Russlanddeutsche an der Wolga

Schmerzhafte Identitätssuche

Katharina die Große als große Statue in Marx. Sie ließ Deutsche an der Wolga ansiedeln im 18. Jahrhundert.
Marx erinnert an Katharina die Große mit einer Statue. © Thielko Grieß / Deutschlandradio
Von Thielko Grieß |
Vor rund 250 Jahren ließ die russische Zarin Katharina II. Deutsche an der Wolga ansiedeln. Ihre Kultur verschwindet jedoch immer mehr. Einige arbeiten an der Wiederbelebung, andere wollen nach Deutschland, manche kommen enttäuscht zurück.
Wer vom Ufer des Flusses in Marx an der Wolga hinaufgeht, passiert auf der Promenade Statuen verdienter sowjetischer Helden und trifft schließlich auf eine Kaiserin. Dort thront Katharina II, die den Beinahmen "die Große" trägt. Angelegt wurde Marx von deutschstämmigen Siedlern, hieß früher Katharinenstadt. Die Bolschewisten benannten die Stadt 1920 um, zunächst in Marxstadt.

Im Weltzeit-Podcast berichtet Kulturwissenschaftlerin Anna Flack (Uni Osnabrück) über identitätsstiftende Ernährung für Russlanddeutsche im Altai-Gebiet.

Gar nicht weit vom Denkmal Katharinas entfernt laufen die beiden Freundinnen Natalja und Vera vorbei, 17 und 16 Jahre alt. Ich erfahre, dass die beiden Schülerinnen gerade Deutsch lernen und sich viel mit ihrer Identität auseinander setzen, mit den Wurzeln ihrer Vorfahren, die einst als Siedler hierher kamen. In ihren Familien werde darüber nicht viel gesprochen, und in der Schule praktisch gar nicht.
"Man sagt uns, dass die Stadt eine Siedlung war. Aber dass hier anfangs Deutsche lebten, dass sie die ganze Stadt gebaut haben, das wird alles verschwiegen. Das wissen nur die, die sich dafür interessieren."
An einer Promenade in der Nähe des Wolgaufers steht der große Schriftzug "Jekatherinenstadt - Marx" zu lesen.
An einer Promenade in der Nähe des Wolgaufers steht der Schriftzug "Jekatherinenstadt - Marx".© Thielko Grieß / Deutschlandradio
In ihrem Innern, erzählt Vera, sei nun ganz viel in Bewegung geraten.
"Gewaltige Veränderungen! Einstellungen verändern sich, die Weltanschauung, teilweise vielleicht sogar der Charakter."
Ob sie ihre Gefühle noch etwas mehr beschreiben könnte, bitte ich sie.
"Wenn ich mehr über die Geschichte erfahre, die Sprache erlerne und sehe, wie sie, die Deutschen, sich als Volk verstehen, ihre Sicht auf die Welt und auf das Leben insgesamt, dann begreife ich: Ja, ich bin Russlanddeutsche, oder, sagen wir, einfach künftige Deutsche. Wenn ich nach Deutschland umziehe, bin ich bereits keine Russlanddeutsche mehr, sondern einfach Deutsche."
Dann sprechen sie über ihre Träume, darüber, wofür sie die Sprache lernen und den Wunsch, einer Enge zu entkommen, die sie in Marx spüren. Es geht auch um Politik. Damit ihr Gespräch mit dem deutschen Journalisten ihnen nicht schadet, haben wir ihre Vornamen geändert.

