Pazifismus neu denken
Der russische Präsident Wladimir Putin lässt den Kalten Krieg wieder aufleben. In dieser Phase wäre es der größte Fehler des Westens, sich auf dessen Muskelspiele einzulassen, meint der Journalist Thomas Franke. Der demonstrative Verzicht auf Gewalt werde die Russen letztendlich stärker beeindrucken.
25 Jahre wogen sich die Europäer in der Illusion, Frieden und Demokratie seien etwas nahezu Selbstverständliches, zumindest in unserem Teil der Welt. Jugoslawien schien ein Ausrutscher, andere Kriege weit weg und in den Nachrichten. Seit der Annexion der Krim durch Russland und dem Krieg im Osten der Ukraine ist klar: Der Krieg ist wieder da.
Der Aggressor Russland nennt klare Feinde: Die USA und ihre westlichen "Marionetten" sowie die "jüdisch-angelsächsischen Eliten und die Finanzoligarchie". Und Russland definiert seine Interessen, alte Einflusssphären aus sowjetischen Zeiten wiederherzustellen.
Russland erzieht seine Jugend zum Krieg
Russland gefährdet den Frieden und die Freiheit auch bei uns, denn Russland erzieht seine Jugend zum Krieg – durch Wehrkundeunterricht in der Schule, in speziellen Camps, in Kindergärten. Systematisch bereitet das staatlich gelenkte Fernsehen Krieg vor und Präsident Putin verherrlicht den Tod, der immer dann schön sei, wenn er den Menschen diene, einem Freund, dem eigenen Volk oder dem Vaterland.
Diese Rhetorik ist auch gegen uns gerichtet. Anders als vielen Bürgern im Zentrum Europas ist zum Beispiel den Menschen in den baltischen Staaten die Gefahr, die von der derzeitigen russischen Führung ausgeht, sehr bewusst.
Um Russlands Interessen immer wieder in Erinnerung zu rufen, bedient sich der Kreml auch unter Wladimir Putin des bewährten Arguments, die eigenen Leute jenseits der Grenzen schützen zu wollen. Die Russen seien "die weltweit größte ethnische Gruppe, die durch Grenzen getrennt ist", so Vladimir Putin.
Putin legt die Endphase des Kalten Krieges neu auf
Gegenwärtig restauriert Putin zwar nicht die Sowjetunion, wohl aber legt er die Endphase des Kalten Krieges neu auf. Das heißt, es gibt keine Partnerschaft, wohl aber Gegner.
Putin ist ein starker Mann und Stärke gilt - anders als bei uns - in Russland als Wert an sich. Unter anderem darauf beruht Putins unglaubliche Popularität. Hier ist einer, der "zeigt es allen und macht uns wieder groß und stark".
Gesellschaften, die nicht das Prinzip der Stärke pflegen und fördern, gelten als schwach und werden ausgelacht - so ist derzeit die Sicht auf Europa. Die Russen sehen nicht, dass Europa eine Wertegemeinschaft ist, getragen von Menschen, die an Politik mitwirken. Protest und bürgerschaftliches Verhalten halten viele Russen grundsätzlich für sinnlos. Altruismus als Motor für politisches Engagement gilt als naiv, eigenständiges politisches Denken freier Bürger ist nicht vorstellbar.
Pazifisten sind nicht ohnmächtig
Darauf braucht der Westen eine geeignete Antwort – eine neue, keine alte(!) Europa braucht nicht weniger, sondern mehr Pazifismus. Der größte Fehler, wäre, sich auf das Recht des Stärkeren einzulassen. Nein, es gilt überzeugend zu zeigen, dass in westlichen Gesellschaften die Menschen offensiv zu ihren Werten stehen und sie verteidigen.
Wer Frieden in Europa erhalten will, der muss die Sicht der russischen Öffentlichkeit auf Westeuropa ändern. Pazifisten sind dem Aggressor gegenüber nicht ohnmächtig. Das Gefühl der vermeintlichen Schwäche muss überwunden werden. Der demonstrative Verzicht auf Gewalt wird letztendlich beeindruckender sein. So er denn massenhafte Unterstützung findet.
Frieden war historisch gesehen immer die Ausnahme. Nur in Mitteleuropa wird er mittlerweile als ein Normalzustand angesehen. Damit dies so bleibt, müssen die Europäer immer wieder aufs Neue klarmachen, dass sie das Recht des Stärkeren nicht akzeptieren, ihm sogar etwas entgegensetzen. Friedlich.
Thomas Franke, studierte Politologie, Geschichte sowie Soziologie und arbeitet seit 1989 als freier Journalist, ist Mitgründer des Büros "texte und toene" und spezialisiert auf Ost- und Südosteuropa. Seit 2012 lebt er ständig in Russland und berichtet unter anderem für DeutschlandRadio.