"Man muss auf Deeskalation setzen"
Russische Militärmaschinen an den Grenzen zum NATO-Gebiet, NATO-Kampfjets, die sie abfangen wollen - ein neuer Kalter Krieg stehe nicht bevor, sagt der Schweizer Historiker Daniele Ganser. Aber zwischen Washington und Moskau herrsche großes Misstrauen.
Dieter Kassel: Unmittelbar nachdem vorgestern 26 russische Militärmaschinen im Luftraum über der Nord- und Ostsee, dem Schwarzen Meer und dem Atlantik unterwegs waren, unmittelbar nachdem NATO-Kampfjets aufstiegen, um ein Eindringen dieser Maschinen in den Luftraum fremder Länder zu verhindern, herrschte erst mal ziemlich Aufregung. Ich geb's zu, wie immer auch in den Medien, aber auch an anderen Stellen.
Gestern dann aber klang das alles schon viel entspannter. Da sagte zum Beispiel Bundeskanzlerin Angela Merkel sinngemäß, für sie sei das alles ein ganz normaler Vorgang gewesen, der keinen Grund zur Beunruhigung biete. And ähnlich klang das auch von anderen Stellen im Westen, und aus Moskau klang es ohnehin so. Wir wollen diesen Vorfall jetzt zum Anlass nehmen, um die Meinung einzuholen zum Verhältnis NATO und Russland von Daniele Ganser. Der Historiker leitet das Schweizer Institut für Friedens- und Energieforschung SIPER, und er ist unter anderem Autor des Buchs „NATO-Geheimarmeen in Europa: Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung", das jetzt allerdings schon so knapp zehn Jahre alt ist.
Herr Ganser, einen schönen guten Morgen!
Herr Ganser, einen schönen guten Morgen!
Daniele Ganser: Hallo, schönen guten Morgen!
Nur ein Ereignis in einer langen Kette
Kassel: Herr Ganser, gestern, ich hab's gesagt, klang das alles plötzlich ganz entspannt, und von beiden Seiten hieß es, da ist gar nichts Besonderes passiert. Sehen Sie es genauso entspannt?
Ganser: Ja, ich denke, man muss hier auf Deeskalation setzen. Es ist schon klar, dass natürlich die NATO und Russland sich jetzt mit Misstrauen beobachten, aber beide Seiten haben immer auch die Möglichkeit zu sagen, nein, es ist nicht schlimm, und das ist eigentlich besser so, weil so kann man deeskalieren.
Kassel: Das ist Diplomatie, aber ist es wirklich nicht schlimm, wenn russische Militärmaschinen Übungsflüge über solchen Gebieten fliegen und so nah an fremdes Hoheitsgebiet herankommen wie vorgestern?
Ganser: Es ist nie gut. Also, es wäre besser, wenn dem nicht so wäre, aber es ist natürlich ein Ereignis in einer langen Kette, und da hat eben der Sturz von Janukowitsch in der Ukraine einen Teil zu dieser Missstimmung beigetragen, und da hat eben auch die NATO sozusagen ihre Finger im Spiel.
"Es ist kein Kalter Krieg"
Kassel: Aber wenn wir das jetzt sehen, was da passiert ist vorgestern, dann erinnert das ja manche tatsächlich an die Zeiten des Kalten Krieges, als es relativ üblich war, dass beide Seiten bei Übungsflügen so nah wie möglich an die jeweilige Grenze geflogen sind, um dann kurz davor wieder abzubiegen. Sind wir inzwischen wieder so weit wie damals?
Ganser: Es ist kein Kalter Krieg, das muss man deutlich sagen. Es ist ein anderes Zeitalter mit anderen Machtverhältnissen, aber was sicher so ist oder was sicher richtig ist, dass zwischen Washington und Moskau weiterhin eine große Misstrauensstimmung da ist, das hat sich nicht geändert. Vor allem auch nicht, weil Washington ja in den letzten Jahren die NATO-Osterweiterung vorangetrieben hat, und das hat eigentlich die Russen noch zusätzlich verärgert.
