Russland

Kaum Kontrolle über die Internetgeneration

Junge Demonstranten bei einer nicht genehmigten Kundgebung der Opposition in Moskau am 12. Juni 2017
Die neue Generation Russlands ist nicht mehr für Staatspropaganda erreichbar. © AFP/ Mladen ANTONOV
Von Boris Schumatsky |
Ihre Stars sind Rapper, die wütende verbale Kämpfe ausfechten, oder Blogger, die sich mit Provokation übertreffen. Die junge Generation in Russland informiert sich im Netz. Auch der derzeit bedeutendste Oppositionelle hat seine Karriere dort begonnen.
"Der typische russische Hacker ähnelt nicht im Geringsten einem Nerd mit Kapuzenpulli und dem Slogan 'Fuck Society'. Nein, nein und nein! Ich war mit einem Hacker befreundet, und über ihn habe ich auch die Hacker-Szene kennen gelernt, also kann ich Ihnen sagen, wie sie aussehen. Sie sehen aus wie 'Gopniki', Schlägertypen, weil sie welche sind!"
Iwan selbst ist kein Hacker. Er studiert Ingenieurswesen und bezeichnet sich als Blogger. Momentan hat er nur 300 Follower auf Twitter, aber in seiner Generation wollen viele Blogger sein, etwa so wie man in der Generation davor in einer Band spielen wollte.
Die heutigen Bands, die, die sich für cool halten – und alle anderen hört Iwan nicht – existieren vor allem online, jenseits des Pop-Betriebs. Der Insider der russischen Internetszene schaut auf Hacker herab, das seien Trottel, die Billigbier aus 2-Liter-Plastikflaschen saufen würden, erzählt Iwan. Er selbst trägt einen feschen Pferdeschwanz und modische Turnschuhe.
Außerhalb des Landes werden russische Hacker dagegen sehr ernst genommen. Die Geheimdienste in den USA untersuchen eine mögliche Einmischung Russlands in die Präsidentenwahl, bei den Wahlen in Frankreich fanden sich russische Spuren im sogenannten Macron-Leak. Und in Deutschland warnen der Verfassungsschutz und das Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik vor Cyberangriffen anlässlich der kommenden Bundestagswahl.

Das World Wide Web als neues Zuhause

Für manche birgt das Internet Gefahren, Iwan fühlt sich dort jedoch sicher. Das World Wide Web ist sozusagen sein neues Zuhause. Im Offline hat er sich dagegen noch nicht so richtig eingerichtet. Iwan wohnt, wie die meisten Altersgenossen, noch bei seinen Eltern und an der Hochschule fühlt er sich nicht richtig aufgehoben. Im Internet führt er dagegen ein erfülltes Leben. Iwan nutzt gleich mehrere soziale Netzwerke, darunter Twitter und den russischen Facebook-Klon VKontakte, kurz VK.
"Als ich endlich auf mein erstes iPhone gespart habe, mit Mühe und Not gespart, da hat mein Leben erst richtig begonnen. Davor hatte ich nicht gelebt, ich hatte höchstens 40 Minuten am Tag im Internet verbracht, und das war wirklich alles! Dann ging's aber los, anfangs war ich 24 Stunden und 7 Wochentage online. Jetzt beantworte ich gleich morgen früh die Nachrichten bei VK, dann wechsle ich zu Twitter. In der letzten Zeit, als ich spazieren ging, erwischte ich mich stets dabei, wie ich immer wieder das Telefon holte und zack, zack, zack... So wie man sich eine Zigarette ansteckt, schnell was getippt und weiter."
Startseite des russischen sozialen Netzwerks vk.vom
Startseite des russischen sozialen Netzwerks vk.vom© Deutschlandradio/Charlotte Voß
Iwan geht oft durch Moskau spazieren, manchmal sogar nachts. Heute ist er an einem seinen Lieblingsorte, dem Museon, ein Freilichtpark mit Denkmälern aus der Sowjetzeit. Übermannshohe Marmorbüsten von alten Männern, die vom Kreml aus eine Weltmacht regierten, die Oberbefehlshaber des heißen und kalten Kriegs. Iwan ist 21 Jahre alt, er wurde geboren, als der Kalte Krieg gerade vorbei war.
Doch wo früher Spione und Soldaten an vorderster Front standen, kämpfen heute Hacker, Trolle und Propagandamedien mit digitalen Waffen. Für diese neue Kriegsführung ist der Kreml bestens aufgerüstet, sagt Alexander Goltz, einer der wenigen unabhängigen Militärexperten Russlands.
"Man schaut heute so genau auf Russland, weil die Welt in den letzten 25 Jahren nicht mehr gewöhnt ist, dass Russland überhaupt etwas Neues, etwas Wirksames anzubieten hat. Und plötzlich geschieht genau das."

