Fremde Heimat
Zwischen 3.000 und 4.000 Russlanddeutsche kamen seit Ende der 1980er-Jahre nach Waldbröl bei Köln. Die Neuankömmlinge blieben meist unter sich. 2017 erlangte der Ort Berühmtheit, als in einem Stadtteil mehr als 50 Prozent der Wähler ihre Stimme der AfD gaben.
Einige ältere, teils schiefergedeckte Fachwerkhäuser, dazwischen die Bausünden der 60er-, 70er- und 80er-Jahre. Und überall im Ort: Baustellen. Knapp 20.000 Einwohner hat das Städtchen Waldbröl, östlich von Köln am Südzipfel des Oberbergischen Kreises gelegen. Wer sich diesem Ort annähert, bekommt immer wieder dieselbe Frage gestellt: Wie kommen Sie darauf, dass es hier etwas Interessantes geben könnte?
Alle zwei Wochen findet der Vieh- und Krammarkt statt. Friedlich wirkt der Ort, es ist ein sonniger Tag, an dem ich dort entlanggehe und Besucher und Händler wie Günter Simon anspreche.
"Ich bin schon etliche Jahre auf dem Markt…"
"Seit wann etwa?"
"Also bestimmt schon acht bis zehn Jahre. Und wir verkaufen ausschließlich Rassegeflügel, Ziergänse, Ziervögel und so etwas haben wir. Den Markt gibt’s ja schon seit 1851, früher war natürlich richtig Großtrieb, da war natürlich richtig Auftrieb."
"Seit wann etwa?"
"Also bestimmt schon acht bis zehn Jahre. Und wir verkaufen ausschließlich Rassegeflügel, Ziergänse, Ziervögel und so etwas haben wir. Den Markt gibt’s ja schon seit 1851, früher war natürlich richtig Großtrieb, da war natürlich richtig Auftrieb."
Der Markt zieht alle Einwohner an. Ältere, Jüngere, Familien. Und neben der örtlichen Variante des rheinischen Singsangs hört man immer wieder andere Sprachen. Allen voran: Russisch. Auch unter den Händlern hört man ihn, den so typischen, etwas härteren Klang der Sprache.
Aber mit mir, dem Radioreporter reden? Nein, das wollen diejenigen dann nicht. Das Deutsch sei nicht gut genug, lautet die Begründung.
Waldbröl ist ein eher beschaulicher Flecken, Geburtsort Anton Wilhelm Zuccalmaglios, dem Dichter und Musiker, "Kein schöner Land" war sein bekanntestes Werk. Der Sohn der Stadt, auf den man hier stolz ist.
Ein Zweiter hätte das Städtchen gern zu einem zweiten Wolfsburg, einer Industriemetropole gemacht: Robert Ley, Reichsorganisationsleiter der NSDAP, Leiter der Deutschen Arbeitsfront, richtete sich vor Beginn der Kriegsverbrecher-Prozesse in Nürnberg 1945 selbst.
Von ihm blieb vor allem eine große Stützmauer für die geplante, nie fertiggestellte Adolf-Hitler-Schule, an einem Hang über der Stadt. Auf der Mauer steht in großen Lettern seit 1982 "Nie wieder Krieg!" geschrieben.
Der dritte Bekannte war CDU-Politiker. Horst Waffenschmidt, 26 Jahre lang Bundestagsabgeordneter des Oberbergischen Kreises, 1988 war er der erste Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung – und blieb dies bis 1998. Kein Zufall. Denn Waldbröl, das war jahrzehntelang Außenstelle des Auffanglagers Unna-Massen. Erst kamen Übersiedler, dann Aussiedler, Spätaussiedler in die kleine Stadt.
Waldbröl wuchs schnell dank der Zuwanderer
Fast eine Million Menschen kam zwischen Ende der 1970er- und Ende der 1990er-Jahre aus der einstigen Sowjetunion nach Deutschland. Waldbröl wurde ein Hotspot: Der Ort wuchs binnen weniger Jahre um mehrere Tausend Einwohner.
Ich bin mit Bürgermeister Peter Köster verabredet, ein CDU-Politiker, seit zehn Jahren im Amt. Er hat Vertreter der Stadt und der Zivilgesellschaft hinzugebeten.
