteien. Es ist nicht nur ein russisches Problem. Es gibt nur eine Möglichkeit, die Leute für Politik entflammen zu lassen, das ist diese Reduktion des Weltbildes, dieses konservative Weltbild. Und wahrscheinlich muss Putin das einfach.
Scholl: Sie haben in Ihrem Artikel, Herr Newski, aber auch betont, unter der Regierung Medwedjew sei ein ganz anderes Klima geschaffen worden, und sie hätten – als Künstler vor allem hätten Sie ein ganz anderes Klima erlebt. Also dass auch die Kunst, die Musik höchste Anerkennung bekommen hat.
Newski: Ja, das stimmt. Aber das begann nicht mit Medwedjew, das begann schon in der ersten Regierungszeit Putins, das begann so 2005, als der damalige Kultusminister Michail Schwydkoi meinte, dass Malewitsch und die Avantgarde genauso russische Exportartikel sind wie Ikonen oder Andrei Rubljow. Es ging darum, ein neues Positives von Russland in die Welt zu setzen und vielleicht auch die moderne Kunst an die Macht zu binden, also mit Finanzierung, mit Unterstützung. Und es ist eine in vielen Sachen heilsame Sache gewesen, weil die alte russische Opposition, also böse Macht versus nette, fortschrittliche Avantgarde wurde aufgehoben. Und natürlich, das nützte sowohl der Kunst als auch dem Staat, der Gesellschaft, denn es hat eine bestimmte Opposition in der Gesellschaft aufgehoben. Das begann so in 2005, und es gab eine massive Unterstützung der modernen Kunst, von der natürlich wir auch profitiert haben.
Scholl: Aber wie erklären Sie sich, dass dieser Geist anscheinend so rasch oder so restlos verschwinden konnte?
Newski: Es ist noch nicht verschwunden, weil es passierte in den letzten zwei Jahren ein Elitenwechsel. Und zwar, gerade wenn man es in Moskau anschaut, wurde die Leitung von fünf oder sechs großen Theaterhäusern gewechselt zugunsten der modernen Regisseure, und es gab auch große Projekte, die mit moderner Kunst, moderner Musik zu tun haben, nicht nur in Moskau und Petersburg. Und ich glaube, diese Welle von Erneuerung geht noch weiter, bloß es gibt hier eine offizielle neue Kulturpolitik, die wurde vor zwei Wochen formuliert von dem aktuellen russischen Kultusminister Wladimir Medinski, und die beruft sich auf die sogenannten traditionellen Werte. Natürlich ist das lächerlich, weil Herr Medinski eine Politik oder eine Ideologie hat, aber keine Künstler dafür. Als Putin sich mit namhaften Schriftstellern treffen wollte im März dieses Jahres, hatte er einfach keine zur Hand. Keiner wollte sich mit ihm treffen. Und deswegen gab es dann diesen Trick: Er hat sich dann mit Nachfahren von Dostojewski, Tolstoi und Puschkin und Lermontow und so weiter getroffen, damit er quasi diese Illusion einer Selbstinterpretation der Kultur erzeugt. Und offiziell ist 2014 das Jahr der Kultur in Russland. Das kann gravierende Folgen haben.
Scholl: Der russische Komponist Sergej Newski hier im Gespräch im Deutschlandradio Kultur. 82 Prozent aktueller Zustimmung für Putins Politik, die Annexion der Krim – Wladimir Sorokin, der Schriftsteller, schrieb, hier zeigt sich, dass die Sowjetunion in Millionen Köpfen noch lebendig ist. Würden Sie da zustimmen?
Newski: Das stimmt, das stimmt. Wegen meiner Verwandtschaft verbringe ich jedes Jahr so ungefähr zwei, drei Wochen auf der Krim, und es ist einfach klar. Die Krim ist eine rückständige Region. Die braucht sehr hohe Investitionen. Die letzte Investition, die es dort gab, gab es am Ende der Sowjetunion. Man sieht einfach, dass, wenn die Leute auf der Krim für diesen Anschluss an Russland gestimmt haben, es hat nichts mit der Sprache zu tun, es hat nicht mit russischer Kultur zu tun, es hat einfach mit der Wirtschaft zu tun. Also, die Leute leben seit 23 Jahren in Armut, und es gibt Kriminalität, es gibt irgendwie höchste Korruption, und wenn die Leute mehr oder weniger naiv dafür gestimmt haben, hat das nichts mit Russland zu tun, es hat mit einer Nostalgie nach der Sowjetunion zu tun, nach Investitionen. Und ich weiß nicht, ob die die bekommen – es ist ein großer Zweifel.
Scholl: Vor wenigen Tagen hat der erste stellvertretende Kulturminister Aristarchow in der Christi-Erlöser-Kathedrale einen Grundlagenplan für die staatliche Kulturpolitik vorgestellt, der doch offenbar auch die massive Abschottung vom Westen vorsieht und festschreiben will. Und ausgerechnet an dem Ort, an dem die Performerinnen von Pussy Riot ihren legendären und folgenreichen Auftritt hatten. Ist das auch ein öffentliches Zeichen für einen neuen Geist?
"Dieser Grundlagenplan wird viel belächelt"
Newski: Es wird unterschiedlich gedeutet, weil dieser Grundlagenplan wird viel belächelt und es gab schon einen ziemlich spöttischen Protest von der Akademie der Wissenschaften dazu. Also man kann Russland von Europa nicht trennen. Es ist kulturell nicht anders zu deuten.