Kompromittierendes Material als Mittel zur Erpressung

Dieses russische Know-how hat sowjetische Wurzeln. Schon der Geheimdienst KGB benutzte das so genannte "Kompromat", so hieß im Agenten-Jargon das Text-, Bild- oder Videomaterial, das eine Person kompromittieren sollte. Der sowjetische Geheimdienst hat das "Kompromat" meist zur Erpressung eingesetzt. Für die digitale Welt wurde die alte Methode perfektioniert. Aus der ganzen Welt beschaffen Hacker das "Kompromat" gegen unliebsame Politiker, russische Propagandamedien machen Falschnachrichten daraus und Internet-Netzwerke verbreiten sie millionenfach. Ob die Nachrichten wahr sind, ist Nebensache. Wichtig ist nur, – und das ist das Kernstück des russischen Know-Hows –, dass die News dem Gegner schaden.
Inzwischen spricht man von einem Hybridkrieg des Kremls gegen den Westen. Das bedeutet: Man setzt auf nicht-militärische Mittel, auf Desinformation und Propaganda. Der Militärexperte Goltz findet diesen Begriff zu ungenau. Ursprünglich hatte er eine andere, eine gegensätzliche Bedeutung.
"Über einen 'hybriden Krieg' sprach in Russland zum ersten Mal General Gerassimow im Jahr 2013. Ihm gelang es damals, die Staatsführung zu beeindrucken. Vor allem mit der These, dass das Internet ein geeignetes Mittel sei, um diejenigen für einen Volksaufruhr zu mobilisieren, die die Regierung als 'subversive Elemente' bezeichnen. Dabei glaubt die russische Führung fest daran, dass ein Volksaufstand immer das Werk ausländischer Geheimdienste ist, eine Verschwörung der hinterlistigen Westler. Der 'Arabische Frühling' und andere Protestbewegungen, die so genannten 'farbigen Revolutionen', seien folglich eine neue Form der Kriegsführung."

Kreml sieht sich berechtigt zum Gegenangriff

Die Massenproteste, die Putins erneuten Machtantritt vor vier Jahren begleiteten, waren aus Sicht der russischen Regierung also ein hybrider Angriff des Westens, wie auch später die Revolution in der Ukraine. Also fühlte sich der Kreml berechtigt zum Gegenangriff. Das geschah vor allem im World Wide Web, zugleich sollte das russischsprachige Internet geschützt und kontrolliert werden. Das bekämen inzwischen immer mehr Internetnutzer zu spüren, sagt Iwan.
"Noch vor einigen Jahren postete ich alles, was ich wollte, und ich wusste, mir passiert nichts. Heute ist das riskant. Eine Bekannte meiner Bekannten äußerte sich nicht besonders lobend über ihren Mitschüler, und der zeigte sie an. Angeblich hätte sie in einem anderen Post zur Revolution aufgerufen, obwohl sie eigentlich nur schrieb, dass sie für die Regierung nichts übrig hat: Ach wie müde mich all das macht! Mehr stand nicht drin, nichts Konkretes. Nur Enttäuschung, nur ein leichter Dissens. Sie musste 30.000 Rubel Strafe zahlen."
Das entspricht ungefähr einem durchschnittlichen Monatsgehalt, vergleichbar mit 3000 Euro in Deutschland. Wenn es also um Politik geht, müssen Iwan und seine Freunde im realen Leben oft noch vorsichtiger sein als im Internet.
"Auf Twitter formiert sich in Russland noch ein politisches Netzwerk und meine Altersgenossen können sich dort halbwegs offen äußern, zumindest im Vergleich zu Demonstrationen. Denn wenn sie auch auf die Straße gehen, traut sich niemand etwas laut zu sagen. Alle laufen nur mit, und alle sind mäuschenstill. Im Internet gibt es viele tapfere Menschen, die richtige Sachen sagen, aber auf der Straße schweigen sie."