Russlanddeutsche konservierten ihre Kultur stärker

Heute leben in der Region wieder einige tausend Deutschstämmige. Die Zahlen sind nicht ganz eindeutig, weil die Angaben oft auf dem Gefühl beruhen, wie sehr sich ein Individuum den alten Wurzeln noch verbunden fühlt.
Die evangelisch-lutherische Kirche in Marx wird derzeit renoviert.
Die evangelisch-lutherische Kirche in Marx wird derzeit renoviert.© Deutschlandradio / Thielko Grieß
Im zweiten Stock des Deutsch-Russischen Hauses zeigt Jelena Gejdt auf Fotografien an der Wand. Die zeigen, wie vor Jahren die Statue Katharinas errichtet wurde. Ältere Deutschstämmige hätten vor Rührung geweint, erzählt sie, weil es noch gar nicht so lange her ist, dass so etwas gar nicht denkbar schien. Man kann erkennen: Die Geschichte ist hier an manchen Stellen immer noch Teil der Gegenwart.
Auch Jelena Gejdt ist Deutschstämmige – ihr Name verrät es. Wie wohl fast jede und jeder hat auch sie einmal überlegt auszureisen. Aber dann hat die Familie, ihr Mann ist Russe, sie zurückgehalten. Seither hat sie sich der Aufgabe verschrieben, das Deutsche in Marx zu erhalten. Sie ist Vertreterin der "National-Kulturellen Autonomie Russlanddeutscher", sitzt in unzähligen Ausschüssen und Gremien der Kommune und der Region. Wer sie trifft, merkt rasch: Ihr Telefon klingelt dutzendfach am Tag, sie kennt auf der Straße viele Gesichter, Jelena Gejdt ist eine Netzwerkerin.
"Im Vergleich zur Kultur in der Bundesrepublik hat sich die Kultur der Russlanddeutschen stärker konserviert. Das heißt, Russlanddeutsche kennen und singen die Lieder ihrer Großeltern. Ich vermute, dass nicht alle Deutschen die Lieder ihrer Großeltern kennen, außer vielleicht ‚Stille Nacht‘ oder ‚O du fröhliche‘, also ich meine Volkslieder. Die Kultur in Deutschland ist schon europäischer geworden."
Und damit meint sie wohl, sie sei weniger deutlich erkennbar. Bewerten will sie das ausdrücklich nicht. Die 47-Jährige, deren zwei Töchter hier leben und längst erwachsen sind, ist Mitglied von "Einiges Russland", der Partei, auf die sich Wladimir Putin und die in Moskau Herrschenden stützen. Sie könne sich mit den Zielen der Partei identifizieren, erzählt sie. Ist sie also eine russische Patriotin? Gejdt überlegt kurz und antwortet:
"Russländisch", was in der russischen Sprache bedeutet: Ich bin Teil eines Vielvölkerstaats, der Russischen Föderation.
"Ich bin Patriotin, Russlanddeutsche. Ich liebe Russland, aber gleichzeitig bin ich sehr stolz, dass ich Teil der russlanddeutschen Ethnie bin. Ich kenne die Geschichte meines Volkes, der Deutschen an der Wolga, und hoffe sehr, dass es eine Zukunft haben wird."

Stalin ließ Deutschstämmige deportieren

Unten im Erdgeschoss des Deutsch-Russischen Hauses gibt es einen Saal von der Größe zweier Klassenzimmer. Vorn eine Bühne, doch die Stuhlreihen sind noch leer, weil erst in einigen Tagen Premiere ist. Eine Gruppe von Frauen im Rentenalter übt ihr Theaterstück.
Noch sitzt nicht jeder Schritt. Katharina zum Beispiel müsste weiter vorne stehen. Katharina, da ist sie schon wieder, die einstige Zarin. Die Frauen erzählen die Geschichte der Deutschstämmigen an der Wolga: Alles begann vor gut zweieinhalb Jahrhunderten mit der Einladung der Herrscherin. Dann gewährten ihnen die Bolschewisten nach der Revolution vor gut 100 Jahren sogar die Autonome Republik der Wolgadeutschen, aber 1941, nach dem Angriff NS-Deutschlands auf die Sowjetunion, wurden die meisten dieser Volksgruppe deportiert.
Undatierte Aufnahme des sowjetischen Diktators Josef Stalin.
Der sowjetische Diktator Josef Stalin ließ Während des Zweiten Weltkrieges Russlanddeutsche nach Sibirien deportieren.© picture-alliance / dpa
Das ist zwar lange her, aber berührt doch schon die Biografien jeder der Frauen, die hier proben.
"Ich bin in Kasachstan geboren", sagt die eine, "ich in Usbekistan, ich in Tadschikistan, ich an der Grenze zu Afghanistan" – eben jeweils dort, wohin die Eltern deportiert worden waren. Als es wieder erlaubt war, kehrten die Familien in die Gegend von Marx zurück, manche erst in den 90er-Jahren nach dem Ende der Sowjetunion. Wenn diese Frauen aus ihrem Leben erzählen, sprechen sie stets auch von Verboten, Entbehrungen und Entwurzelungen.
"Es gab uns!", rufen sie im letzten Teil des Theaterstücks. Ein Satz, der den Frauen auch heute noch wichtig ist: Es gibt uns.
Das Theaterstück, das Singen alter Volkslieder, das Beisammensein im Kreis derer, die Ähnliches erlebt haben: Die Frauen tun dies, weil es ihre Identität ist. Obwohl ihnen die deutsche Sprache fast gänzlich fehlt.