Scholl: Sie haben gerade einen Preis erhalten, Herr Newski, in Moskau. Wie begegnet man denn Ihrer Kunst eigentlich? Spüren Sie da auch so eine Reserve dagegen, gegen diese Art von Musik oder gegen diese Art von –
Newski: Nein, früher gab es da mehr, weil – also man muss irgendwie die paradoxe Situation in Russland verstehen – und zwar, es gab Opposition, aber nicht gegen moderne Kunst, nicht von der Seite der Stadt und nicht von der Seite der Zuschauer oder Zuhörer, sondern von den Kollegen. Es gibt einen wunderschönen Artikel von Marina Davidova, das ist eine führende Theaterkritikerin, und ab nächstem Jahr ist sie Leiterin der Wiener Festwochen, der hieß "Unsere Theater-Taliban". Und in diesem Artikel beschreibt sie genau auch die Situation, dass die höchste Kritik und Intoleranz, die kommt eigentlich nicht von den Zuschauern oder nicht von der Macht, die vorher irgendwie die moderne Kunst unterstützt haben, sondern von den Kollegen, die da sich beleidigt fühlen oder übergangen fühlen. Und natürlich bekommen alle diese Ressentiments heute Unterstützung von der Macht, und die Situation kann sich ändern. Aber ich habe keine Konflikte, ich fühle im Gegenteil eine sehr große Unterstützung nicht nur vom Publikum, sondern von professionellen Kollegen.
Scholl: Aber Sie haben sich ja auch von Deutschland aus, kann man sagen, öffentlich kritisch exponiert. Ist das nicht auch schon bemerkt worden? Wird es nicht irgendwann heißen, diesen Newski, den wollen wir gar nicht mehr haben, den lassen wir nicht mehr ins Land?
Newski: Natürlich könnte so was passieren, aber – ja, lassen wir das geschehen. Auszüge aus dem Artikel wurden auf der russischen Website "Russia Today" übersetzt, und ich glaube, ich bekam da schon einige nette Drohkommentare, aber die Leute, die im Internet drohen, die drohen nie in Wirklichkeit, also das ist irgendwie –
Scholl: Im November werden Sie eine Gastdozentur für Komposition an der Universität in Sankt Petersburg antreten, wie wir erfahren haben?
Newski: Das ist eine europäische Oase. Ich habe dort gerade eine Vorlesung gehalten, es ist wirklich ein ganz netter Campus. Also wirklich ein ganz, ganz netter, freigeistiger, also ganz toller Ort. Also ich hoffe, das passiert.
Scholl: Das heißt, Sie treten mit fröhlichen Empfindungen diesen Aufenthalt an?
Newski: Ich würde sagen, solange man mich in Russland arbeiten lässt, würde ich das machen. Ich gehe keinen Kompromiss mit meinem Gewissen ein. Ich sage, was ich denke, aber ich habe ganz großen Rückhalt von meinen Berufskollegen. Solange ich arbeiten kann, arbeite ich.
Scholl: Gibt es noch eine richtige intellektuelle Opposition in Russland?
Newski: Man könnte sagen, es gibt eine Opposition von – ja, Vernunft gegen Emotion. Und das, also die Kluft zwischen der Moderne und Archaik, das war nicht die Kluft zwischen Macht und Opposition, das ging durch die ganze Gesellschaft. Bloß das Problem ist natürlich, dass Putin, der seine Umfragewerte steigen lassen möchte, jetzt gerade auf die Seite des Archaischen gewechselt ist. Das ist das Problem.
Scholl: Wird man in Russland jetzt die Ukraine wieder zu sich nach Hause holen wollen, wie empfinden Sie das oder wie erleben Sie das? Haben sie mit Menschen drüber gesprochen?
"Es ist wichtig, wie die Ukraine sich selbst definiert"
Newski: Was heißt zu sich nach Hause? Primär ist das ein Staat. Ich glaube, es ist wichtig, wie die Ukraine sich selbst definiert, weil die größte Gefahr wäre, wenn die Ukraine sich jetzt als Nationalstaat quasi neu erfindet, weil die Ukraine ist multinational. Die Ukraine ist zweisprachig. Das ist wie Belgien, es ist wie die Schweiz. Und wenn die Ukrainer das irgendwie verstehen, da gibt es auch keine innere Spannung, und da ist jede Provokation von russischer Seite kraftlos. Es ist wichtig, dass sich die Ukraine auch als multinationaler Staat begreift mit allen, allen Nuancen und Wurzeln und kulturellen Einflüssen.
Scholl: Und die Annexion der Krim, die gilt ja inzwischen eigentlich als Fait accompli. Das ist eine Tatsache, die nicht mehr zu revidieren ist, oder?
Newski: Weiß ich nicht. Es kommt darauf an, ob sich wirtschaftlich auf der Krim etwas verändert. Es ist ganz einfach. Die Krim ist komplett runtergekommen in den letzten 20 Jahren, und man sieht es auch, und ich weiß nicht, wo sie Touristen holen möchten, weil die meisten Touristen waren die Ukrainer. Ich weiß nicht, wo sie die Investitionsgelder holen. Ich bin gespannt, wie das weitergeht. Ich kann das nicht beurteilen. Also natürlich bin ich gegen eine Annexion – also, ich weiß nicht, was passiert.
Scholl: Alles Gute Ihnen jedenfalls, Sergej Newski, für Ihre Arbeit. Der Komponist, er war bei uns zu Gast. Herzlichen Dank für das Gespräch!
Newski: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.