Russland entgleitet Kontrolle über neue Generation

Seit die russische Politik unter Putin immer restriktiver wird und die Gesellschaft zunehmend sprachlos, fließt viel soziale Energie ins Internet. Russische Vlogger, die ihre Video-Blogs hauptsächlich auf Youtube zeigen, erreichen inzwischen mehr jüngere Zuschauer als das Staatsfernsehen. Der Regierung muss zusehen, wie ihr die Kontrolle über die neue Generation entgleitet und reagiert auf ihre gewohnte Art. Im Sommer 2016, als das Online-Spiel Pokémon Go viele Menschen weltweit in den Bann zog, hörte der Videoblogger Ruslan Sokolowski folgende Warnung im Fernsehen.
"Wer Pokémon Go in einer fremden Wohnung spielt, kann nach dem Paragraphen 139 zu einem Jahr Besserungsarbeit und einer Strafe in Höhe von 40.000 Rubel verurteilt werden."
Wer Pokémon Go in der Nähe der russischen Staatsgrenze spielt, würde sogar mit zwei Jahren Freiheitsstrafe bestraft. Aber was der Blogger Sokolowski besonders empörend fand, war das Verbot, in einer Kirche zu spielen.
"Das ist doch kompletter Unsinn! Wen stört es denn, wen kann es denn beleidigen, wenn ich mit meinem Smartphone in eine Kirche gehe? Wie zum Geier können sie einen dafür einsperren? Das will mir echt nicht in den Kopf, also gehe ich nun in die Kirche spielen. Denn: warum nicht? Also, los geht’s, 'Pojechali'!"
Pokémon Go ist ein Smartphone-Spiel. In der realen Umgebung, die man auf dem Bildschirm seines Telefons sieht, tauchen plötzlich Fantasiewesen, so genannte Pokémons auf. Sokolowski ist Anfang Zwanzig und hat 200.000 Abonnenten auf Youtube als er dieses Video dreht. Sein Erfolgsrezept, wie bei vielen Youtubern, ist Provokation, je derber, desto besser. Eine Kamera begleitet Sokolowski in die größte russisch-orthodoxe Kirche seiner Stadt Jekaterinburg. Der Clip ist mit Gesang unterlegt, der orthodox klingt. "Verdammter Mist, ist es nicht hübsch hier?", so kann man den obszönen Gesangstext wiedergeben. Dann verlässt der Blogger die Kirche.
"Das hat doch super geklappt, ich habe mehrere Pokémons gefangen. Nur eins ist schade: Es soll dort einen seltenen Pokémon geben, und ich habe ihn nicht gefangen. Er heißt Jesus. Ist aber halb so schlimm, weil manche ja meinen, dass es ihn gar nicht gibt!"

