Orlando Figes: Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhundert
Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter
Verlag Hanser Berlin, München 2015
384 Seiten, 26 Euro
Von Stalin zu Putin
"Hundert Jahre Revolution" nennt der britische Historiker Orlando Figes sein neues Russland-Buch. Er beschreibt den beispiellosen Terror gegen das Volk unter Stalins Herrschaft und erklärt, warum die Tradition des autoritären Staates bis heute fortwirkt.
"Hundert Jahre Revolution" beginnen bei Orlando Figes 1891: mit einer Hungersnot im "Russland der Ikonen und der Küchenschaben", wie es einer der Revolutionsführer, Trotzki, formulierte. Figes spannt den Bogen bis 1991, über Aufstieg und Zerfall der Sowjetmacht. Eine Zeit, die mitnichten von der "permanenten Revolution" (Trotzki) geprägt war, sondern nach Chruschtschow vor allem von Erstarrung.
Den größten Raum im Buch bekommt die Geschichte des beispiellosen Terrors gegen das russische Volk. Sie ist zum Teil bekannt, wird von vielen Russen aber ungern gehört. Weil sie abweicht vom vertrauten Geschichtsbild aus Sowjetzeiten, dem einer sieg- und ruhmreichen Supermacht. Das Ausmaß des Leids, von dem keine sowjetische Familie verschont blieb, begannen Historiker erst kurz vor dem Zerfall der Sowjetunion zu erforschen, als während der Perestroika endlich die Archive geöffnet wurden.
Was dort zutage gefördert wurde, möchte der überwiegende Teil der Bevölkerung nicht wissen: Dass der Aufbau des Kommunismus mit dem Terror gegen die eigenen Genossen begann, in einer Partei, die bedingungslosen Gehorsam und militärische Disziplin verlangte. Dass der Terror die Zarenfamilie auslöschte wie auch die "Bourgeoisie". Zwei Millionen Russen flohen 1920 nach Berlin und Paris. Der Terror dezimierte die verarmte Bauernschaft, die aus den Dörfern in die Städte floh und das Industrieproletariat stellte, mit dem das ländliche Russland modernisiert werden sollte.
Dem Großen Terror von August 1937 bis zum November 1938 ging eine erste "Säuberung" 1933 voraus, die Anführer der Oktoberrevolution von 1917 wurden getötet, 102 von 139 Mitglieder des Zentralkomitees der Partei. Während des Großen Terrors wurden 1,5 Millionen Menschen verhaftet, 1,3 Millionen Menschen verurteilt, fast 700.000 erschossen, täglich 1500 Personen.
Die Produktion von Seelen
Es regierte keine Diktatur des Proletariats, so der Londoner Geschichtsprofessor, sondern die Diktatur der Bürokratie, der Parteifunktionäre, die durch Denunziation, Haft oder Erschießungen permanent erneuert wurde.
Kollektivierung und Industrialisierung haben einen so hohen Preis gefordert, dass "wir über den moralischen Charakter des stalinistischen Regimes auf eine Weise nachdenken müssen, die bis dahin den Historikern des Nationalsozialismus vorbehalten war". Eine eigentümlich zurückhaltende Formulierung, die zugespitzt wohl sagen möchte: Der Stalin-Terror der Sowjetunion mit seinen Millionen Opfern reicht an die Nazi-Diktatur. Die Vorsicht lässt ahnen, dass der Autor immer noch mit Widerständen gegen eine solche Betrachtung der jüngeren russischen Geschichte rechnet.
Wenn die Revolution inne hielt, wandte man sich der "Produktion von Seelen" zu, der Stalin nach eigenem Bekunden mehr Bedeutung zumaß als der Produktion von Panzern. Für ihn waren "Schriftsteller die Ingenieure der menschlichen Seele". Schuf jedoch jemand ein Werk, das dem Tyrannen nicht zusagte, fiel der Künstler in Ungnade, wie Dmitri Schostakowitsch und dessen Oper "Lady Macbeth". Unter Stalin erlebte die russische Folklore eine eigentümliche Renaissance, waren doch das russische Dorf vernichtet, die (vor allem ukrainischen) Bauern vom Golodomor, der Hungersnot, dahingerafft.
Stalin, der sich nach langem Zögern dem Völkerbund und der Einheitsfront anschloss als Gegner des Nationalsozialismus, wurde von Europas Linken so verehrt, dass sich die Mitgliederzahlen der kommunistischen Parteien Spaniens und Frankreichs vervielfachten. Der Hitler-Stalin-Paket wurde damit entschuldigt, dass die Sowjetunion Zeit brauchte, um ihre Armee für einen Krieg gegen Deutschland zu rüsten. Für den Überfall der Roten Armee auf Polen zusammen, die Okkupation der baltischen Länder und den sowjetisch-finnischen Krieg war sie offenbar bereits stark genug.
Hohe Akzeptanz eines bolschewistischen Gedankens
"Hundert Jahre Revolution" will die bis heute anzutreffende autoritäre Staatstradition in Russland erklären. Die ist, so Figes, auf eine Art wiedererwacht, mit der man vor 20 Jahren nicht gerechnet hat. Putin fordere die sowjetische Vergangenheit zurück. Er leugne nicht die Geschichte, wolle aber die Aufmerksamkeit auf Kapitel lenken, auf die Russland seit 1917 stolz sein könne. Dass Stalins Terror 10 bis 30 Millionen Menschen das Leben gekostet hat, ist den Russen bekannt, trotzdem akzeptieren sie noch heute den bolschewistischen Gedanken, dass massive staatliche Gewalt zu rechtfertigen sei, wenn man die Ziele der Revolution erreichen wolle. 42 Prozent wünschen sich einen Führer wie Stalin.
Verwirrung stiftet ein Satz gleich zu Beginn, dass nämlich "ungeachtet seiner jüngsten Intervention in der Ukraine ... Russland nicht länger die aggressive Bedrohung (ist), die es einst für den Westen darstellte, wenngleich es auf seine Nachbarstaaten aus der ehemaligen Sowjetunion anders wirken mag. Es zettelt keine ausländischen Kriege mehr an." Was Figes da so sicher macht, erklärt er nicht. Sein Buch ist dennoch lesenswert, nicht zuletzt weil es die bis heute akzeptierte Gewalt thematisiert. Die Schuldigen hat Russland bislang weder benannt noch bestraft.