Russland-Kenner: Gewaltiges Maß an Sowjet-Nostalgie

"Wir haben damals besser gelebt", diesen Satz hörte Historiker Thomas Kunze öfter, als er für sein Buch "Von der Sowjetunion in die Unabhängigkeit" durch die 15 früheren Sowjetrepubliken reiste. Estland bezeichnet er als Gewinner des Wandels. Turkmenistan habe dagegen die größten Probleme. Thomas Kunze hat zusammen mit Thomas Vogel das Buch "Von der Sowjetunion in die Unabhängigkeit – eine Reise durch die 15 früheren Sowjetrepubliken" geschrieben, das im Links Verlag erschienen ist.
Katrin Heise: Im Dezember 1991, genauer Weihnachten '91, ging die Sowjetunion unter, eine fast 70-jährige Ära ging damit zu Ende. 20 Jahre ist das jetzt her, und seit 20 Jahren versuchen die ehemaligen Sowjetrepubliken, als Staaten eigene Wege zu gehen. Unter dem ideologischen Banner des Kommunismus hatte die Sowjetunion ja sehr verschiedene Kulturen zusammengefügt, Generationen von Menschen geprägt, und heute stellt sich die Frage, wie tief diese Prägungen eigentlich waren, wie eigenständig sich die neuen Staaten entwickelt haben seitdem – und gerade ja auch sehr aktuell, wie viel von der Demokratiehoffnung geblieben ist, die Gorbatschow mit Glasnost und Perestroika geweckt hat. Der Historiker Thomas Kunze und der Journalist Thomas Vogel, die reisen seit Jahren – seit Jahrzehnten eigentlich – immer wieder durch die ehemaligen Sowjetstaaten. "Von der Sowjetunion in die Unabhängigkeit – eine Reise durch die 15 früheren Sowjetrepubliken" heißt ihr gerade erschienenes Buch, und ich freue mich, dass Thomas Kunze zu Gast ist im "Radiofeuilleton". Schönen guten Tag, Herr Kunze!

Thomas Kunze: Guten Tag, ich freue mich auch!

Heise: Fangen wir mal mit dem an, was wir dieser Tage dramatisch in Russland ja beobachten, nämlich massiv Protest von unten. Glasnost, Perestroika, Demokratie, das war ja der Ausgangspunkt eigentlich der Entwicklung, die damals die Sowjetunion sprengte. Wie viel Demokratie ist denn in den Ex-Republiken verwirklicht worden?

Kunze: Man kann es nicht vereinheitlichen. Es gibt ja 15, oder es gab 15 ehemalige Sowjetrepubliken, das Riesenreich reichte vom Baltikum bis nach Wladiwostok, vom Polarmeer bis an die afghanische Grenze. Es ist eine ganze, ganze Menge an Demokratie erhalten geblieben, übrigens auch in Russland. Das, was wir heute erleben, ist ein Ausdruck davon. Man muss sich immer anschauen, den historischen Zeitraum 20 Jahre, was in diesen 20 Jahren passiert ist: Russland, die Sowjetunion, als sie untergegangen ist, ist ein Land, was nie mit Demokratie vorher in Verbindung gekommen ist, und heute – wir begegnen Russen überall auf der Welt, sie reisen frei, ihnen geht es relativ gut, es hat sich ein gesunder Mittelstand entwickelt. Und Sie sehen, gerade was jetzt in Russland passiert, also auch Proteste gegen Wahlen, gegen Wahlergebnisse – diese Proteste kommen natürlich von einem Mittelstand. Sie haben ein gewisses Maß an Wohlstand, aber auch – und das darf man nicht vergessen – auch an Freiheit erreicht. Und sie wollen natürlich weiter, und auch das jetzige System wird sich weiterentwickeln.

Heise: Ich würde gern noch einmal auf die aktuellen Ereignisse in Russland zu sprechen kommen oder das in Zusammenhang bringen: Moskau hat ja durch die aktuellen Wahlen - ist es sehr geschwächt. Wie groß war denn bisher eigentlich der Einfluss, und was hat es ab jetzt noch zu melden, was denken Sie da?

