Von Brachial- zur Selbstzensur
Bei der sogenannten Bulldozer-Ausstellung ging das Sowjet-Regime 1974 mit Planierraupen, Lkws und Wasserwerfern gegen eine Kunstausstellung vor. Zeitzeugen sagen, heute herrsche in Russland vor allem Selbstzensur.
Moskau im September 1974: 13 Nonkonformisten wollen ihre Kunst nicht mehr nur in ihren Wohnungen ausstellen. Sie laden offiziell ein zur "ersten herbstlichen Bildervorführung unter freiem Himmel" und bringen ihre Werke auf ein Feld am Stadtrand. Das Sowjet-Regime will diese Ausstellung abstrakter Kunst verhindern und hat Geheimdienstler geschickt. Die Szenerie zur Mittagszeit am 15. September: Planierraupen, Lkw und Wasserwerfer parken das sonst freie Feld zu. Überall stehen Männer herum, angeblich Arbeiter, die einen Park anlegen sollen.
Die Kunsthistorikerin und Kuratorin Margarita Tupitzyna hat das Versteckspiel, das die Moskauer Behörden zur Sabotage der Ausstellung betrieben, vor Ort beobachtet:
"Es war sofort offensichtlich. Wenn Sie kommen, um Bilder zu zeigen und dort plötzlich Bäume gepflanzt werden müssen, dann ist klar, dass das kein Zufall ist. Und dann noch diese Gesichter! Wir sehen doch auch jetzt, wer wer ist, und so war auch damals klar, was das für Menschen sind. Das Gesicht reichte aus, mehr musste man nicht wissen."
Wer sich wehrte, wurde verprügelt
Aus Vorsicht hatte das Künstlerduo "Komar&Melamid" seine Bilder in der Nacht vor der Ausstellung bei Freunden deponiert. Sie hatten mit der "Soz Art" eine neue Kunstrichtung geschaffen, die sich kritisch mit der kommunistischen Ideologie und deren Symbolen auseinandersetzte. Vitaly Komar sorgte sich aber allein wegen des Regenwetters, als er mit seinen Bildern und der Staffelei auf dem Feld eintraf. Was dann geschah, hatte er nicht erwartet:
"Plötzlich griffen uns Leute in zivil an. Sie rissen mir meine Arbeiten aus der Hand, zerstörten sie und warfen sie auf den Lkw. Denjenigen, die sich wehrten, verdrehten sie die Hände und verprügelten sie. Ich nahm unser Selbstbildnis, auf dem Alik Melamid und ich im Stil von Lenin und Stalin abgebildet waren, drückte es an mich und rannte auf die andere Straßenseite.
Einer erwischte mich und schubste mich zu Boden. Ich sah, wie er mit einem Fuß auf dem Bild stand und versuchte, es zu zerbrechen. Als sich unsere Blicke trafen, sagte ich freundlich: 'Was machst du da, es ist doch ein Meisterstück.' Und glauben Sie mir: Er hörte auf damit und schmiss das Bild auf den Laster. Aus dem Matsch sah ich, wie der Lkw Richtung Metro davon fuhr – meine Arbeit verabschiedete sich irgendwohin in die Geschichte."
Ein Vorbote der Perestroika
Was die falschen Parkarbeiter noch nicht auf die Autos geworfen hatten, walzten die Planierraupen nieder: Bilder und Staffeleien zerbrachen im Matsch. Die Aktion der russischen Ordnungshüter zog eine Welle kritischer Berichte vor allem in der ausländischen Presse nach sich; die verkleideten Sicherheitskräfte hatten auch Journalisten verprügelt.
Unter dem Eindruck der Kritik genehmigte die sowjetische Führung zwei Wochen später eine Schau im Izmajlovskij-Park. Komar nennt diese Erlaubnis "einen Vorboten der Perestroika", einen Feiertag für die Kunst. Margarita Tupitzyna schaut auf Russland heute und den Herbst 74:
"Diese Menschen waren sehr mutig, sie hatten keine Angst – absolut keine Angst. Jetzt fürchten wir uns vor allem und jedem, weil wir etwas zu verlieren haben. Heute reicht es aus, ein falsches Wort zu sagen. Ich habe keine Vorstellung davon, was einem dann angetan wird - aber sie sind in der Lage, dir etwas anzutun. Damals gab es keine Furcht. Wir waren damals freier als jetzt. Nicht wirklich natürlich, aber in unserem Bewusstsein waren wir frei."
Künstler, Musiker, Normalbürger – alle Russen würden sich in diesen Tagen der Selbstzensur unterziehen, sagt Tupitzyna. Anders sie selbst, die nach dem Verlassen der Sowjetunion von New York aus Karriere gemacht hat. Und anders auch die Künstlerin Irina Nakhova, die Tupitzyna für die Biennale von Venedig kuratiert. Ihre Teilnahme an der Ausstellung vor 40 Jahren hatte Nakhova abgesagt, weil ihre Eltern bedroht worden waren. Sie bereut diese Entscheidung. Bei ihrem aktuellen Entwurf für den Russischen Pavillon setze sie keine Schere im Kopf an, meint ihre Kuratorin.
Nein zum Versteckspiel
Nakhova arbeitet viel zum kulturellen Gedächtnis und Themen des Morbiden. Sie macht Kunst, die weh tut. Ihren Entwurf für die Biennale 2015 entwickelt sie in Amerika unter dem Stichwort "Gedächtnis-Rehabilitation". Demnächst wollen Künstlerin und Kuratorin ihr Biennale-Konzept beim russischen Kulturministerium einreichen. Nein, sie würden auch keine Form des inhaltlichen Versteckspiels betreiben, um den Entwurf durchzukriegen, meint Tupitzyna.
Mehr sagt sie nicht zum Thema – noch nicht. Russland zensiert und bestraft kritische Kunst. Die Beispiele reichen von der Ausstellung "Vorsicht! Religion" über Pussy Riot bis hin zum Verbot der Fluchsprache, des Mat, in diesem Sommer. Angesichts der Tatsache, dass sich Irina Nakhova immer wieder die Erinnerungspolitik vornimmt, darf man gespannt sein, wie Russlands oberste Kunst-Aufseher auf ihren Entwurf für den Russischen Pavillon reagieren werden.