Deutsche Sprache ist fast verloren

"Deutsch zu sprechen, ist schwierig, weil die Sprache in Marx verboten war. Nicht nur in Familien, sondern überhaupt. Und wir sind russischsprachig aufgewachsen. Die deutsche Sprache haben wir nur gehört, wenn Mutter die Tür geschlossen und mit ihrer Freundin gesprochen hat. Damit wir es nicht hören."
Erinnert sich Sinaida Sterz an ihre Kindheit zurück.
"Wir haben jetzt angefangen, die Sprache zu lernen, weil das doch unsere Wurzeln sind, die man kennen sollte. Wir bemühen uns, so gut es geht: Wir singen Lieder, und hier im Theaterstück sprechen wir Sätze in deutscher Sprache, und dann die Übersetzung ins Russische. Wir bemühen uns, die deutsche Sprache zu verwenden. Uns gefällt das."
Diese Gruppe trifft sich schon seit Langem. Doch eine Frau, Irina Balzer, ist erst vor kurzem dazu gestoßen. Sie ist erst vor wenigen Wochen zurückgekehrt, nachdem sie 20 Jahre lang in Landau in Rheinland-Pfalz gelebt hatte. Der Sog ihrer Heimat an der Wolga wog schließlich doch schwerer als die Tatsache, dass Enkel, Kinder und Eltern in Deutschland geblieben sind. Ihre Familie lebt aufgeteilt nun auf zwei Staaten – was für viele russlanddeutsche Familien in Marx gilt. Irina Balzer seufzt, sie lacht.
"Es zieht mich in die Heimat zurück. Mag es dort noch so gut sein, aber nun, die Heimat ist die Heimat. Wir möchten hier unsere Wurzeln wiederbeleben, unsere deutsche Sprache. Damals haben sie uns die Autonomie nicht wieder gegeben, aber man möchte schon, dass all dies wieder auflebt."

Romantisierung der Autonomie gegen das Leid

Autonomie ist für die Frauen ein wichtiges Wort. Obwohl sie die historische Autonomie der Wolgadeutschen von 1918 bis 1941 nicht erlebt haben, verbinden sie doch mit ihr Wohlstand, mehr Freiheiten, ein besseres Leben, vielleicht ein bisschen so wie heute in Deutschland.
"Die Vorstellung vom glücklichen und wohlhabenden Leben der Wolgadeutschen in der autonomen Republik ist ein Mythos, keine Realität."
Sagt Arkadij German, Professor an der Staatlichen Universität Saratow. Er ist selbst Kind von Deutschstämmigen, hegt aber keinen romantischen Blick auf die Zeit nach der Revolution.
"Das ist nicht zufällig getan worden, nicht weil die Bolschewisten die Nationalitäten so sehr achteten, sondern es war einfach ein taktischer Zug, weil der russische Anteil an der Bevölkerung im Russischen Reich 43 Prozent betrug, aber 57 Prozent Nichtrussen waren. Die Machthaber mussten sich der Unterstützung dieser Bevölkerungsteile versichern."
Die Romantisierung ist ein Phänomen erst der letzten Jahrzehnte.
"Das ist danach in der Erinnerung der Menschen geschehen, als sie noch Schlimmeres zu durchleben hatten: die Deportation, die Arbeitsarmee, jahrzehntelange, erzwungene Ansiedlung in anderen Gegenden, der ständige Druck durch ideologischen Hass, der auf sie niederging: die Deutschen, die Deutschen! Das historische Gedächtnis der Menschen an diese Zeit war – nach dem Ende der Sowjetunion – praktisch vernichtet."

Schweigen über die schwierige Geschichte

Marx ist heute eine Kleinstadt mit rund 30.000 Einwohnern, in der die Deutschstämmigen eine kleine Minderheit sind. Um das historische Zentrum mit seinen flacheren Häusern herum sind die üblichen mehrstöckigen, sozialistischen Wohnhäuser gebaut worden. Ein Spaziergang am Abend führt zu einem großen öffentlichen Gebäude. Ein Wachmann sitzt dort am Eingang, er ist Russe und Rentner. Ach, die Deutschen, sagt er freundlich. Mit denen gibt es keine Schwierigkeiten.
"Sehr gut, vor allem in meiner Generation. Ob Du Deutscher bist, ist nicht so wichtig, das ist egal. Wir leben alle auf einem Haufen. Ich hatte drei Deutsche unter meinen Freunden, sehr gute Freunde. Egal, ob du nun Deutscher bist, Russe oder Kasache oder sonst wer. Russland ist groß und reich an Völkern. Wen soll man denn hier kränken? Wir leben zusammen in einem Russland. Es gibt hier Nachnamen wie Kurz, Reis, Weiß!"
Als ich ihn frage, weshalb über die lange und komplizierte, auch schwierige Geschichte der Stadt so wenig gesprochen werde, da bricht sein Redefluss plötzlich ab. Etwas an der Frage berührt ihn. Nach einigen Sekunden des Schweigens sagt er:
"Ich weiß es nicht", und fügt dann noch etwas an, was wohl bedeuten soll: Die Geschichte nicht nur der Deutschen, sondern so vieler ethnischer Gruppen in Russland, ist so kompliziert und so voller Schmerzen, dass es besser ist, nicht über sie zu sprechen.