Russisch-orthodoxe Kirche avanciert zur Staatsreligion

Sokolowskis Video wurde per Gerichtsbeschluss vom Netz genommen. Er wurde verhaftet und verbrachte mehrere Monate in Untersuchungshaft. Seit Wladimir Putin an der Macht ist, avanciert die russisch-orthodoxe Kirche zur Staatsreligion. Es häufen sich Prozesse wegen Gotteslästerung, die der russische Staat als "Beleidigung der Gläubigen" bezeichnet. Pokémon-Spieler Sokolowski wurde auf die Terroristenliste gesetzt und wegen "Leugnung der Gottesexistenz" verurteilt, wie es unter anderem in der Urteilsbegründung hieß. Ein typischer Fall, sagt Internet-Insider Iwan.
"Das war die beste Diagnose, eine Schwachsinnsdiagnose für die Richterin. Es war ekelhaft, das zu beobachten. Zu sehen, wie tief wir gefallen sind, wenn Mordfälle Routine sind und solche Geschichten derart aufgeblasen werden. Was soll das Ganze? Mein Gott, jetzt hat er einfach gute Werbung bekommen, und bald werden ihn alle kennen, alle werden sagen, 'der war doch politischer Häftling', echt!"
Sokolowski dreieinhalbjährige Freiheitsstrafe wurde auf Bewährung ausgesetzt, zugleich bekam er 300.000 neue Abonnenten. Der Wunsch nach Erfolg und Anerkennung ist oft größer als die Angst vor staatlicher Repression. Beim Versuch, das russischsprachige Internet zu kontrollieren, scheiterte bisher der Staat, sagt der Internetexperte Andrei Soldatov.
"Der Kreml setzt auf die harte Kontrolle des Internets, seit 2012 werden immer mehr Webseiten gesperrt. Aber das klappt nicht. Es ist sehr einfach, die Sperren zu umgehen, und man hat es nicht einmal geschafft, die Sozialen Netzwerke zu unterdrücken. Ein gutes Beispiel waren die Jugendproteste am 26. März, die in dem russischen Netzwerk VK organisiert wurden. Dabei hat man die Betreiberfirma in der Tasche, der Firmenchef ist sogar der Sohn des Leiters des Staatsfernsehens, was will man mehr? Aber ausgerechnet aus diesem Netzwerk, das unter voller staatlicher Kontrolle steht, kommt der Protest. Dabei muss man sagen, dass Russland im Ausland wesentlich erfolgreicher ist."

Raffinierte Taktik Russlands

Das Geheimnis des Erfolgs im Ausland sei eine raffinierte Taktik, sagt Soldatov. Sie sorge dafür, dass man Russland nichts nachweisen könne. Diese Vorgehensweise entstand rein zufällig 1999, während des Krieges gegen Tschetschenien.
"Es war der Moment, als eine Gruppe von Studenten aus Tomsk eine Webseite der tschetschenischen Separatisten angegriffen hat. Das war ihre eigene Idee, aber die Geheimdienstler vom örtlichen FSB waren begeistert. Sie erklärten sogar öffentlich ihre Unterstützung, und so wurde eine neue Technologie geboren. Du unterstützt Leute, die keine Staatsangestellten sind, eine Art Outsourcing. Du bezahlst sie, aber nie direkt. Der Staat kann immer sagen, 'Wir waren's nicht!'."
Genauso weist auch Wladimir Putin alle Vorwürfe von sich, Russland würde sich in die Wahlen im Ausland einmischen.
"Hacker sind freie Menschen, so wie Künstler, die am Morgen gutgelaunt aufstehen und Bilder malen. Die Hacker sind genauso, sie stehen auf und lesen, was in internationalen Beziehungen passiert. Wenn sie patriotisch gesinnt sind, fangen sie an, ihren Beitrag zu leisten. Ihren Beitrag im Kampf gegen die, die schlecht über Russland reden... Aber auf staatlicher Ebene tun wir so etwas nie."
Den Kampf gegen die Kreml-Kritiker führen aber nicht allein Hacker. So ist gut dokumentiert, dass in Russland auch Menschen angeheuert werden, um im Internet unter dem Diktat ihrer Auftraggeber zu schreiben. In St. Petersburg wurde eine "Troll-Fabrik" mit Hunderten Mitarbeitern aufgedeckt, in Moskau sucht man per Anzeigen "Manager für die Arbeit mit illoyalem Publikum". Vor drei Jahren, auf dem Höhepunkt des Ukraine-Krieges, gab es nur ein paar solcher Fabriken, schätzt Andrei Soldatov. Ihr größtes Problem damals: ihre schlechten Fremdsprachenkenntnisse. Deswegen flogen die russischen Trolle im Ausland schnell auf. Inzwischen sei dieses Problem gelöst.
"Menschen, die heute für sie arbeiten, leben selbst im Ausland. Das sind Bürger, die bereit sind, für die russische Propaganda zu arbeiten, eine Gemeinschaft, die schnell wächst. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen ohne Arbeit, ohne Beruf da und müssen Miete zahlen, und dann kommt ein Auftrag aus Moskau. Du bekommst Anweisungen darüber, welche Dummheiten du schreiben sollst. Darauf verschwendest Du dann ein paar Stunden, dafür gibt es gutes Geld, reicht jedenfalls für die Miete."

