György Dalos: Geschichte der Russlanddeutschen. Von Katharina der Großen bis zur Gegenwart
Deutsche Bearbeitung von Elsbeth Zylla
C.H. Beck Verlag, München 2014
330 Seiten, 24,95 Euro, auch als ebook
Dem Ruf der Kaiserin gefolgt
Vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart reicht die "Geschichte der Russlanddeutschen" von György Dalos. Das frühe Zusammenleben von Russen und Deutschen war in Europa einmalig - wurde jedoch von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts eingeholt.
Die ersten kamen 1764. Ihnen wurde die ungehinderte Ausübung ihres Glaubens in Aussicht gestellt und Selbstverwaltung nach eigenem Recht und in deutscher Sprache. Wie sie empfanden, sangen die Wolgadeutschen in einem Lied.
"Russland ist der große Garten, / Katharina – Gärtnerin, / Und die Deutschen, die sich scharten / Auf den Ruf der Kaiserin, / Sind die Bäum‘ aus fremden Land, / Beiderseits am Wolgastrand“.
Von Integration und Leitkultur, ganz neuen Begriffen einer verängstigten Moderne, war damals nicht die Rede. Es waren vor allem Pietisten, Herrenhuter oder Mennoniten, die dem Ruf folgten. Sie bildeten ihre unabhängigen Gemeinden, die heute das Gebiet um Saratow und Wolgograd ausmachen, das zwischendurch auch einmal Stalingrad hieß.
György Dalos schrieb die Geschichte der Russlanddeutschen mit feinem Gespür für Minderheiten und die Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Das frühere Zusammenleben von Russen und Deutschen war etwas einmaliges in Europa. Der Sozialist Alexander Herzen, dessen Mutter Schwäbin war, spottete 1859 im Londoner Exil:
"Auf dem Throne waren Deutsche"
"Die schwerfälligen und unbeholfenen Bojaren und Fürsten wetteiferten in ihrem Bemühen, Korporälen und Rittmeistern gleich zu sein …
Auf dem Thron waren Deutsche, um den Thron herum – Deutsche, die Truppenführer – Deutsche, die Minister für Auswärtige Angelegenheiten – Deutsche, die Bäcker – Deutsche, die Apotheker Deutsche, überall zum Trotze nichts als Deutsche!"
Mit diesen urbanen Deutschen, in Romanen allgegenwärtig, hatten die frommen und tüchtigen Wolgadeutschen, Bauern und Handwerker, nichts gemein. Sie blieben kleine Leute, unbekümmert um sozialen Aufstieg. Was sie beieinander hielt, waren ihr schlichter Glaube und die ihm gemäßen schlichten Sitten. Diese Idylle zerstörte der Erste Weltkrieg, als ihnen vorgeworfen wurde, keine richtigen Russen zu sein.
"Sie wollen sich keineswegs die Sprache unserer Heimat aneignen, die ihnen eine solch großartige Gastfreundschaft gewährt hat."
Es kam zu Pogromen, zu ersten Umsiedlungen, dem Verbot der deutschen Sprache und zur Kriminalisierung deutscher Sitten und Gewohnheiten. Die Deutschen begrüßten deshalb die Revolution und fügten sich in die Sowjetunion, in der sie wieder eine gleichberechtigte unter vielen Nationen waren.
Sozialismus bewirkte Modernisierungsschub
Diese Republik deutschen Fleißes und sozialistischer Gesinnung diente der Partei bald als Werbung für den Sozialismus. Und tatsächlich bewirkte der Sozialismus einen Modernisierungsschub. Höhere Schulen machten aus ihnen Städter und Bildungsbürger, wie in Engels, früher Katharinenstadt.
"Das Symphonieorchester, die Philharmonie, der Staatschor und das Deutsche Staatstheater waren Institutionen, die zum Markenzeichen der Stadt wurden.
Hierher pilgerten die durch das NS-Regime ins Exil getriebenen namhaften Autoren Willi Bredel, Johannes R. Becher, Erich Weinert, Theodor Plivier und Heinrich Mann."
Der Nationalsozialismus und der Krieg gegen die Sowjetunion verursachten die Katastrophe der deutschen Wolgarepublik, die im August 1942 aufgehoben wurde. Mit der Umsiedlung der Deutschen nach Kasachstan und Sibirien, der sozialen Ächtung und Zwangsarbeit begann ein letztes Kapitel.
Wie sehr die Russlanddeutschen an ihrem Vaterland hingen, bestätigt die Ausdauer, mit der sie hofften, wieder eine autonome Republik zu erhalten. Erst ab 1992, nach vielen Enttäuschungen, verließen rund zwei Millionen Deutsche Russland, das für sie nicht mehr der große Garten war.