Ruth Rehmann: "Illusionen"

Scharfe Analyse der Nachkriegsgesellschaft

06:15 Minuten
Das Cover zeigt in einer extremen Untersicht ein verglastes Hochhaus, in dem sich die Wolken spiegeln. Auf den Glasflächen ist der Buchtitel, in den Wolken der Autorinnenname zu sehen.
© aviva Verlag

Ruth Rehmann

IllusionenAvivA , Berlin 2022

318 Seiten

24,00 Euro

Von Helmut Böttiger |
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Dieses Buch hätte das Zeug zu einem bundesdeutschen Klassiker gehabt, glaubt unser Kritiker. Doch im Schatten von Böll, Grass oder Johnson geriet Ruth Rehmanns Roman über vier Büroangestellte in einer westdeutschen Großstadt in Vergessenheit.
Von dieser Autorin und diesem Roman würde man heute viel mehr sprechen, wäre nicht etwas dazwischengekommen. Die 36-jährige Ruth Rehmann las 1958 auf der Tagung der Gruppe 47 aus dem Manuskript von „Illusionen“, und der begehrte Preis der Gruppe schien ihr sicher zu sein. Dann aber trat Günter Grass in Erscheinung und las aus der „Blechtrommel“, der Preis ging an ihn.
„Illusionen“ erschien 1959, im selben Jahr wie die „Blechtrommel“, Johnsons „Mutmaßungen über Jakob“ und Bölls „Billard um halb zehn“. Die Autorin erhielt glänzende Kritiken, blieb aber dennoch im Schatten dieser Kollegen. Wenn der Berliner AvivA-Verlag den ersten Roman der 2016 gestorbenen Ruth Rehmann jetzt wieder auflegt, reibt man sich umso mehr die Augen. Man ist geneigt, die Literaturgeschichte ein bisschen umzuschreiben.

Profile von Büroangestellten

Es geht in diesem Buch um ein Bürohochhaus in einer westdeutschen Großstadt, dem „neuen Verwaltungsgebäude des Wellis-Konzerns“ mit 23 Stockwerken. Und die ersten Seiten drehen sich tatsächlich nur um Architektur, in sachlichen, technisch präzisen und kühlen Sätzen, die überhaupt nichts mit den wabernden, schwülstigen und raunenden Texten zu tun haben, die damals üblich waren.
Man merkt den zeitlichen Abstand kaum: „Illusionen“ ist ein Roman über kapitalistische Versprechen, über die Wohlstandsgesellschaft, über Firmenführung und Verwaltungseffizienz, und vor allem entwirft er psychologisch differenzierte Profile der Büroangestellten.

Unheimliche Kontinuitäten

Im Mittelpunkt stehen vier Personen, die sich einen Raum teilen. Die Chefsekretärin Gertrud Schramm verdrängt, dass sie bald Rentnerin sein wird. Sie ist ein Musterbeispiel für die Haltung, sich mit dem Betrieb voll und ganz zu identifizieren. Das ist bereits in der Nazizeit ihrer Karriere nützlich gewesen, und dies ist der einzige Seitenschwenk in die totalitäre Vergangenheit. Frau Schramm steht beiläufig für eine unheimliche deutsche Kontinuität, gerade in ihrer Alltagsnormalität.
Ihre Nachfolgerin ist die extravagante rothaarige Carmen Viol. Sie, um die 40, steht für die nächste Generation, ist durchdrungen von Glücksversprechen, von Einsamkeit und der Sehnsucht nach Geliebten, die sich vorübergehend an Stränden des Mittelmeers konkretisieren – eine vielschichtige, sprachlich raffinierte Frauenskizze, die für die damalige Zeit absolut herausragt.

"Irgendetwas stimmte nicht"

Ergänzt wird das Tableau durch die orientierungslose 19-jährige Therese, die gern einer Jeunesse dorée angehören möchte, aber von den Konsummöglichkeiten bereits überfordert ist, und dem kleinbürgerlichen Paul Westermann, der sich nach dem großen Leben sehnt und sich seinen bankrotten Jugendfreund Mark vergeblich als Lebemann imaginiert.
Der Satz: „Irgendetwas stimmte nicht“, der einmal ganz harmlos fällt, fasst die haarscharfe Gesellschaftsanalyse dieser „Illusionen“ stimmig zusammen. Dieses Buch hätte das Zeug gehabt, zu einem bundesdeutschen Klassiker zu werden.       
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