Moskau kauft "Internetfedern", auch Trolle genannt

Das Wort "Troll" hatte bis vor wenigen Jahren keine politische Bedeutung. Ein Internettroll war jemand, der in Onlinediskussionen auf größtmögliche Provokation zielte. Mit ihm sollte man nicht diskutieren, "den Troll nicht füttern", weil es ihm nie um die Sache geht. Im Gegensatz dazu hat ein politischer Troll durchaus eine Agenda. Für Moskaus gekaufte Internetfedern hat sich auch die Bezeichnung Trolle durchgesetzt, obwohl nicht Provokation sondern Propaganda ihr Ziel ist. Mit den klassischen Trollen haben sie nur das aggressive Auftreten gemein.
Im russischsprachigen Internet herrscht oft sehr aggressiver Ton, beobachtet Internet-Insider Iwan.
"Die Russen verhalten sich im Internet deutlich aggressiver als die Westler. Ich weiß nicht, warum das so ist, ich kann nur sagen, dass dies aus dem Leben außerhalb des Internets kommt. So war es doch immer, wenn man Differenzen hatte, kamen die Leute oft auf einer Wiese zusammen und prügelten sich. Das ist ein altrussischer Brauch. Ich war auch mal dabei, und es war toll. Freunde fragten, ob ich mitkomme. Ich hatte nichts zu tun, also warum nicht? Auf unserer Seite waren 16 Leute, auf der anderen sogar mehr. Man nennt das 'Stenka', also stellt man sich in zwei Reihen auf, dann läuft man aufeinander zu. Auf Youtube gibt es massenhaft Videos, die das zeigen."
"Einer für alle, alle für einen!", skandieren Männer mit nacktem Oberkörper, ein Arm hoch ausgestreckt. Dann laufen sie auf die anderen Männer zu, die weiße Sporthemden tragen und prügeln auf sie ein. Dieses Online-Video trägt den Titel: "Massenschlägerei zwischen Russen und Muslimen". Im russischen Internet lassen sich mit solchen Suchwörtern ungefähr zehnmal mehr Videos als etwa in Deutschland finden. "Einer für alle" ist der Schlachtruf der russischen Nationalisten. Iwan nahm auch an solch einer Schlägerei teil und es machte ihm nichts aus, dass ein paar Nationalisten dabei waren.
"Als ich noch in die Schule ging, waren Nationalisten eine wichtige Kraft, eine Kraft des Guten sogar. Sie waren Soldaten, Soldaten des Volkes, weil sie keine Anführer hatten. In meinem Bezirk gab es einen regelrechten Krieg zwischen ihnen und den Antifaschisten."

