Russland

Putin und die Juden

Soll in den Jüdischen Kalender: der 9. Mai.
Soll in den Jüdischen Kalender: der 9. Mai, der Tag des russischen Sieges im Zweiten Weltkrieg © Picture Alliance / dpa / Jan Woitas
Von Sabine Adler · 08.05.2015
Die jüdische Gemeinde Russlands hat vorgeschlagen, den 9. Mai, den Tag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg, als Feiertag in den jüdischen Kalender aufzunehmen. Warum tut sie das?
In einer Gasse, wenige Schritte von der Zentrale des russischen Geheimdienstes FSB entfernt liegt die Moskauer Hauptsynagoge. Pinchas Goldschmidt ist Ober-Rabbiner. Vor seinem Büro wartet ein Ehepaar mit einem etwa zwölfjährigen Sohn. Der behinderte Vater sitzt in einem altmodischen Rollstuhl, die Mutter schiebt den Sohn, der in die jüdische Schule wechseln soll vor sich, damit Rabbi Goldschmidt den Jungen anschauen kann.
"Welche Feiertage feiert ihr?“, fragt der Rabbiner. "Jüdische“, sagt der Junge. "Nur jüdische? Wie ist dein Name?“ "Leonid.“ "Na gut, morgen geben wir Bescheid.“ Der Vater fragt: "Sollen wir Sie anrufen?“ "Ja.“
Der Junge aus der sichtbar armen Familie hat gute Chancen. Plätze sind vorhanden, seitdem immer mehr Schulen eröffnet werden. Rabbi Goldschmidt misst den Schulen weit größere Bedeutung für die Wiederbelebung des jüdischen Lebens in Russland zu als den Synagogen.
"Heute gibt es mehr als 30 Synagogen in Moskau. Als ich nach Moskau kam, gab es nur zwei Synagogen. Aber das Wichtigste sind nicht die Synagogen, sondern die Schulen. Weil die meisten sowjetischen oder ex-sowjetischen Juden säkular sind. Sie kommen nicht in eine Synagoge."
Anbiederei an den Kreml?
Die vielen neuen jüdischen Einrichtungen und Organisationen werden sowohl vom russischen Staat als auch von zum Teil äußerst wohlhabenden jüdischen Unternehmern finanziert.
German Sachajajew vom russischen Jüdischen Kongress wirbt im Vorfeld des 9. Mai zu Hause und im Ausland dafür, den Tag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg in den jüdischen Feiertagskalender aufzunehmen. Kurz vor der Militärparade zum 70. Jahrestag an der etliche europäische Staats- und Regierungschefs aus Protest gegen Russlands Ukrainepolitik nicht teilnehmen werden, klingt diese Initiative für Kritiker wie Anbiederei an den Kreml.
Bei Rabbi Goldschmidt löst sie zwiespältige Reaktionen aus.
"Also wir können nicht von einer Feier reden. Es war kein 'Djen Pobeda' oder 'Victory Day' für uns war das das Ende der Hölle, das Ende des Holocaust. Wir haben nichts gewonnen, wir haben ein Drittel unseres Volkes verloren.“
Aber solch ein Eintrag im jüdischen Kalender wäre eine Würdigung der vielen jüdischen Soldaten in den Armeen, die gegen die Wehrmacht kämpften. Als Rabbi Goldschmidt kurz vor dem Ende der Sowjetunion nach Moskau kam, bemerkte er einen wesentlichen Unterschied im Umgang mit der Shoah.
"Für die Juden in Europa bedeutete der Holocaust, die Shoah: Wir waren die Opfer. Für das russische Judentum waren sie auch die Opfer, aber auch die Kämpfer. Ich bin aus der Schweiz, meine Urgroßeltern sind in Auschwitz umgekommen. Juden in Russland kannten überhaupt nicht den Begriff von den sechs Millionen. Das wussten sie nicht. Ich erinnere mich, hier in der Großen Synagoge hat man nicht vom Holocaust gesprochen, nicht von der Shoah, man hat gesprochen vom großen Krieg gegen die Faschisten. Deshalb sieht das ex-sowjetische Judentum die Shoah nicht als Opfer, sondern als Kampf. Und den haben wir gewonnen.“
Den Juden in Russland geht es gut
In der Moskauer Obraszowa-Straße befindet sich gleich neben dem neuen "Museum für Toleranz“, das "Jüdischen Sozialzentrum“ für Bedürftige. Kurz vor Pessach holten sie sich das Getreide für das Matzebrot. Weit über 600 jüdische Organisationen unterschiedlichster Art gibt es gegenwärtig in Russland. Nie ging es den rund 150.000 registrierten russischen Juden so gut wie heute, sagt Michail Tschlenow vom Eurasischen Jüdischen Kongress. Er machte zu Beginn des Ukraine-Konfliktes eine überraschende Feststellung.
"Es ist etwas - historisch gesehen – ganz Erstaunliches passiert: Man bezichtigt sich gegenseitig, Antisemiten zu sein. Russland beschuldigt die Ukraine und will ukrainische Juden retten und die Ukraine wirft Russland Antisemitismus vor. Genaugenommen gibt es weder da noch dort einen besonders besorgniserregenden Antisemitismus.“
Die von Russland beschworene Gefahr der faschistischen Junta in Kiew, vor der Juden hätten fliehen oder geschützt werden müssen, konnten weder Vertreter von jüdischen Organisationen noch der Moskauer Rabbi Pinchas Goldschmidt erkennen.
"Wo gab es ein Pogrom, wo sind die Toten? Wo sind die Verletzten, in welchem Spital sind sie? Warum gibt es nicht 5000 Demonstranten vor der ukrainischen Botschaft in New York oder Tel Aviv?“
Beide loben, dass sich das jüdische Leben im Russland von heute besser als je zuvor entfalten kann, sie vermeiden aber jede offene Kritik an der von dem russischen Präsidenten initiierte Annexion der Krim wie auch der Unterstützung der ukrainischen Aufständischen mit Waffen und Kämpfern. Michail Tschlenow:
"Der ukrainische Konflikt ist nach meinem Verständnis ein Familienzwist. Ukrainer und Russen betrachten sich als Brüder, noch immer. Und wir wissen ja, dass sich Brüder häufig gegenseitig umbringen. Aber Juden werden nicht als Brüder angesehen. Und wenn die Brüder fertig sind mit ihrem Kampf, werden sie einen Wodka trinken und fragen: Wer hat sich das eigentlich ausgedacht, waren das nicht die Juden? Ich bin absolut überzeugt davon, dass das so kommt, das sehen wir doch jetzt schon.“
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