Neue evangelische Kirche für zwölf Gläubige

Ein Stück Zukunft der Deutschstämmigen duftet nach Waldkiefer. Swetlana Meier zeigt Gästen die restaurierte evangelisch-lutherische Kirche im Dorf Sorkino, einst Zürich, das von Marx etwas mehr als eine halbe Autostunde entfernt liegt. Außen saubere Ziegel, innen leuchten im Sonnenschein die aus Kiefer gefertigten Bänke und die Empore in einem rötlichen Ton.
Vor wenigen Jahren standen nur noch die Außenmauern, zu Sowjetzeiten war die Kirche entweiht und diente als Getreidespeicher. Aber dann hat der Russlanddeutsche Karl Loor, der nach wie vor in Russland lebt und im Baugeschäft zu Wohlstand kam, ihre originalgetreue Restaurierung nach erhaltenen Zeichnungen finanziert und gleich noch nebenan ein Hotel errichtet. Innerhalb von drei Jahren, erzählt Swetlana Meier, hätten 12.000 Menschen das kleine, abgelegene Dorf Sorkino aufgesucht.
"Hier hat es schon Trauungen und Taufen gegeben, alles kostenlos. Nicht wie bei den Orthodoxen."
Die Kirche im Dorf Sorkino wurde mit Hilfe eines Russlanddeutschen saniert. Der Innenraum mit viel Holz und weißen Wänden wirkt hell und neu.
Die Kirche im Dorf Sorkino wurde mit Hilfe eines Russlanddeutschen saniert.© Deutschlandradio / Thielko Grieß
Die Kirche bietet Raum für 900 Gläubige – die es aber hier und in den umliegenden Dörfern längst nicht mehr gibt. Weggezogen. Ausgewandert. Zu Gottesdiensten versammeln sich gerade einmal zwölf Menschen. Das ist der Punkt, an dem Swetlana beginnt, von sich selbst zu erzählen. Sie, die heute Ende 20 ist, hat selbst auch einmal in Deutschland gelebt. Ihre Eltern waren nach Heilbronn gezogen.
"Unsere Eltern haben gearbeitet. Uns hat es gefallen, uns Kindern. Wir waren klein, ich war neun Jahre alt, ich habe getanzt und Flöte gespielt. Das war interessant."
Aus Swetlana wurde Stefanie. Drei Jahre lang blieb die russlanddeutsche Familie in Deutschland. Doch dann entschied der Vater: Es geht zurück an die Wolga. Seine Tochter erklärt es heute so, dass er mit dem Leben in Deutschland nicht zurechtgekommen sei.
"Ja, er hat so etwas wie eine Depression bekommen. Er war an anderes gewöhnt. Deshalb sind wir wieder ausgereist und wohnen hier. Aber alle Verwandten leben in Deutschland, nur wir sind zurückgekommen."

Ausreise-Dokumente nach Deutschland liegen bereit

Swetlana steht unter der Empore. Außer ihr und dem Reporter ist niemand in der Kirche. Aus den Pausen, die sie beim Sprechen macht, ihrem manchmal tiefen Einatmen und dem Blick kann man ablesen: Noch immer hängt sie manchmal dem Gedanken nach, was möglicherweise geworden wäre, wenn die Familie in Heilbronn geblieben wäre. Die Deutschen in Russland, erzählt sie, seien doch nur noch wenige, und die Sprache spiele im Alltag keine Rolle. Swetlana ist mit einem Russen verheiratet. Das Paar hat ein neunjähriges Kind. Zu Hause sprechen sie Russisch.
"Aber wir haben die doppelte Staatsbürgerschaft. Wir können zu jedem beliebigen Zeitpunkt natürlich wieder zurückkehren. Aber erstmal haben wir das nicht vor."
Die Möglichkeit, diese Gegend in Richtung Deutschland zu verlassen, haben viele hier. Die Dokumente liegen bereit, für alle Fälle, erzählen sie.
Ob es der nächsten Generation noch wichtig ist, welche Wurzeln die Familie hat? Natalja und Vera, die zwei Schülerinnen aus Marx, die gerade angefangen haben, Deutsch zu lernen und sich viel mit ihrer Identität beschäftigen, geben eine eindeutige Antwort: Sie sind sogar aktiv geworden.
Sie sammeln Geld. Damit wollen sie ein Denkmal an ihre Vorfahren aufstellen, die ersten Siedler, die sich vor mehr als 250 Jahren hier eine neue Heimat geschaffen haben. Dass Jugendliche aus eigenem Antrieb die Erinnerung lebendig halten und sie gestalten wollen, ist ein neues Kapitel in der langen Geschichte der Wolgadeutschen.
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