"Das ist vielleicht sogar auch ein Alleinstellungsmerkmal für Waldbröl, hier gibt es ganz, ganz viele Menschen, die sich miteinander, umeinander und um die großen Herausforderungen kümmern."
Die Herausforderungen – das meint nicht zuletzt: ein friedliches Zusammenleben.
Johann Köhn ist ein sehr freundlicher, ausgesucht höflicher, älterer Herr. Der Ingenieur war über Jahrzehnte Gemeindevorstand der Mennoniten-Brüdergemeinde. Und wer mit ihm spricht, erfährt viel über das Leben der Russlanddeutschen. 1938 kam er in Russland zur Welt.
"Das zähle ich nicht als meine Heimat. Ich war da geboren, aber Heimat ist für mich mehr als ein Geburtsort. Heimat ist da, wo man sich wohlfühlt, wo man gerne lebt. Und auch teilt mit der Gesellschaft, mit Stadt und so weiter. Also hier ist meine Heimat jetzt."
Russland, das war für fast 200 Jahre die Heimat seiner Familie. Doch in den 1920er-Jahren nahmen die Repressalien zu. Als Köhn geboren wurde, war die Wolgarepublik bereits aufgelöst und Hunger, Vertreibung, Deportation, willkürliche Hinrichtungen, all das war für die deutschstämmige Minderheit Realität. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieb das Verhältnis schwierig, sagt Köhn.
"Weil wir so fertig waren, und keine Hoffnung hatten, dass wir als Deutsche in Russland noch irgendwann würden anerkannt werden. Und die Möglichkeit haben, irgendwann als freie Menschen leben zu können. Und wenn irgendwann wieder politische Schwierigkeiten auftreten, dann werden wir doch die ersten wieder sein, die werden müssen sehr leiden. In jeder Familie können Sie das sehen, meine drei Onkel sind auch vom Hunger gestorben. Und deshalb: Als die erste Möglichkeit kam, aus Russland rauszugehen – wir wären auch nach Kanada gegangen, in ein anderes Land, wenn Deutschland uns nicht aufgenommen hätte."
Fast 40 Jahre lebt Köhn nun in Waldbröl.
"Im März '79 wohnte ich noch im Nachbarstädtchen Wiehl. Und eines Tages kam zu mir ein Vertreter vom Stadtrat Waldbröl, der war vom Stadtrat geschickt worden, mich und die Gruppe, die sich um mich geschart hatte, einzuladen zur Stadtratssitzung. Und alle Vertreter von allen Parteien haben das auch bestätigt, dass sie einladen uns, dass sie wollen, dass mehr Leute hier wohnen, eins. Zweitens, sie brauchen Arbeiter, und da standen eine Reihe von Hochhäusern leer. Ich habe einige Bedingungen gestellt und damals wurde das alles beim zweiten Gespräch bejaht. Kam dann später alles anders, aber so sind wir dann hier nach Waldbröl gekommen."
"Verschrien als Russen-Ghetto"
Wie es anders kam, das hat Esther Kupka als Sprachlehrerin und in der Kinderbetreuung erlebt, 1978 zog sie in das oberbergische Städtchen:
"Wir haben eben auch miterlebt, dass da Bemühungen gestartet sind, die Aussiedler, die gekommen sind, möglichst so in Waldbröl zu verteilen, auch Grundstücke anzubieten, die für die Aussiedler in Frage kommen und einigermaßen gemischt sich in Waldbröl verteilen. Aber das hat nicht so hundertprozentig geklappt, es gab dann doch einen sehr großen Anteil, der dann in Eichen gewohnt hat. So dass das teilweise dann als Russen-Ghetto verschrien war. Von daher war das mit der Integration dann nicht so einfach, wie man das am Anfang gedacht hat."
Eichen wurde in der Region "Klein-Sibirien" genannt, mit vielen Juris, Katharinas und Eugens. Eine Bürgerinitiative hätte gezählt, dass 84 Prozent der Einwohner Eichens "Fremde mit deutschem Pass" wären, berichtete "Der Spiegel" 1998. Heute stehen dort die Gotteshäuser der Mennoniten und der Baptisten, russisch ist im Straßenbild vor allem von älteren Menschen noch zu hören.