Fremdenfeindlichkeit gehört zum guten Ton

Im russischen Internet gehört Fremdenfeindlichkeit zum guten Ton, man sagt gerne "Schwarzarsch" oder "Kanacke". Viele fordern – wie der Pokémon-Fänger Sokolowski – die Deportation von Muslimen. Besonders zügellos ist der russische Battle-Rap, ein verbaler Kampf zweier Rapper. Wer seinen Gegner am heftigsten diffamiert, gewinnt. Die Rapper "dissen", schmähen sich gegenseitig, sie nutzen gnadenlos alle Schwachstellen des Gegners aus, aus ihrer Sicht zum Beispiel seine Herkunft. Ein Rapper, der armenische Wurzeln hat, musste sich Folgendes anhören.
"Die Toleranz ist meine zweite Natur, also vögle ich Tschetscheninnen, Chinesinnen, Armenierinnen, und mir ist scheißegal, welche Farbe deine Mutter hat."
Das Erfolgsrezept heißt "Haterstwo", vom englischen hassen. Dabei verstehen sich viele Rapper als Dichter, sie versuchen sich mit ausgefallensten Reimen zu übertreffen, philosophieren über die Postwahrheit und zitieren George Orwell. Dichterwettbewerb trifft Straßenschlägerei. Das wichtigste Internet-Ereignis in diesem Jahr war bisher der Battle zwischen dem berühmten Rapper namens Oxxxymiron und einem unbekannten Herausforderer. Fernsehnachrichten berichteten darüber, mehr als 21 Millionen Menschen haben den Kampf online gesehen, so viele Zuschauer hatte noch nie ein Battle irgendwo auf der Welt.
Oxxxymiron ist auch außerhalb des Internets ein Star. Sein Geld verdient er unter anderem damit, dass er für einen US-amerikanischen Sporthersteller wirbt. Von seinem Gegner hatte man bis dahin nur ein paar originelle Reime und besonders derbe Sprüche gehört. Schon der Name, den er sich gab, sollte schockieren: Der Eitrige.
Der Eitrige gewann. Diesmal schlug er nicht unter die Gürtellinie, sondern desavouierte seinen berühmten Gegner als Angehörigen des Establishments. Der Vorwurf, sich an die Elite verkauft zu haben, ist in dieser Szene schlimmer als alle Mutterflüche. Viele russischen Internet-User wollen weder mit dem Popbetrieb oder den Staatsmedien etwas zu tun haben, geschweige denn mit der Staatspolitik. Auch der derzeit bedeutendste Oppositionelle Russlands hat seine Karriere im Internet begonnen.
Alexei Nawalny war bis 2009 als nationalistischer Blogger im Land bekannt. Heute folgen ihm Hunderttausende auf die Straße, Millionen schauen seine Videos. Nawalnys regimekritischen Onlinefilm, in dem er die Korruption in der Regierung anprangert, haben 24 Millionen Menschen angeklickt. Bei der Präsidentenwahl im nächsten Jahr will er gegen Wladimir Putin kandidieren. Doch Iwan vermisst bei ihm das, was er bei Putin vermisst, den aufrichtigen Kampf für das russische Volk.
"Ja, es war super, dass die Krim bei uns geblieben ist, aber warum sagte Putin nicht, dass unsere Soldaten im Donbass kämpften? Weil er Angst hatte. Auch Nawalny hat Angst, die Dinge zu benennen, wie er es früher getan hat."
Früher bezeichnete Nawalny Fremde als "Nagetiere" oder schrieb in seinem Blog:
"Die gesamte nordkaukasische Gesellschaft und ihre Eliten teilen den Wunsch, wie Vieh zu leben. Wir können nicht normal mit diesen Völkern koexistieren."
Davon hat sich Navalny nie ernsthaft distanziert. Nach dem Battle zwischen dem Starrapper Oxxxymiron und Dem Eitrigen machte folgender Post die Runde:
"Wenn Der Eitrige gesiegt hat, dann schafft es Nawalny auch!"
Die Internetgeneration schwärmt von einer politischen Wende, von dem Sieg über die etablierte Kultur, Gesellschaft und Politik. Alexei Nawalny nutzt erfolgreich die Rhetorik der Nationalpopulisten und wiegelt gegen Migranten auf. Dies hält weder Iwan noch Millionen Nawalny-Unterstützer davon ab, in ihm die einzige Alternative zu Putins Establishment zu sehen.
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