Kassel: Aber wenn wir über die NATO-Osterweiterung sprechen, wenn wir über Länder sprechen wie Polen, Ungarn, Tschechien, die baltischen Republiken, da ist es ja nun so gewesen, dass da jeweils Regierungschefs von demokratisch gewählten Regierungen gesagt haben, wir wollen in die NATO. Hätte in Ihren Augen trotzdem die NATO sagen müssen, wir lehnen das ab mit Rücksicht auf einen Drittstaat, auf Russland?
Ganser: Sie sagen richtig, dass diese Länder in die NATO wollten, dass sie sich dadurch Sicherheit versprochen haben, aber man muss das Ganze noch ein bisschen weiter zurückdrehen ins Jahr 1990. Damals hatten wir in Deutschland die Wiedervereinigung, und das war eine sehr gute Sache. Nur, um die Wiedervereinigung zu machen, also um die DDR in die NATO einzugliedern, mussten die Russen damals Divisionen aus der DDR abziehen – das waren russische Soldaten –, und da hat Gorbatschow gesagt, wir können das machen, das ist möglich, aber wir hätten gern von der NATO das Versprechen, dass sie sich dann bitte keinen Zentimeter weiter nach Osten ausdehnt, weil das würde uns verunsichern.
Der Preis für die deutsche Wiedervereinigung: Keine NATO-Osterweiterung
Und der frühere amerikanische Präsident Bush, der Vater, war damals im Amt und Kohl war damals im Amt, und die haben den Russen zugesichert, gemäß Gorbatschow, dass man nur die DDR eingliedert und dann keine weiteren Länder aufnimmt. Und das ist jetzt das Problem von Putin, dass er sagt, dieses Versprechen wurde zwar gegeben – und wir sind alle froh, dass das damals friedlich verlief, 1990 –, aber es wurde dann auch gebrochen.
Und da hätte eben die NATO sagen müssen, Ländern wie Polen, wir verstehen, dass ihr aufgenommen werden möchtet, aber wir können euch nicht aufnehmen, weil wir haben schon ein Versprechen gegeben, dass wir das nicht machen. Das ist wie ein Klub, wo Sie sagen, freut mich, wenn Sie Mitglied werden möchten, aber wir haben unsere Konditionen, und Sie können leider nicht Mitglied werden.
NATO-Mitgliedschaft für Ukraine würde bei Russland "rohen Nerv" freilegen
Kassel: Aber wie lange muss denn ein solches Versprechen in Ihren Augen gelten – für immer und ewig?
Ganser: Ja, das müsste eigentlich gelten, solange der andere Part nicht sagt, nun gut, ich habe diese Ängste nicht mehr – weil es geht hier um Ängste. Aber die Russen haben tatsächlich die Ängste, dass sie sozusagen über dieses Territorium, wo sich jetzt die NATO erweitert hat – das ist Estland, Lettland, Litauen, auch Polen, Rumänien, Bulgarien –, und jetzt will ja die NATO die Ukraine in das NATO-Bündnis reinnehmen. Das hat die NATO 2008 beschlossen und verfolgt dieses Ziel sehr, sehr hartnäckig. Der amerikanische Botschafter hat damals schon zurückgeschrieben nach Washington, das würde einen rohen Nerv der Russen freilegen, wenn man versucht, die Ukraine reinzuziehen in die NATO, und da hat er völlig recht gehabt.
Das heißt, ich denke, solange die Angst besteht, muss auch das Versprechen bestehen. Weil wenn man es dann bricht, dann hat man eine Krisensituation, und jetzt haben wir die. Und das ist auf jeden Fall ein Nachteil für alle Beteiligten.
Das heißt, ich denke, solange die Angst besteht, muss auch das Versprechen bestehen. Weil wenn man es dann bricht, dann hat man eine Krisensituation, und jetzt haben wir die. Und das ist auf jeden Fall ein Nachteil für alle Beteiligten.
Kassel: Sagt Daniele Ganser, Historiker und Leiter des Instituts für Friedens- und Energieforschung SIPER. Herr Ganser, ich danke Ihnen fürs Gespräch!
Ganser: Danke, schönen Morgen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.