Der kleine Supermarkt einer vor allem auf russlandstämmige Kundschaft spezialisierten Kette weicht einem größeren Neubau, vorübergehend müssen die Kunden Kwas, Kohlköpfe und Fertigpiroggen woanders einkaufen. Vor dem Laden treffe ich auf eine junge Waldbrölerin. Ihren Namen will sie lieber nicht im Radio hören. Waldbröl, ein problematischer Ort?
"Nö. Das war wahrscheinlich, als ich klein war. Wir sind auch immer eher so unter uns gewesen, früher. Jetzt versuche ich offener zu sein, aber früher...Momentan gibt’s hier nicht viele Gründe hier zu sein. Ich fühl mich hier aber ziemlich wohl…"
Der Artikel im Spiegel unter dem Titel "Alles ist besser als Kasachstan" ist älteren Waldbrölern auch heute noch in Erinnerung. Er zeichnete ein schauriges Bild von dem kleinen Örtchen: Integrationsprobleme, Vergewaltigungen, Kindesmissbrauch, Drogen, Kriminalität, eine überforderte Polizei. Und im Zentrum all dessen: die Russen – die Russlanddeutschen – die Fremden.
Viele Läden stehen leer
Jahre sind seit der Hochphase des Zuzugs vergangen, als die Sowjetunion kollabierte, 20 Jahre seit dem Spiegel-Artikel. Der Ort selbst hat sich wirtschaftlich nicht gut entwickelt, entlang der Bundesstraße, die als Kaiserstraße durch den Ortskern führt, steht jedes zweite Ladengeschäft leer.
Im Westen des Ortskerns, wo einst das Kaufhaus Dahl seine Waren feilbot, betreibt die evangelische Kirche nun das "Kaufhaus für Alle", ein Sozialkaufhaus für Bedürftige. Nebenan gibt die Tafel Lebensmittel aus, auch an diesem Freitag. Liane Althoff und Nina Piata sind an diesem Morgen hier.
"Los geht es meistens draußen, man sieht da, unser Auto ist gerade gekommen, das wird meistens mit zwei… ein Fahrer, ein Beifahrer.. und bringen uns die Lebensmittel, das wird hier vorne an der Wand, wird alles hingestellt, und dort wird das alles vorsortiert in verschiedene Sachen wie Obst und Gemüse…"
Ich seh hier gerade eine Ananas die da mit drin liegt. Sind das Sachen, die kommen jetzt von Supermärkten?
"Genau, die kommen von Supermärkten, 23 Stück haben wir glaube ich insgesamt, die von Montag bis Freitag auch immer abgefahren werden."
Die Tafel, das ist ein Platz im Ort, an dem es keine großen Unterschiede gibt. Ob Ur-Waldbröler, ob Spätaussiedler, ob Flüchtling: Hier zählt die Bedürftigkeit, erzählen Nina Piatta und Liane Althoff. 230 Haushalte versorgt die Tafel im 20.000-Einwohner Ort. Auch Waldbröl nahm ab 2015 vermehrt Flüchtlinge auf, im Stadtbild sieht man sie nur vereinzelt. Wieder eine Veränderung für die Stadt, wieder eine Herausforderung, wenn es um die Integration geht.
Etwa 450 Flüchtlinge leben derzeit in Waldbröl, berichtet Uli Jakob, Sozialarbeiter bei der Stadt. Glaubensgemeinschaften, Vereine, Bildungsträger, die Stadt – all das scheint vergleichsweise gut miteinander daran zu arbeiten, dass sich die Schlagzeilen der 1990er nicht wiederholen. Wäre es nicht naheliegend, dass die Menschen, die selbst Migrationserfahrung haben, ihr Wissen weitergeben?
Dieter Brüser vom Freundeskreis Asyl, der unter anderem Patenschaften für Neuankömmlinge organisiert, denkt einen Moment nach:
"Hmmmm. Nee, das weniger. Das kann ich so aus der Historie weniger sagen. Die, wie heißt es neudeutsch, die Migrationshintergrund haben, aus dem Ausland hierhingekommen sind, kümmern sich eher um ihre eigene Klientel, als um andere. Es ist wenig, dass sich osteuropäische Migranten um Flüchtlinge aus Afrika kümmern. Das ist relativ wenig."