Kunze: Hier würde ich Ihnen widersprechen. Ich glaube nicht, dass die russische Regierung in irgendeiner Art und Weise geschwächt wird. Ich glaube, sie wird die gegenwärtige Situation überstehen. Nach meiner Wahrnehmung – da ich auch lange in Russland gelebt habe, auch jetzt vor kurzem wieder da war – entspricht das ungefähr der Mehrheitsmeinung der Bevölkerung, vor allen Dingen in der Fläche, nicht unbedingt in den Großstädten wie Moskau und Sankt Petersburg. Und der Einfluss auf die anderen ehemaligen Staaten – die russische Regierung bezeichnet sie als nahes Ausland, also schon in diesem Wort wird deutlich, dass man dort weiterhin Einfluss haben will. Es gibt eine sehr, sehr enge wirtschaftliche Verflechtung, es gibt eine sehr, sehr enge politische Verflechtung, es gibt eine personelle Verflechtung, auch schon durch die russische Sprache, die ja noch weitestgehend mit Ausnahmen – Südkaukasus, Mittelasien – gesprochen wird. Aufgrund dieser Verflechtung wird auch der Einfluss, den Moskau spielt, nicht so schnell abnehmen.

Heise: Sie haben jetzt gerade die Sprachen angesprochen. Ich würde das gerne aufnehmen und auf Identitätsbildung kommen nach der Unabhängigkeit. Wie hat sich die Identität in den einzelnen Staaten entwickelt? Da spielt Sprache ja eine große Rolle. In den baltischen Staaten zum Beispiel, da werden andere Sprachen, die jeweiligen Landessprachen gesprochen, Sie haben die zentralasiatischen Staaten erwähnt – zeigt das, wo die Identität am meisten ausgeprägt ist jetzt?

Kunze: Ja, man kann es sehen. Die mittelasiatischen Staaten sind ja mit Ausnahme Tadschikistans turksprachige Länder – Usbekistan, Kasachstan, Kirgistan und Turkmenistan. Tadschikistan ist ein persischsprachiges Land, dort sprechen die jungen Leute mittlerweile wieder ihre Sprachen, und Russisch nimmt immer mehr ab. Und auch in diesen Staaten hat man versucht, übrigens von oben – aber die jungen Staaten brauchten das –, eine nationale Identität nach 1991 zu schaffen, denn viele der heute selbstständigen Länder der ehemaligen 15 Sowjetrepubliken, die gab es ja früher, vor der Sowjetunion überhaupt nicht. Die wurden von Lenin, von Stalin zum Teil mit dem Lineal am Reißbrett geschaffen.

Heise: Was natürlich auch zur Folge hatte, dass man völlig über kulturell ethnische Zusammenhänge drüber weggegangen ist, und das merkt man wieder umgekehrt ja auch bis heute, also in ethnischen Auseinandersetzungen, die sich einfach dann doch zum Teil sehr massiv Bahn gebrochen haben – da fällt einem Aserbaidschan, Tschetschenien ein –, wie hat sich das inzwischen entwickelt?

Kunze: Die großen Auseinandersetzungen, so hoffe ich, die sind vorbei. In den 90er-Jahren gab es ja Zehntausende von Toten, vor allen Dingen im Südkaukasus, aber auch in Mittelasien, wo es blutige Auseinandersetzungen gab. Ich glaube, diese Kriege sind geschlagen. Ich denke, die Gefahr, dass es erneut zu Bürgerkriegen aufgrund dieser von Stalin geschaffenen oder hervorgerufenen nationalistischen Spannungen kommen wird, ist relativ gering.

Heise: 20 Jahre nach dem Untergang der Sowjetunion 1991, wie sieht es aus in den ehemaligen Sowjetrepubliken? Thomas Kunze, Autor des Buches "Von der Sowjetunion in die Unabhängigkeit" ist bei uns im "Radiofeuilleton" zu Gast. Herr Kunze, welche Rolle spielt eigentlich die Religion jetzt in den einzelnen Ländern? Also in einzelnen Ländern können Sie natürlich nicht aufzählen, aber so besondere Ausschläge.

Kunze: Die Sowjetunion war nicht religiös, aber unter dem Dach der Sowjetunion lebten sowohl Christen, Buddhisten und natürlich Muslime. Buddhisten kann man vernachlässigen, das ist eine relativ kleine Gruppe in Russland, in der Gegend um den Baikalsee, aber auf zwei Gruppen möchte ich zu sprechen kommen: einmal die orthodoxen Christen – die russisch-orthodoxe Kirche ist natürlich sehr, sehr wichtig für die Identitätsbildung im heutigen Russland. Sie hat großen Einfluss gewonnen, auch unter dem neuen Patriarchen Kyrill, und die Leute, auch die jungen Leute, gehen wieder in die Kirche. Anders sieht das natürlich in Mittelasien aus: Dort besteht die Gefahr, dass der radikale Islamismus auch nach dem Abzug vor allen Dingen der alliierten Truppen aus Afghanistan überschwappt. Dieser Gefahr sehen sich vor allen Dingen Tadschikistan, aber auch Usbekistan und Kirgistan ausgesetzt. Wie hier die Zukunft aussehen wird, das ist eine sehr, sehr offene Frage. Ich befürchte hier, dass es durchaus möglich ist, dass wir auch dort mit islamistischen Tendenzen in mittelfristiger Zukunft zu kämpfen haben werden.

