Russland

Unruhige Tage im August 1991

Der frühere sowjetische Präsident Michail Gorbatschow im November 2014
Mit ihm begann der Prozess der Perestroika: Der frühere sowjetische Präsident Michail Gorbatschow. Das heutige Russland ähnele immer mehr der UdSSR vor dem Beginn der Perestroika, meint der Publizist Sergey Lebedew © picture-alliance / dpa / Pitalev Ilya
Von Sergey Lebedew |
Das heutige Russland ähnele der Sowjetunion, meint der Schriftsteller und Publizist Sergey Lebedew. Beim August-Putsch vor 25 Jahren sei zwar das Denkmal für Felix Dserschinski zerstört worden. Aber heute bildeten ehemalige Geheimdienstler die Herrscherriege.
Den Sommer 1991 verbrachten wir auf unserer Datscha. Einen Fernseher hatten wir dort nicht, ein Telefon gab es im Bahnwärterhäuschen, eins für alle Grundstücke.
Wir befanden uns sechzig Kilometer von Moskau, aber die Stadt schien weit entfernt. Und eines Morgens - beim Frühstück hörten wir immer Radio - verkündete der Sprecher, Gorbatschow sei krank, in Moskau habe sich das Staatskomitee für den Ausnahmezustand gebildet, Truppen seien in der Stadt.
Meine Großmutter, eine glühende Kommunistin, schien den Rundfunkempfänger abküssen zu wollen: Der Sprecher verlas eine Ansprache des Staatskomitees für den Ausnahmezustand, in der es hieß, die Sowjetunion drohe zu zerfallen und die Perestroika sei in eine Sackgasse geraten … Mein Vater jedoch aß sein Frühstück zu Ende und ging Unkraut jäten.

Moskau schien weit weg

Über all das wurde gesprochen - während man sich auf den Zaun zum Nachbarn stützte und in einen reifen Apfel biss. Es schien, als befänden sich das Staatskomitee für den Ausnahmezustand, die Panzer, die Menschen auf den Moskauer Straßen irgendwo in einem fernen Land, auf einem anderen Planeten.
Dann verkündete das Radio mit der Stimme eines anderen Sprechers die Rückkehr Gorbatschows nach Moskau und die Verhaftung der Mitglieder des Staatskomitees für den Ausnahmezustand.
In diesem Jahr ist der Augustputsch in Moskau 25 Jahre her. Ich denke, viele werden sich an die Masse von Menschen erinnern, die damals auf die Straße gingen, um gegen die sowjetische Revanche zu protestieren und den russischen Präsidenten Jelzin zu unterstützen. Sie werden sich erinnern – und sich grämen:
Was war das für eine Epoche, als die Menschen für die Demokratie eintraten! Und dabei wird man wieder völlig vergessen, dass noch mehr Menschen NICHT auf die Straße gegangen waren: aus Gleichgültigkeit, aus Verwirrtheit, weil sie niemanden unterstützen wollten oder ahnten, dass Jelzins Sieg zum Zerfall der Sowjetunion führen würde.

Das Russland von heute erinnert an die UdSSR

Im heutigen Russland, wo Demonstrationen ohne amtliche Genehmigung als Verbrechen gelten, wo der Präsident den Zerfall der UdSSR für die "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" hält, wird des 25. Jahrestags des Augustputschs wohl kaum gedacht werden. Jene, die damals unbeteiligt geblieben waren, haben in gewissem Sinne gewonnen.
Das Rad der Geschichte wurde zurückgedreht, und Russland ähnelt immer mehr der UdSSR vor dem Beginn der Perestroika – jener UdSSR, die die Putschisten wiederauferstehen lassen wollten. Aber wegen der Erinnerung an Hunderttausende von Menschen, die damals gegen einen totalitären Staat protestierten, wird die heutige Propaganda eine Erwähnung dieses Themas vermeiden.
Es waren so viele – und doch zu wenige.

Ein symbolischer Sieg

Doch diejenigen, die damals auf die Straße gingen, haben diese Tage als Zeit der Euphorie, des Jubels, der großen Hoffnungen in Erinnerung. Man meinte, mit der Zerstörung des Denkmals für Felix Dserschinski, dem Gründer der sowjetischen Geheimpolizei, zerstöre man auch das System der Angst selbst.
Dennoch konnten sich die Menschen nicht entschließen, das KGB-Gebäude zu stürmen und die Archive zu öffnen, die nicht nur Zeugnisse über die sowjetischen Verbrechen bargen, sondern auch die Namen der Henker, Denunzianten und Geheimagenten.
Die Archive blieben unangetastet, die Idee einer Amtsenthebung wurde von der Mehrheit der Vertreter der demokratischen Bewegung und der Dissidenten als angeblich totalitär zurückgewiesen. Die Opponenten des sowjetischen Regimes gaben sich mit einem symbolischen Sieg zufrieden – dem Sturz des Denkmals – und schufen damit die Voraussetzung für die Rückkehr des Regimes.
Heute befindet sich das Monument des Eisernen Felix in einem Museumspark, aber Dserschinskis Nachfolger haben die russische Politik und das gesellschaftliche Leben fest im Griff. Die ehemaligen Mitarbeiter der sowjetischen Geheimdienste bilden mit Präsident Wladimir Putin an der Spitze die Herrscherriege.
Und es ist eigentlich auch nicht wichtig, wo Dserschinski heute steht. Er ist wieder da.

Sergej Lebedew, 1981 in Moskau/Russland geboren, beschäftigt sich als Journalist und Autor mit der Aufarbeitung der Stalinzeit. Bevor er sich dem Schreiben widmete, war er jahrelang mit seinen Eltern auf geologischen Expeditionen im russischen Norden und in Zentralasien unterwegs. Die Entdeckung ehemaliger Gulags bei Grabungen weckte sein literarisches Interesse an der russischen Vergangenheit. Seine beiden in Deutschland erschienenen Romane "Der Himmel auf ihren Schultern" (2011, dt. 2013) und "Menschen im August" (2015) betrachten die Sowjetzeit und die Auswirkungen der Unterdrückung im stalinistischen System durch die Linse der Familiengeschichte. Lebedews Arbeit blieb von politischen Repressionen nicht unberührt. Als Journalist schrieb er in den letzten Jahren für eine Zeitung, die infolge des Ukrainekonflikts verboten wurde. "Menschen im August" erschien in deutscher Übersetzung als Weltpremiere, da eine Veröffentlichung in Russland nach mehrjähriger Suche nach einem Verlag erst im Januar 2016 möglich war.

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