50,42 Prozent für die AfD in Waldbröl
Waldbröl schafft es nur selten in die Nachrichten. Bei der Bundestagswahl allerdings, da wuchs die Aufmerksamkeit an. Denn im Wahllokal Maibuche, dort, wo die meisten Einwohner Eichens wählen gehen, gab es ein bundesweit seltenes Ergebnis: 50,42 Prozent der Wähler gaben ihre Zweitstimme der AfD, der Alternative für Deutschland.
Die Wahlbeteiligung in Waldbröl war deutlich niedriger als im Bundesschnitt, und an der Maibuche ging nicht einmal jeder Zweite der 554 Wahlberechtigten zur Urne. Früher, da war hier CDU-Land. Und die Grünen kamen 2017 auf 1,25 Prozent – ganze sieben Stimmen. Eine Nachwirkung der Debatte um Willkommenskultur?
"Russlanddeutsche, die haben natürlich Angst vor Muslimen, das ist eins, aber nicht so sehr als Muslime sondern als Unregistrierte, hunderte von Tausende Araber aus verschiedenen Ländern, die kritisch, die feindlich zu uns hier nach Deutschland kommen. Und das darf nicht sein. Wo ist die Regierung, wo ist die Ordnung?
Hier sehen Sie: Hier wird alles geregelt und Waldbröl hat's im Griff. Und die Regierung hat es nicht im Griff. Und das ist der Eindruck von Russlanddeutschen, und wo kommen wir da hin? Sehen Sie, wir haben nix gegen Asylanten, Asylanten, die dort vom Krieg weglaufen. Denen muss man helfen, die muss man einladen, da bitteschön eine Willkommenskultur. Aber diejenigen, welche hier nicht arbeiten wollen, und uns Terror wollen machen, Mädchen vergewaltigen und töten, welche da mit LKW rumrasen mit denen Menschen getötet werden, die gehören hier nicht hin",
erklärt Johann Köhn die Bedenken innerhalb der russlanddeutschen Gemeinschaft. Solche, die mehrfach Sozialleistungen abgriffen und sich nicht an die Regeln hielten, würden besonders für Diskussionen sorgen.
"Das ist nur eine Protestwahl. Die Russlanddeutschen laufen nicht den Rechtsradikalen nach, in keinem Fall. Die haben Drang nach Osten, wir haben Drang nach Westen. Aber wir wollen auch in Deutschland weiter leben mit deutscher Ordnung und deutscher Kultur und, und, und…
Dass wir unterschiedlich sind, das ist natürlich. Die Einheimischen sind auch unterschiedlich. Und keinen stört das, mich auch nicht. Warum soll ich jetzt genau so denken wie irgendjemand mir will das vorsprechen? Das darf nicht sein. Wir sind in Russland 200 Jahre deutsch geblieben, mit einigen Ausnahmen."
Kinder wurden als Problemkinder wahrgenommen
Es sind die eigenen Erfahrungen vieler Russlanddeutscher, in Russland als Deutsche und in Deutschland plötzlich als Russe betrachtet zu werden. Köhn berichtet davon, wie seine eigenen Kinder als Problemkinder betrachtet wurden:
"Entwickelt bitte eine Willkommenskultur, hören wir immer wieder. Für uns kam ein Artikel in der Zeitung: Die Mennoniten machen Probleme in der Realschule. Wegen vier Kindern!"
Das war im Nachbarort, doch auch in Waldbröl wurden die Russlanddeutschen mit Skepsis, teils Feindseligkeit empfangen. Helmut Rafalski schaut auf eine lange Zeit als Lehrer an der hiesigen Realschule zurück. Der stellvertretende Bürgermeister des Ortes sagt:
"Es gibt ganz wenige Schülerinnen und Schüler, von denen ich weiß, dass sie im Leben gescheitert sind. Also die meisten, die von der Realschule weggegangen sind, haben alle einen Beruf bekommen: Ich habe heute noch dem Bürgermeister gesagt, wir haben momentan eine große Baustelle in Waldbröl an der Kaiserstraße, und der Bauleiter ist ein ehemaliger Schüler von mir. Und da ist man sehr stolz.
Von daher ist es ganz gut, dass man hier in diesem kleinen Rahmen sich gegenseitig gut kennt. Und ich war jetzt zum Abschluss der Realschule gewesen, und da sind drei Asylbewerber mit Zeugnissen rausgegangen und einer sogar mit Qualifikation für die Oberstufe. Und die waren erst seit drei oder vier Jahren hier."