Heise: Ich denke, wir sollten uns noch mal die Wohlstandsentwicklung anschauen, die auch sehr unterschiedlich ist. Was hat das Ende des Sowjetkommunismus – mit seinen materiellen Engpässen ja auch für die Bürger –, was hat es letztendlich gebracht, dieses Ende?

Kunze: Also wenn Sie sich die Umfragen in fast allen ehemaligen Sowjetrepubliken anschauen – es gibt schon ein ganz gewaltiges Maß an Nostalgie, an Sowjet-Nostalgie. Vor allen Dingen die einfachen Leute ohne Hochschulbildung oder auch die mit Bildung, die aber einfach keine angemessene Arbeit gefunden haben, sagen: Wir haben damals besser gelebt. Das ist oft so, man vergisst die schlechten Sachen, man hält die guten in Erinnerung. Das Gesundheitssystem war ein sehr, sehr gutes, das Bildungssystem war – sieht man von der ideologischen Überfrachtung ab – durchaus in Ordnung, es gab eine solide Allgemeinbildung. Das alles ist in den 90er-Jahren zusammengebrochen, wird jetzt mühsam wieder aufgebaut, ja, und wirtschaftlich sieht es so aus wie in allen Staaten, die über Nacht von einem System in ein anderes geworfen wurden. Die Planwirtschaft war von heute auf morgen weg und es entwickelte sich fast überall – auch hier gibt es Ausnahmen, Usbekistan ist so eine – Kapitalismus, ein Manchester-Kapitalismus, der den Leuten zu schaffen gemacht hat. Einige Länder versuchten das in einer Art dritten Weg abzufangen, in einer Art Staatskapitalismus, aber alles nicht ausgegoren. Vielen Leuten geht es gefühlt schlechter, Ausnahmen – natürlich – die baltischen Länder und auch Russland.

Heise: Was ist abschließend eigentlich aus den Russen geworden, die zu Sowjetzeiten ja in all diesen Ländern lebten, in all diese Länder kamen, und jetzt sind sie dort Minderheiten oder ganz weggegangen?

Kunze: Die meisten Russen aus Mittelasien aus dem Südkaukasus sind nach Russland gegangen, das ist heute ihre Heimat. Es gibt dort noch russische Minderheiten, es wird auch noch, vor allen Dingen in den Hauptstädten, Russisch gesprochen. Im Baltikum gibt es noch eine sehr, sehr starke russische Minderheit. Wenn Sie nach Lettland schauen, dort ist die Bevölkerung fast pari pari, allerdings sind die Russen dort – und das ist eigentlich eine Schande für ein europäisches Land – bis heute nicht gleichberechtigt. Sie haben also große Schwierigkeiten, die lettische Staatsbürgerschaft und damit die Staatsbürgerschaft eines EU-Landes zu erlangen, ...

Heise: Ja, sie sind zum Teil staatenlos.

Kunze: ... zum Teil staatenlos, zum großen Teil staatenlos, ja, und dann gibt es natürlich die Ukraine und Weißrussland, wo große russische Minderheiten leben, die sich aber nicht als Minderheiten verstehen dort.

Heise: Gibt es ein Land, wo Sie sagen würden, nach 20 Jahren ganz besonders erfolgreich, und eines, wo Sie sagen, das hat die meisten Probleme?

Kunze: Ja. Besonders erfolgreich: Estland. Und die meisten ...

Heise: ... obwohl sie jetzt mit der Krise umgehen müssen ...

Kunze: ... obwohl sie umgehen müssen, aber es ist, auch wenn man sich anschaut, was dort an Online, an Internet schon möglich ist, ein sehr, sehr fortschrittliches Land. Und die größten Probleme, obwohl eines der reichsten Länder, aber die größten Probleme für die dort lebenden Menschen sicher Turkmenistan.

Heise: Der Historiker Thomas Kunze zu 20 Jahre nach dem Auseinanderfallen der Sowjetunion. Sein Buch, das er zusammen mit dem Journalisten Thomas Vogel geschrieben hat, "Von der Sowjetunion in die Unabhängigkeit", ist übrigens im Christoph Links Verlag erschienen. Herr Kunze, vielen Dank für das Gespräch!

Kunze: Ich danke Ihnen auch für die Einladung!

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