Russlands Theater zwischen Kommerz und Kontroverse

Von Elfie Siegl · 19.04.2010
Was für die US-Filmbranche der Oscar ist, ist für das russische Theater die "Goldene Maske". Mehrere Produktionen in den Kategorien Drama, Ballett, Musical, Oper und Puppentheater buhlen um den diesjährigen Preis. Ein Einblick in die prämierten Werke und den Zustand des russischen Theaters.
Die "Goldene Maske" war lange Zeit vor allem ein Fest für die etablierten Moskauer Repertoire-Theater und für herausragende Regisseure, denen der Staat oft eigene Bühnen finanziert. Ein Beispiel dafür ist Pjotr Fomenko: In der Sowjetzeit begründete er seinen späteren Ruhm als Regisseur mit einem Studententheater, heute ist die "Fomenko-Werkstatt" ein technisch perfekt ausgestattetes Theater und eins der teuersten in Moskau. Vor Kurzem hatte Fomenkos Inszenierung "Triptychon" Premiere - drei farbenprächtige, ironische Parodien nach Motiven von Puschkins "Graf Nulin", Molières "Don Juan" und Goethes "Faust".

Die Vorstellungen des Fomenko-Theaters sind immer ausverkauft, eine Eintrittskarte kostet so viel wie die Hälfte einer durchschnittlichen russischen Monatsrente. Damit aber wird eine Zuschauerauslese zugunsten des wohlhabenden Moskauer Publikums getroffen. Die junge, intellektuelle Elite, für die Fomenko einst Theater gemacht hat, kann sich einen Besuch in diesem Theater nicht mehr leisten.

"Das Fomenko-Theater war und ist vielleicht eine der besten Bühnen in Moskau, ein Markenzeichen für unsere Theatertradition. Dass es ein Lieblingsprodukt des reichen, gut gekleideten Publikums geworden ist, das sich dort wie zu Hause fühlt, ist in der Tat paradox."

Die Theaterexpertin Kristina Matwienko findet das Repertoire des Fomenko-Theaters und anderer großer, hoch subventionierter staatlicher Bühnen zu sehr dem Geschmack dieser Zuschauer angepasst. Die glanzvollen Inszenierungen sind zwar technisch und künstlerisch perfekt, inhaltlich jedoch kommen sie über das Niveau oberflächlicher Unterhaltung meistens nicht hinaus.

"Es gibt praktisch keine bekannten Regisseure in Russland mehr, die Stücke zu Gegenwartsproblemen auf die Bühne bringen. Denn diese Stücke gefallen dem betuchten Publikum nicht, dafür kauft es keine Karten. Den großen Theatern geht es heute nur darum, die Kassen zu füllen. Das Theater verdrängt, wie schlecht es den Menschen bei uns geht, denn die Zuschauer wollen nur das Schöne sehen und nicht den schrecklichen Naturalismus der Straße. Man will auf der Bühne keine Gangstersprache und keine Politik vorgesetzt bekommen."

Es gibt seit einigen Jahren in Russland zu diesem Trend die Gegenbewegung "Neues Drama", die inzwischen auch zu einem bedeutenden Bestandteil des Festivals "Goldene Maske" geworden ist. Ein wichtiger Vertreter des neuen Dramas ist etwa der junge, in Moskau arbeitende litauische Regisseur und Fomenko-Schüler Mindaugas Karbauskis. Er bevorzugt Prosa als Grundlage für seine Inszenierungen, weil ihm das, wie er sagt, mehr Freiraum für Ideen lässt. Seine jüngste Arbeit "Ein Remis dauert nur einen Augenblick" beruht auf dem Roman eines litauischen jüdischen Autors. Das Stück spielt im Getto von Vilnius in den Tagen der faschistischen Besatzung. Ein jüdischer Junge spielt gegen den deutschen Gettokommandanten Schach. Wenn er gewinnt, verbessert sich das Leben im Getto, er selbst aber muss sterben. Wenn er verliert, bleibt er am Leben, aber den Menschen im Getto geht es schlechter.

Das Stück hat kontroverse Reaktionen hervorgerufen. Die einen werfen Karbauskis vor, er sei ein Konjunkturritter und spekuliere mit dem Thema Holocaust. Andere, etwa die litauische Theaterwissenschaftlerin Irena Versaite, loben ihn, weil er mit dem historischen Stoff aktuelle Fragen aufwirft.

