Moskaus namenlose Tote
Russische Soldaten kämpfen und sterben in der Ukraine. Die Toten werden in der Heimat bestattet, in namenlosen Gräbern. Darüber zu reden, ist gefährlich. Doch immer mehr Angehörige wollen die Wahrheit erfahren.
Die Männer kamen von hinten und schlugen gezielt zu. Ihr Opfer verlor sofort das Bewusstsein. Dann prügelten sie weiter auf den Mann ein. So rekonstruiert Lew Schlossberg, was am späten Freitagabend mit ihm geschah. Er liegt mit einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus.
Schlossberg ist Abgeordneter des Gebietsparlaments von Pskow im Nordwesten Russlands. In der Region wurden vor acht Tagen zwei russische Fallschirmjäger beerdigt, die offensichtlich in der Ostukraine ums Leben gekommen sind. Journalisten, die die Bestattung beobachteten, wurden bedroht. Wenig später verschwanden die Namenstafeln von den Gräbern der Gefallenen. Lew Schlossberg ging der Sache nach. In dem unabhängigen Internetsender Doschd-TV sagte er:
"Soldaten werden heimlich beerdigt. Es gibt neue Gräber ohne Namen und Todesdaten. Ohne militärische Abzeichen. Das erinnert an Afghanistan. Damals, in der Sowjetunion, wurden Verluste genauso verheimlicht."
Schlossberg ist überzeugt: Russland führt Krieg, und es fallen weit mehr Soldaten, als bisher bekannt wurde. Für ihn besteht kein Zweifel, dass er wegen dieser Äußerungen zusammengeschlagen wurde.
"Es waren meine Erklärungen der letzten Tage und meine direkten Aufrufe an die Menschen, die Todesumstände ihrer Angehörigen aufzuklären und zu sammeln. Denn die Verluste sind groß. Wenn die Menschen sich dessen bewusst werden, können sie den Krieg stoppen."
Die Kameraden des Sohnes haben schreckliche Dinge erzählt
Das tun sie nur zögerlich. Ella Poljakova ist Vorsitzende der Soldatenmütter St. Petersburgs. Bei ihr haben sich in der letzten Woche viele besorgte Ehefrauen und Mütter von Soldaten gemeldet, die in Manöver geschickt wurden und die sich – anders als bei früheren Manövern – seit Wochen nicht zuhause gemeldet haben. Die Frauen fürchten die Öffentlichkeit, haben Angst. Ella Poljakova:
"Außerdem hat mich eine Mutter angerufen, der die Leiche ihres Sohnes zugestellt wurde. Im medizinischen Gutachten heißt es, er sei an einer Kampfverletzung gestorben, aber der Todesort ist durchgestrichen. Die Frau hat sich mit den Kameraden ihres Sohnes in Verbindung gesetzt. Sie haben ihr schreckliche Dinge erzählt: Ihr Sohn sei in einer Kolonne von 1000 Mann gewesen. Hundert von ihnen seien am 13. August umgekommen, bei Snischnje in der Ostukraine."
Etwa zur gleichen Zeit sind neun russische Fallschirmjäger im russisch-ukrainischen Grenzgebiet umgekommen. Das Militär schweigt dazu. Ella Poljakowa hat die Behörden aufgefordert, den Tod der neun Soldaten aufzuklären.
Zufall oder nicht - am Freitag hat das Justizministerium angeordnet, ihre Organisation, die Soldatenmütter von St. Petersburg, in das Register ausländischer Agenten einzutragen. In der jetzigen Situation als "Agent" des Auslands zu gelten, ist vor allem ein Angriff auf die Reputation der Petersburger Soldatenmütter, die derzeit ausschließlich Gelder aus einem Fonds des russischen Präsidenten erhalten.
Ella Poljakova fühlt sich, wie der Abgeordnete Lev Schlossberg, an die Zeit des Afghanistan- und der Tschetschenienkriege erinnert. Mit einem Unterschied:
"Die Gesellschaft ist heute eine andere. Gegen den Tschetschenienkrieg gab es einen massenhaften inneren Widerstand. Die Eltern haben ihre Söhne aus dem Krieg nach Hause geholt. Heute gibt es das nicht."
Die meisten Russen beziehen ihre Informationen aus dem Staatsfernsehen. Dort heißt es, die russischen Soldaten hätten sich auf ukrainisches Gebiet verirrt oder seien im Urlaub dort. Stimmen einfacher Bürger vor einem Einkaufszentrum in Moskau am Sonntagnachmittag:
"In der Ostukraine kämpfen Freiwillige, die ihren Freunden helfen. Russland führt keinen Krieg. Das kann nicht sein."
"Vermutlich sind russische Truppen in der Ostukraine. Aber Russland hat nun mal Interessen dort und verteidigt sie. Das tut jedes Land. Das ist normal."