"Für ihn war das wichtigste Thema in diesem Stück die Würde und die Verantwortung des Menschen. Seine Charaktere sind in einer extremen Situation, sie müssen wählen, ob sie nachgeben wollen und so ihre Würde verlieren und vielleicht ein Verbrechen begehen, oder ob sie ihre Würde behalten wollen. Wenn sie ihre Würde behalten, dann aber sterben sie. Und sie haben den Tod gewählt, um ihre Würde zu erhalten."

Karbauskis ist einer von mehreren Theatermachern aus Litauen, die in Moskau erfolgreich arbeiten. Sein Landsmann, der Regisseur Rimas Tuminas, hat als neuer Leiter des Wachtangow-Theaters dieser lange Zeit in Vergessenheit geratenen großen Moskauer Bühne wieder zu hohem Ansehen verholfen. Kuminas Neuinszenierung von Tschechows "Onkel Wanja" gehört zum Besten, was das russische Theater zum 150. Geburtstag Tschechows in diesem Jahr zu bieten hat. Irena Versaite überrascht das nicht. Litauische Künstler hätten das russische Theater schon früher stark beeinflusst, sagt sie.

"Fast alle unsere Regisseure sind in Moskau oder Petersburg erzogen worden, sie haben ihre Ausbildung hier erhalten. Sie sind zwar weit weg, aber doch sehr eng mit der russischen theatralischen Schule verbunden. Sie kennen die Sprache und waren schon in der Sowjetzeit sehr geachtet. Sie waren anders als die russischen Regisseure, haben hier großen Erfolg gehabt und werden immer wieder eingeladen."

Nicht nur Litauer verschlägt es nach Moskau, auch der junge Hamburger Georg Jenaux macht seit 13 Jahren in der russischen Hauptstadt Theater. Jenaux erhielt dort eine Ausbildung als Regisseur und ist heute einer der exponierten Vertreter des informellen Theater.doc. Also jener kleinen Theatergruppen, die sich oft spontan zusammenfinden und in Kellern, in der Aula von Fabriken oder in stillgelegten Werkshallen ihre Stücke zeigen. Seit einem halben Jahr leitet Jenaux im Theater.doc alles, was mit Dokumentartheater zu tun hat. Er ist stolz darauf, dass er bereits zum dritten Mal zur "Goldenen Maske" eingeladen worden ist. Von Künstlern wie Fomenko und deren Publikum distanziert er sich entschieden:

"Wenn ich merke, es kommen Zuschauer zu uns, nur weil ein Theater hip und erfolgreich ist, dann mache ich was falsch. Ich will ein Theater, das provoziert und zum Nachdenken anregt, wenn das aber vorbeigeht, dann macht alles keinen Sinn mehr. Man muss auch seinen eigenen Zuschauer, den man mit den Jahren gewonnen hat, immer mal wieder vor den Kopf stoßen und sagen, es geht auch ganz anders. Das ist für mich das Wichtigste."

"Pawlik - mein Gott" hat derzeit im Theater.doc großen Erfolg. Das Stück beruht auf der Legende von Pawlik Morozow, der in der Stalinzeit seinen Vater wegen dessen Trunksucht angeschwärzt und damit für zehn Jahre ins Arbeitslager gebracht hat. Der junge Pionier wurde zum Vorbild für Generationen sowjetischer Kinder. Das Zwei-Personen-Stück "Pawlik - mein Gott" stellt die Art, aus Menschenschicksalen Laben zu machen, infrage.

"Das hier ist eine autobiografische Geschichte der Autorin, deren Vater einer der mächtigsten Fernsehdirektoren Russlands war. Sie hat lange darüber nachgedacht, wie sie sich dafür rächt, dass dieser Mensch ihre Familie in einer schlimmen Situation auf einmal alleingelassen hat. Und so hat sie dann für sich Parallelen mit Pawlik Morosow gefunden und je mehr sie sich mit Pawlik Morosow beschäftigte, desto mehr hat sie gemerkt, dass eigentlich alles nicht stimmt, das, was in den Geschichtsbüchern steht, das, was ihnen eingetrichtert wurde, und so sehen wir auf der Bühne ihre persönliche Erfahrungswelt."

Die jungen Schauspieler, Regisseure und Dramaturgen des Theater.doc und anderer Nischenbühnen arbeiten dort überwiegend ehrenamtlich. Ihr Geld verdienen sie mit Fernsehserien oder in den Staatstheatern. Ihre berufliche Vorliebe aber gilt mehr und mehr den informellen Bühnen. Denn sie möchten Theater machen, das eine aktive Position hat, auf die Zuschauer einwirkt. Das aber geht nur, davon sind junge Regisseure wie Georg Jenaux oder auch Mindaugas Karbauskis überzeugt, wenn ein Theater vom Staat unabhängig, also frei ist.